Kirche | Nummer 437 - November 2010

Die Kirche der Armen

Die Entstehung der Befreiungstheologie und ihre Nachkommen heute

Die in den späten 1960er Jahren in Lateinamerika entstandene Theologie der Befreiung förderte politische Teilhabe marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Zwar ist ihre einstige Bedeutung heute nicht mehr so groß wie in den 1970er und 1980er Jahren, doch ihr Geist lebt weiterhin in der Arbeit vieler politischer Basisbewegungen fort.

Marcelo Netto Rodrigues, Übersetzung: Antje Kleine-Wiskott

Die 1980er Jahre in Lateinamerika: Zu Zeiten des Kalten Krieges herrschen in zahlreichen Staaten Lateinamerikas von den USA unterstützte Militärdiktaturen. Linkes Gedankengut wird als kommunistisch und als Gefahr für die Sicherheit der USA dämonisiert. Dabei geraten Guerilla-Bewegungen und linksgerichtete Parteien ins Visier. Doch die CIA hat noch einen gefährlicheren Gegner identifiziert: die Befreiungstheologie. In den kritischen Theologen und ihren „bekannten Zellen, vertreten durch kirchliche Basisgruppen” sehen die Geheimdienste die wahre Gefahr, die sie für fähig halten, die Region zu destabilisieren. So entsteht 1980 unter Ronald Reagan das Geheimdokument „Santa Fé II“, in dem die Befreiungstheologie als „eine als Glaubensrichtung maskierte politische Lehre, papstkritisch und gegen die freie Presse gerichtet“ beschrieben wird. Und die müsse psychologisch, politisch und militärisch bekämpft werden, so die RegierungsberaterInnen.
September 2010: Die „kommunistische Gefahr” der Befreiungstheologie erscheint wieder in den US-amerikanischen Nachrichten. Wenige Tage, nachdem Glenn Beck, Nachrichtensprecher des rechten Fernsehsenders Fox News, Obama als Sozialisten und „Moslem, der die Weißen hasst” beschuldigt hatte, änderte er plötzlich seine Strategie. Obama sei zwar Christ, behauptete Beck nun, würde jedoch der „dämonischen” Lehre der (afroamerikanischen) Befreiungstheologie angehören. Und das ist in Becks Augen noch viel schlimmer: „Sie können jeden Katholiken fragen, alle würden erkennen, dass die Befreiungstheologie religiös fantasierender Marxismus ist.”
Die Befreiungstheologie, die in den 1960er Jahren durch soziales und politisches Umdenken katholischer Geistlicher in Lateinamerika entstand, ist von jeher mit dem Vorwurf konfrontiert gewesen, religiösen Marxismus zu propagieren. In der Tat enthält sie marxistische Elemente, wie beispielsweise die Kritik am Kapitalismus und an der Macht der herrschenden Klassen sowie die Unvermeidbarkeit sozialer Konflikte.
Um diese Nähe zu verstehen, muss man die Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie kennen. Sie hat ihre Wurzeln in den Basisgemeinden (CEB), die sich zuerst in Brasilien bildeten und später auch in anderen Ländern Lateinamerikas aktiv wurden. Bereits in den 1960er Jahren versammelten sich gläubige ChristInnen, vor allem in kleinen Landgemeinden oder den Armenvierteln der Großstädte und begannen, die Lehre der Bibel innerhalb ihrer Lebensbedingungen zu interpretieren. Dabei diskutierten sie das Evangelium und leiteten daraus umfassende Kritik an den bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen ab.
Seit den 1970er Jahren, als immer mehr repressive Regime in Lateinamerika die Macht ergriffen, versuchte die Befreiungstheologie eine „Kirche der Armen“ zu etablieren. Die Befreiungstheologen predigten nicht das Heil der Menschen im Jenseits, sondern setzten sich im Hier und Jetzt aktiv für Veränderungen der gesellschaftlichen Realität ein. Kritische Priester und Bischöfe, die der Befreiungstheologie angehörten, mischten sich aktiv ins politische Geschehen ein. Dabei eigneten sie sich Theorien des Marxismus an, um die durch den Kapitalismus aufgekommenen sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.
Dass die Befreiungstheologie auf so fruchtbaren Boden fallen konnte, lag aber auch am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65), während dem unter Papst Johannes XXIII. und später Papst Paul VI. eine stärkere Religionsfreiheit und Dialogbereitschaft mit Anders- und Nichtgläubigen propagiert wurde. Wie es der brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff (zu den Brüdern Boff siehe auch Kasten) beschreibt, fand eine „Enteuropäisierung und wirkliche Öffnung der Kirche“ statt. Die Bischofskonferenz von Medellín 1969 machte diese neue Ausrichtung der katholischen Kirche in Lateinamerika nochmals deutlich. Auch die historische Missionskirche, die an der Seite der Kolonialmächte den Kontinent (christlich) erobert hatte, wendete sich in der Zeit der politischen Repression und Verfolgung den Armen und Ausgegrenzten zu und rief zur Unterstützung von Basisorganisationen auf, um die ungerechten Verhältnisse zu verändern.
Doch das Engagement der Befreiungstheologie, ihre politische Einmischung, ihre Kritik am Kapitalismus und den bestehenden Machtverhältnissen und nicht zuletzt ihre Nähe zum Marxismus, gefiel weder den Machthabern noch dem Vatikan oder den USA. Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde die befreiungstheologische Bewegung von vielen Seiten angegriffen. Der brasilianische Bischof Hélder Câmara kommentierte das mit seinem berühmten Ausspruch: „Wenn ich den Armen etwas zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen; wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, nennt man mich einen Kommunisten.“
Mit dem Amtsantritt des konservativen Papstes Johannes Paul II. (1978 bis 2005), setzte eine „Revatikanisierung“ der lateinamerikanischen Kirche ein. Die Befreiungstheologie wurde zensiert und progressiv denkende Bischöfe wurden durch konservative Pater ersetzt. Führende befreiungstheologische Priester, wie beispielsweise die Brüder Boff in Brasilien oder Ernesto Cardenal in Nicaragua (siehe Interview in diesem Dossier), erhielten Rügen oder Redeverbote aus Rom und wurden teilweise sogar von ihren Ämtern als katholische Priester suspendiert. Auch US-Präsident Ronald Reagan bekämpfte energisch die Befreiungstheologie und unterstützte gleichzeitig die Missionsbestrebungen von charismatischen Pfingstkirchen in Lateinamerika (siehe auch Artikel von Andreas Boueke in diesem Dossier).
Der Bedeutungsverlust, den die Befreiungstheologie seit den 1990er Jahren erlitt, liegt jedoch teilweise auch in ihr selbst begründet. Sie trat stets für eine Säkularisierung und die Schaffung weltlicher Organisationen ein. Befreiungstheologische Priester unterstützen die Eigenermächtigung und Organisierung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, auch wenn das im letzten Schritt mitunter die Abnabelung von den kirchlichen Strukturen mit sich brachte. Viele soziale Bewegungen wie zum Beispiel die Landlosenbewegung MST in Brasilien oder die Zapatisten in Mexiko, waren ursprünglich von der Befreiungstheologie beeinflusst und inspiriert. Die zur katholischen Kirche Brasiliens gehörende Landpastorale CPT unterstützte die LandarbeiterInnen bereits seit 1979 im Kampf um das ihnen zustehende Land. In Mexiko engagierten sich im Vorfeld des zapatistischen Aufstands Jesuiten, Dominikaner und andere Ordensgruppen in der pastoralen Bildungsarbeit und trieben die politische Bewusstseinsbildung der indigenen Bevölkerung voran, indem sie sie über ihre Rechte informierten und dazu aufriefen, für diese zu kämpfen.
Heute ist der religiöse Ursprung dieser Bewegungen stark in den Hintergrund getreten. Organisationen wie die MST entwickelten ihre Ziele, Ideologien und Arbeitsweisen fort und emanzipierten sich von der kirchlichen Basis. Doch der Geist der Befreiungstheologie lebt in ihnen fort. Die Mystik der MST beispielsweise, die in ihren Versammlungen getroffenen Entscheidungen, das alltägliche Leben in den Camps und die Motivierung zur Arbeit in kleinen Kooperativen oder Kollektiven sind weiterhin eindrucksvolle Zeichen ihres theologischen Erbes.

