Kolumbien | Nummer 477 - März 2014

„Die Leere bleibt präsent“

Interview mit Erik Arellana Bautista von der Menschenrechtsorganisation FNEB über die Arbeit zu gewaltsam Verschwundenen

Erik Arellana Bautista sprach mit den LN über die Geschichte des Verschwindens seiner Mutter Nydia Erika Bautista. Die Familie gründete später die Stiftung FNEB, die weltweit das Verschwindenlassen von Personen thematisiert und Erinnerungsarbeit leistet. Diese wichtige Arbeit macht sie bis heute zum Ziel von Agressionen und Drohungen.

Interview: Alke Jenss

Sie sind in Deutschland im Exil. Könnten Sie kurz Ihre momentane Situation schildern?
Wegen der Arbeit für die FNEB waren wir als Familie Verfolgungen ausgesetzt. Am 30. Mai letzten Jahres, in genau der Woche, in der man der Verschwundenen in Kolumbien erinnert, drangen Personen in meine Wohnung ein und nahmen meinen Computer mit. Es gab noch andere Vorfälle, wir fühlten uns bedroht. Uns wurde gesagt, wir sollten das Land lieber verlassen. Im Juli sind wir ausgereist. Das erste Mal kam ich in den 90er Jahren nach Deutschland. Meine Tante war auf Vortragsreise hier, als ich erfuhr, dass man mich verschwinden lassen wollte. Sie sagte: „Komm sofort hierher, du kannst dort nicht bleiben.“ Jetzt sind wir hier nur auf begrenzte Zeit, mit einem Stipendium, das in einigen Wochen endet.

Warum ist es bedrohlich, bald nach Kolumbien zurück zu müssen?
Die Situation in Kolumbien hat sich nicht geändert: Vor etwas über zwei Wochen wurde ein Zeuge festgenommen, der im Fall meiner Mutter ausgesagt hatte. Durch ihn hatten wir damals herausfinden können, wo die sterblichen Überreste meiner Mutter begraben waren. Dieser Zeuge hatte vor der Procuraduría (die Institution soll korrektes Verhalten von Staatsbediensteten kontrollieren; Anm. der Red.) ausgesagt, dass er als Mitglied eines Geheimdienstes des kolumbianischen Militärs am Verschwindenlassen meiner Mutter und anderer Personen beteiligt war. Aufgrund seiner Zeugenaussage fanden wir ihre sterblichen Überreste. Vier Jahre später distanzierte sich dieser Zeuge von seiner Aussage, aber da hatten wir die Leiche meiner Mutter schon gefunden. Er verschwand von der Bildfläche, aber vor zwei Wochen wurde er festgenommen, es gab gegen ihn einen Haftbefehl nicht nur von der kolumbianischen Polizei, sondern von Interpol. Am 21. Februar hieß es in einem Artikel der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador, er sei an eine Militärbrigade überstellt worden. Das ist verdächtig, denn er hatte als ehemaliger Militär andere Militärs beschuldigt, an mehr als 30 Fällen von Verschwindenlassen beteiligt zu sein. Wenn er jetzt an ein Militärorgan überstellt wird, ist das schon sehr merkwürdig. Obwohl seit dem Verschwinden meiner Mutter so viele, nämlich 27 Jahre vergangen sind, ist die Situation also wie am Anfang.

Was geschah damals?
1986 wurde Nydia Erika Bautista in Cali mit zwei anderen Guerrilleros, von der Guerilla Quintín Lame, festgenommen. Sie wurde in ein geheimes Zentrum gebracht und zwei Wochen lang gefoltert. Weil die Nachricht über ihre Festnahme in Teilen der Presse verbreitet wurde, ließen die Militärs sie nicht verschwinden. Aber sie haben meine Mutter weiter verfolgt, und ein Jahr später ließen sie sie verschwinden. Das war in Bogotá am Tag meiner Erstkommunion, am 30. August 1987. Gegen 6 Uhr abends haben in Zivil gekleidete Männer meine Mutter mitgenommen. Später haben wir herausgefunden, dass diese Männer sie bis zum 12. September an einem geheimen Ort festhielten, wo sie meine Mutter gefoltert und ermordet haben. Etwa drei Stunden von Bogotá entfernt haben diese Männer sie auf einen Friedhof mit nicht identifizierten Personen geworfen. Dank der Zeugenaussage des Ex-Militärs haben wir sie im Juli 1990 gefunden. Ab da haben wir alle uns möglichen Anzeigen gegen die Verantwortlichen erstattet.

