Brasilien | Nummer 474 - Dezember 2013

Die Leere des unbesetzten Stuhls

50 Jahre nach Beginn der brasilianischen Militärdiktatur erinnert die Ausstellung „Ausências“ an die Verschwundenen

Christian Russau

Die Familie nutzte ein verlängertes Wochenende für einen Ausflug. Auf der Landstraße São Paulo – Mogi Mirim legten sie einen kurzen Stopp und schossen ein Bild: die Mutter, die Tochter und der Sohn stehen Arm in Arm, gelehnt an die Kühlerhaube, in der Ferne verliert sich die Flucht der Autostraße. 48 Jahre später, im Jahre 2012, die gleiche Landstraße: Arm in Arm stehen Mutter und Tochter vor dem parkenden Wagen, die Flucht der Straße verliert sich immer noch im Hintergrund. Aber der Sohn fehlt. Luiz Almeida Araújo, damals 27 Jahre, wurde im Juni 1971 auf offener Straße verhaftet und gilt seither als verschwunden.
Die Familie Cardoso Rocha traf sich stets zum Familienessen, damals im Belo Horizonte Anfang der 1960er Jahre. Die Rochas waren eine kinderreiche Familie. Und alle gingen oft zusammen ins Restaurant. Zu neunt sind sie 1961 um den Tisch versammelt. 2012 sitzen nur noch acht Familienmitglieder am Tisch. Arnaldo Cardoso Rocha fehlt. 1969 ging Arnaldo für die Stadtguerrilla Nationale Befreiungsaktion ALN in den Untergrund. Er starb 1973 – laut Militärangaben infolge eines Schusswechsels. Aussagen von Zeug_innen zufolge wurde er lebend festgenommen und im Folterzentrum der DOI-CODI in São Paulo ermordet.
Ana Rosa Kucinski Silva lehnt, entspannt sitzend, am Rahmen einer Haustür in Paraty, wohin die Familie aus São Paulo im Jahre 1966 einen Ausflug gemacht hatte. 2012 sitzt niemand im Rahmen der Tür. Ana Rosa hatte sich am 22. April 1974 mit ihrem Ehemann zum Mittagessen im Zentrum São Paulos verabredet (siehe LN 471/472). Dort wurden sie und ihr Mann Wilson Silva verhaftet – und nie wieder gesehen.
Es sind die Bilder des argentinischen Fotografen Gustavo Germano. Und die der Familienangehörigen der Verschwundenen. Gustavo Germano hat dieses Projekt in Brasilien im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Menschenrechtssekretariats realisiert, nachdem er zuvor das gleiche Projekt in Argentinien durchgeführt hatte.
Germano dokumentiert die Geschichten der Opfer der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985) dadurch, dass er Fotos aus den Familienalben dreißig, vierzig Jahre später mit den Hinterbliebenen nachstellt. Die Bilder werden durch die Lebensgeschichten der Verschwundenen und ihrer Familienangehörigen hervorragend ergänzt.
In der Gegenüberstellung der alten und neuen Fotografien setzt Germano die Abwesenheit der politischen Verschwundenen und von der Diktatur Ermordeten einfühlsam in Szene. Es ist diese Leere des unbesetzten Stuhls am Familientisch, die nicht vieler Worte der Erklärung bedarf. Selten sprechen Fotografien bereits beim ersten Anblick so für sich.

Iuri Xavier Pereira. 23 Jahre

Geboren am 2. August 1948 in Rio de Janeiro im gleichnamigen Bundesstaat als ältester Sohn von João Baptista und Zilda de Paula Xavier Pereira, beide engagierte Kommunisten und Mitglieder der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB). Iuris Bruder, Alex de Paula Xavier Pereira, ebenfalls aktives Mitglied der Nationalen Befreiungsaktion ALN, wurde im Januar 1972 umgebracht.
Im Untergrund war Iuri aktiv an den internen Machtkämpfen der PCB beteiligt. Er stand Carlos Marighella bei der Gründung der ALN zur Seite und gehörte seit 1970 zu deren Zentralkommando. Iuri war nicht nur für seinen Kampfgeist bekannt, sondern auch für seine theoretische Kompetenz und sein Engagement im Bereich der Untergrund-Presse.
Am 14. Juni 1972 traf er sich zum Mittagessen mit drei Kampfgefährten in einem Restaurant in São Paulo. Der Besitzer rief die Polizei an und teilte ihr mit, in seinem Lokal säßen gesuchte Terroristen. Schnell war ein Hinterhalt vor Ort aufgebaut. Im Verlauf der Operation kamen Iuri und zwei seiner Gefährten ums Leben. Der dritte konnte verletzt entkommen. Iuri bekam ein Armenbegräbnis auf dem Friedhof Dom Bosco in Perus im Bundesstaat São Paulo. Erst im Jahr 1980 wurde sein Leichnam zusammen mit dem seines Bruders Alex nach Rio de Janeiro überführt. Die Exhumierung in São Paulo wurde von Polizeibeamten überwacht, die mit Maschinengewehren ausgestattet die Überführung der sterblichen Überreste der Brüder nach Rio de Janeiro begleiteten.