KASTEN
Leonardo und Clodovis – die Gebrüder Boff
Die Brüder Leonardo und Clodovis Boff sind Vertreter der katholischen Befreiungstheologie in Brasilien. Leonardo, der ältere, war Franziskanermönch, Clodovis ist Mitglied des katholischen Servitenordens. Beide einte das theologische und politische Eintreten für Menschenrechte und die Armen, wie es in der Befreiungstheologie praktiziert wurde. Clodovis verlor deswegen 1984 sowohl seinen Lehrstuhl an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro als auch die Unterrichtserlaubnis an der Päpstlichen Fakultät Marianum in Rom. Leonardo wurde vom Vatikan 1985 ein Rede- und Lehrverbot auferlegt, bevor er dann selbst im Jahre 1992 aus dem Franziskanerorden austrat und sich in den Laienstand versetzen ließ. Clodovis distanzierte sich 1986 von der Befreiungstheologie. Leonardo Boff blieb ihr treu. Auf dem Weltsozialforum 2009 in Belém sagte er: „In ein paar Jahren werden wir alle Sozialisten sein – entweder wir teilen das wenige, was wir haben, oder es wird für niemanden mehr etwas geben.“ Leonardo Boff wurde 2001 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Seit dem Jahre 2007 gibt es zwischen den Brüdern theologischen und politischen Zwist: Clodovis kritisierte an der Theologie der Befreiung, sie habe „gut begonnen, sich aber wegen ihrer erkenntnistheoretischen Mehrdeutigkeit verrannt: Sie hat die Armen an Stelle Christus‘ gesetzt.“ Aus dieser Umkehrung folge die „Instrumentalisierung des Glaubens“ für die „Befreiung“, die „Transformation des Glaubens in Ideologie“. Leonardo attestierte daraufhin seinem Bruder, „mit naivem Optimismus und jugendlichem Enthusiasmus“ die Linie der traditionellen Kirche zu verteidigen.
// Christian Russau

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