Dann mussten Sie zum ersten Mal ins Exil. Wie konnten Sie weiterarbeiten?
Als wir ins Exil mussten und das Thema nicht mehr in Kolumbien selbst bearbeiten konnten, begann meine Tante Yannette die Fälle von verschwundenen Frauen in Juárez, Mexiko, für Amnesty International zu untersuchen. Vorher war das kaum bekannt. Im Exil in Süddeutschland haben wir die Stiftung Nydia Erika Bautista gegründet und angefangen, mit Müttern von Verschwundenen aus der Türkei zu arbeiten, haben Angehörige von Verschwundenen aus Sri Lanka und die Gründung der asiatischen Vereinigung von Angehörigen Verschwundener unterstützt, vor allem mit Lobbyarbeit vor den UN. Später haben wir die Stiftung nach Kolumbien gebracht.

Was will die Stiftung mit dieser Arbeit vor allem zeigen?
Es geht um die Systematik der Praxis. Beim gewaltsamen Verschwindenlassen gibt es keine Zeugen, keine Verbrecher, alles bleibt im Unklaren. Es gibt nichts, an dem man sich festhalten kann, nicht einmal um die Straftat selbst nachzuweisen. Viele Fälle sind aber inzwischen nachgewiesen, sogar die Regierung spricht von mehr als 50.000 gewaltsam Verschwundenen.

Was das für die Familien heißt, scheint kaum in Worte zu fassen.
Es ist ein erzwungener Verlust, vor allem in den ersten Jahren. Das waren in unserem Fall nur drei, aber viele Angehörige wissen nicht, wohin ihre lieben Menschen gebracht wurden, wo sie geblieben sind. Es ist eine Form von Folter, die über alle Zeiträume präsent bleibt. Im Fall meiner Mutter war ich 13. Mich hat das extrem für das geprägt, was ich mit meinem Leben machen wollte. Ich bin sehr jung der ASFADDES (Organisation Angehöriger von Verschwundenen) beigetreten. Dort begann ich ansatzweise zu verstehen, was sie versucht hatten, uns anzutun. Das Verbrechen des Verschwindenlassens richtet sich nicht ausschließlich gegen die eine Person, sondern gegen ihr gesamtes soziales, familiäres, politisches Umfeld: Es ist wie eine Lektion. Die Leere, die bleibt, ist sehr groß. Mit den Angehörigen muss man sich diesem Schmerz jeden Tag stellen, und versuchen, ihn auf unterschiedliche Weise zu kanalisieren. So komme ich dazu, Erinnerungsarbeit zu machen.

Worin besteht diese Arbeit?
Während meines ersten Exils in Deutschland entwickelte ich die Idee der Erinnerungsarbeit mit Kartographie, um Erinnerungsorte zu konstruieren. Wir wollen die Vergangenheit in die Gegenwart bringen und zwar so, dass man sich nicht nur auf die Straftat bezieht, nicht nur vom Moment aus erzählt, an dem sie sie verschleppt oder ermordet haben. Sondern es geht darum zu fragen: Wer waren diese Menschen als soziale und politische Subjekte? Was waren ihre Kämpfe, ihre Träume? Welche Hoffnungen hatten sie, die Gesellschaft grundlegend zu verändern? In der Erinnerungsarbeit der Stiftung bestehen wir darauf, dass es wichtig ist, die Menschen nicht nur mit dem zu erinnern, was sie zu Opfern machte. Deshalb habe ich angefangen an Nydia zu schreiben als einer Frau, die Soziologie studierte, Gewerkschafterin in einer staatlichen Institution war, die Soziale Arbeit in ärmeren Stadtteilen machte, um ihre Träume zu betonen und nicht nur das Verbrechen. Alles das, was sie mit dem Verschwindenlassen auslöschen wollen.