Fernando Augusto de Santa Cruz Oliveira. 26 Jahre

Geboren am 20. Februar 1948 in Recife, Bundesstaat Pernambuco, als Sohn von Izita Santos de Santa Cruz Oliveira und Lincoln de Santa Cruz Oliveira. Fernando Augusto war verheiratet mit Ana Lúcia Valença Santa Cruz Oliveira und hatte einen Sohn, Felipe. Er arbeitete als Angestellter der Wasser- und Elektrizitätswerke in São Paulo, wo er mit seiner Frau und seinem damals zweijährigen Sohn lebte. An einem Samstag vor Karneval hielt die Familie sich in Rio de Janeiro auf. Gegen 15:30 Uhr verließ Fernando das Haus, um seinen Freund Eduardo Collier zu treffen. Er gab zu verstehen, dass, sollte er um 18.00 Uhr nicht zurück sein, er verhaftet worden sei. Sein Hinweis bestätigte sich: Er wurde von Agenten des Sonderkommandos Geheimoperationen – Operationszentrum Innere Verteidigung/Rio de Janeiro (DOI-CODI/RJ) am 23. Februar 1974 verhaftet, nur wenige Wochen vor Ende der Regierungszeit von General Garrastazu Médici. Seine Festnahme erfolgte im Rahmen einer Operation der Militärpolizei in verschiedenen Orten des Landes, die 1973 eingeleitet wurde, um die Widerstandskämpfer der Marxistisch-Leninistischen Volksaktion (APML), einer linken Bewegung, die der Katholischen Kirche nahestand, zu liquidieren.

Luiz Almeida Araújo. 27 Jahre

Geboren am 27. August 1943 in Anadia, Bundesstaat Alagoas, als Sohn von Maria José Mendes de Almeida Araújo und João Rodrigues de Araújo. Luiz ging 1957 nach São Paulo, wo er Botengänge erledigte und ein Abendstudium absolvierte. Bereits während des Studienkollegs im Instituto Santa Inês begann er, sich in der Studentenbewegung zu engagieren und unterhielt Verbindungen zur Katholischen Studentenjugend (JEC).1964 wurde er verhaftet und gefoltert. Im selben Jahr reiste er nach Chile und wurde nach seiner Rückkehr erneut verhaftet.
Als politischer Aktivist zeigte er zwischen 1966 und 1968 eine zunehmende Militanz und schloss sich den Dissidenten um Carlos Marighella an, die der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) den Rücken zukehrten. Er engagierte sich im Bereich Kunst und Kultur und spielte im Theater Leopoldo Fróes. Da er für eine Aktion der Gruppe Marighella seinen Wagen zur Verfügung gestellt hatte, wurde er aufgegriffen und in der Avenida Angélica im Juni 1971 entführt. Das Todesdatum von Luiz steht nicht genau fest. In einem Bericht der Marine von 1993 gibt es einen Eintrag zu seiner Person: „AUG/71 – ist angeblich tot.“ Als Luiz verschwand, war seine Lebensgefährtin Josephina Vargas Hernandes schwanger. Er starb, ohne seine Tochter Alina kennenzulernen.

Übersetzung: Sarita Brandt und Ursula Kindel

Ausstellung „Ausências“ // Fotografien: Gustavo Germano und die Familienangehörigen der Verschwundenen // Kontakt und Informationen zur Ausstellung bei: www.gustavogermano.com

Die Ausstellung „Ausências Brasil“ wurde produziert durch das Menschenrechtssekretariat der Präsidentschaft Brasiliens mit Unterstützung der brasilianischen Agentur Alice – Agência livre para informação, cidadania e educação.

Im Rahmen des Ehrengastauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse war die Ausstellung „Ausências Brasil“ vom 7. bis 20. Oktober 2013 im Haus am Dom in Frankfurt zu sehen.

„Ausências“ wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 in Berlin und Köln/Bonn im Rahmen der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage gezeigt werden, die an den 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien erinnern.
Das Programm der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage wird demnächst hier in den LN bekannt gegeben werden.

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