Mexiko | Nummer 473 - November 2013

Die Ruinen von Sabines

In Chiapas sind die Modellstädte des Ex-Gouverneurs gescheitert

Um die ländliche Armut zu verringern, wurden im südmexikanischen Chiapas die Bewohner_innen ganzer Dörfer in neu erbaute Modellstädte umgesiedelt. Für die Menschen bedeutet das eine grundlegende Umstellung ihrer Lebensverhältnisse und Gewohnheiten – für viele, besonders die Bewohner_innen der Villa Rural Emiliano Zapata, sogar größere Armut.

Anne Haas

Die ciudades rurales sustentables (CRS; „nachhaltige Landstädte“) waren das Vorzeigeprojekt des ehemaligen chiapanekischen Gouverneurs Juan Sabines Guerrero (2006-2012). Sie wurden mit dem Grundgedanken entworfen, dass die Ursache ländlicher Armut die Dispersion sei, dass also die Bevölkerung zu sehr räumlich verstreut lebe. Viele Menschen in Chiapas wohnen in Gemeinden mit weniger als hundert Einwohner_innen und oftmals fern von Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur. So schien es der Regierung sinnig, die Menschen in moderne, neu erbaute Kleinstädte umzusiedeln und dank dort vorhandener Infrastruktur auch rein statistisch aus der Armut zu befreien. Das Modell zeigte sich auch funktional als Antwort auf Naturkatastrophen: Menschen, die bei Erdrutschen und Überschwemmungen alles verloren hatten, bekamen statt Entschädigungen ein ganz neues Zuhause.
Anfangs gab die Regierung den Bau von 25 CRS bekannt. Letztlich begann man nur fünf zu bauen, von denen bis heute vier größtenteils fertiggestellt sind. Finanziert wurden sie vom mexikanischen Staat, teilweise kofinanziert durch mexikanische Großkonzerne und ideell lange von der UNO unterstützt, da sie sämtliche Millennium Development Goals zu erfüllen vorgaben. Die Modellstädte sehen neben mehreren hundert Familienhäusern, einer Klinik und Schulen auch Einkaufszentren und verschiedene Produktionsstätten (unter anderem Hühnermast, Rosenzucht oder eine Möbelfabrik) vor. Dies hat einen großen Einfluss auf den Lebensalltag und die Autonomie der Menschen.
Eine oft gehörte Kritik der Bewohner_innen ist: „Hier muss man alles kaufen.“ Die Menschen werden abhängig von Lohnarbeit und vollen Supermarktregalen. Beides ist jedoch rar in den Modellstädten. Die Produktivprojekte sind entweder noch nicht fertig gebaut (wie in Jaltenango) oder sie scheitern an fehlendem Kapital und zu kleinen Absatzmärkten (zum Beispiel in Nuevo Juan de Grijalva).
Viele Menschen in den CRS sind enttäuscht und frustriert. Mariana Reyes (Anm. d. Red.: Name wurde auf Wunsch der Interviewten geändert) aus Nuevo Juan de Grijalva kritisiert die Regierung: „Sie sagen: ‚Wir werden die extreme Armut besiegen!‘ Lüge! Das ist nicht wahr! Sie machen die Leute ärmer, die gar nicht mehr arm waren.“ Diesen Widerspruch stellte auch Dolores Camacho fest, die als Wissenschaftlerin an der Nationalen Autonomen Universität Mexikos seit langem zu sozialen ländlichen Bewegungen forscht: „Die meisten hatten vorher eigenes Land. Ihre Häuser waren – nach unserem Verständnis – einfach, aber geräumig. Und sie lebten in Ernährungsfragen weitestgehend unabhängig.“
Das hat sich nun grundlegend geändert. In einigen der CRS mussten die Menschen ihr ehemaliges Land aufgeben, um ein Haus in der Modellstadt zu bekommen. Andernorts liegen ihre Ländereien viel zu weit weg, um sie noch zu bestellen. „Warum nicht vor allem jene Leute umgesiedelt wurden, die tatsächlich in Armut und Hunger leben – denn die gibt es in Chiapas – ist unklar. Ich vermute, dass mit dieser Politik ein Strukturwandel in der ländlichen Produktion vorangetrieben werden soll. Das Land soll zur Produktion von Dingen genutzt werden, die man auf dem Markt verkaufen kann: Palmöl, Holz, Plantagenobst“, so Camacho.
Den Verdacht, das Projekt könne einen weitaus größeren Einfluss auf ihren Lebensalltag haben als gewünscht, hatten auch die „ehemals zukünftigen“ Bewohner_innen der Villa Rural Emiliano Zapata. Sie forderten Mitbestimmungsrechte im Planungsprozess – ein vielversprechendes Projekt, das letzten Endes scheiterte.