Wie sieht eine solche Kartographie der Erinnerung aus?
Die Straßen in Bogotá haben Nummern, keine Namen. Mit den Angehörigen geben wir ihnen auf einer Karte die Namen der Verschwundenen. Wie könnte diese Straße heißen? Ich würde es gut finden, wenn diese Straße in dem Viertel, in dem wir mit meiner Familie gewohnt haben, nach Nydia Erika Bautista benannt würde. Bei der ersten Aktion haben wir mit 35 Familien Straßen umbenannt. Wir kamen damit bis zum Stadtrat. Einige Ratsmitglieder nahmen den Vorschlag an, aber der damalige, eher rechtsgerichtete Bürgermeister erlaubte die Umbenennung nicht. Geo­grafisch haben wir versucht, Anspruch auf die Orte zu erheben, mit Bildern oder einem Schild, und das mit Online-Karten zu verbinden. Es geht um zwei Ebenen, darum, sowohl im physischen Raum, als auch in einem virtuellen Raum zu intervenieren, um mit den Angehörigen und der breiteren Gesellschaft Wissen darüber zu schaffen, wo Verbrechen stattgefunden haben, und um Informationen weiterzugeben. Das alles ist mühevoll, aber ein würdiges Leben kann man nicht nur für einen Teil der Gesellschaft schaffen! Wir brauchen Solidarität, um Menschenrechte verteidigen zu können und trotzdem noch würdig zu leben, nicht nur versteckt, verfolgt, abgehört und eingeschüchtert.

Gedicht

Wahrheit?
Was ist das fragen sie hier
und sie antworten dort
Ist der Schatten ohne Nuance von Menschlichkeit
Polyphonie, Chor
wo alle singen auch der, der nicht zu singen weiß
sie ist so tief wie das Meer
so dunkel und transparent
wie die sternbesäte Nacht,
wo einige Punkte sehen
und andere nichts.
Wahrheit ist Tageslicht
nach langer Nacht ohne Gerechtigkeit.
// Chico Baut

Infokasten

Erik Arellana Bautista
arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation FNEB. Seine Mutter, Nydia Erika Bautista, wurde 1987 gewaltsam verschwunden. Sie studierte an der Nationalen Universität Kolumbien Soziologie und arbeitete im Nationalen Institut für Radio und Fernsehen Inravisión. Etwa Anfang 1985 wurde sie für den politischen Bereich der Bewegung des 19. April (M-19) aktiv. Die Guerilla M-19 gründete sich 1974, nachdem 1970 der konservative Präsident Misael Pastrana offenbar mittels Wahlbetrug an die Macht gelangte. Anfang bis Mitte der 80er Jahre stand der M-19 in Verhandlungen mit der Regierung, die scheiterten. Einer der Mitstreiter, Carlos Pizarro, wurde 1990 nach der Waffenabgabe des M-19 als Präsidentschaftskandidat der Bewegung ermordet. Die Forderungen der Familie Bautista nach Aufklärung führten zunächst zu internationalen Erklärungen der Kommission über gewaltsames Verschwindenlassen der UN und der Organisation Amerikanischer Staaten OAS, die den kolumbianischen Staat verurteilten und anhielten, die Verantwortlichen zu finden. Die kolumbianische Procuraduría (die Institution soll korrektes Verhalten von Staatsbediensteten kontrollieren; Anm. der Red.) entband daraufhin den damaligen General Álvaro Hernán Velandia Hurtado wegen Unterlassung von seiner Funktion: Er sei nicht eingeschritten, obwohl er über das Verschwindenlassen Bescheid wusste, welches die ihm unterstellte Brigade durchführte. 2011 wurde er aus rein formalen Gründen wieder auf seinen Posten gesetzt. Diese Entscheidung im Disziplinarverfahren versucht die Familie anzufechten. Das Strafverfahren wurde wegen neuer Erkenntnisse wieder aufgenommen und ist auf Zeugenaussagen angewiesen.
Als Teil der Organisationen von Angehörigen Verschwundener in Kolumbien (ASFADDES) fordert die Stiftung Nydia Erika Bautista (FNEB) von Regierung und Gesellschaft die Verteidigung von Menschenrechten und die Ausübung politischer Opposition zu schützen, und erhielt dafür 2012 den Französisch-Deutschen Menschenrechtspreis. In der aktuellen Vorwahlphase vor Parlaments- und Präsidentschaftswahlen steigen die Morddrohungen gegen Kandidat_innen der Opposition offenbar an. Zudem wurden militärische Abhörungen derjenigen bekannt, die an den Friedensgesprächen in Havanna teilnehmen.
Weitere Informationen: http://www.nydia-erika-bautista.org/es/fundacion.html

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