Wie in weiten Teilen Südmexikos war es in der Nähe des Stausees Malpaso im November 2006 zu Überschwemmungen großen Ausmaßes gekommen, doch dafür interessierte sich weder Sabines noch die Presse. Viele der hier Betroffenen waren seit Jahrzehnten in einer Gruppe namens Organización Proletaria Emiliano Zapata (OPEZ) organisiert. Wie bei vielen der klassischen Bauern- und Bäuerinnenorganisationen in Chiapas liegt ihre Stärke darin, Forderungen gegenüber der Regierung durch Protestaktionen wie Besetzungen oder Straßenblockaden durchzusetzen. Aus den Notunterkünften heraus schafften es die Mitglieder der OPEZ, die Aufmerksamkeit der Medien sowie der Regierung auf sich zu ziehen. Da sie ihre Häuser verloren hatten, forderten sie eine eigene CRS im Landkreis Tecpatán (heute Mezcalapa).
„Wir von außen dachten uns: Wie können sie eine CRS fordern. Die wissen ja gar nicht, was das bedeutet“, schildert Camacho über die Zeit der Aushandlung. Zu aller Überraschung stimmte die Regierung Sabines dem Bau zu. Zuerst jedoch wurden die Betroffenen in ein gemeinsames Lager umgesiedelt. In engsten Verhältnissen lebten 273 Familien auf je 16 Quadratmetern – für mehrere Jahre.
Auf die Idee, eine CRS zu fordern, war OPEZ durch die Vorgänge 70 Kilometer flussabwärts, nahe des Stausees Peñitas, gekommen: Hier wurde das Dorf Juan de Grijalva infolge der unermüdlichen Regenfälle bei einem massiven Erdrutsch verschüttet. Über zwanzig Menschen starben. Am ohnehin schon über die Ufer getretenen Fluss Grijalva kam es dadurch zu einer gigantischen Flutwelle und zahlreiche Menschen verloren ihr Haus und Gut. Eine der ersten größeren Amtshandlungen des damaligen Gouverneurs Sabines war es, den Betroffenen aus der neu ernannten Gefahrenzone eine Modellstadt an einem anderen Ort zu versprechen: Nuevo Juan de Grijalva. Die Pläne für eine solche CRS hatten bereits in der Schublade gelegen.
Während des Baus der CRS Nuevo Juan de Grijalva Fortschritte machte, harrten die zukünftigen Bewohner_innen der CRS Emiliano Zapata in ihrem Lager aus. Sie erkannten jedoch, dass vieles in der CRS Nuevo Juan de Grijalva nicht ihren Vorstellungen entsprach. Die Anführer_innen der OPEZ traten erneut mit der Landesregierung in Verhandlung. Sie forderten größere Häuser nach eigenem Entwurf, Beteiligung an der Materialbeschaffung und dem Bau. Es sollten auch nicht die üblichen Supermarktketten Zugang zu der Stadt bekommen, stattdessen wollten die Leute ihre eigenen Geschäfte aufbauen. Zusätzlich bestanden sie darauf, auch in Zukunft die Grundnahrungsmittel Mais und Bohnen anzubauen. „Es schien, als würde es die beste aller Modellstädte werden, eine die wirklich für die Bewohner_innen gebaut würde“, erinnert sich Camacho. Dass die CRS Emiliano Zapata eines Tages von der Regierung in villa rural, „Modelldorf“ statt „Modellstadt“, umgetauft wurde, machte für die Leute keinen großen Unterschied.
Doch die Bauarbeiten zogen sich immer länger hin. „Die Hitze im Lager war unerträglich. Alte Menschen und Kinder starben daran. Wir alle, ich auch, verloren die Hoffnung. Wir wollten endlich in die neue Stadt ziehen“, erzählt Luis Fernández (Anm. d. Red.: Name wurde auf Wunsch des Interviewten geändert) von seiner Zeit im Lager. Die Situation eskalierte, als der Anführer der OPEZ wegen Betrugs festgenommen wurde.
Die OPEZ spaltete sich. Einige der zukünftigen Bewohner_innen der Villa Rural waren ermüdet und forderten, dass man ihnen einfach das Geld für ihr Haus auszahlen sollte. Sie wollten zurückkehren zu ihrem ehemaligen Land am Fluss. Die anderen campierten vor dem Regierungssitz in Tuxtla Gutiérrez und forderten die Freilassung ihres Anführers. Fernández hält diese Entwicklung nicht für einen Zufall: „Es gibt ein Sprichwort, ein Motto der Regierung. Es heißt: Trenne die Gruppe und du wirst siegen.“ Er lacht. „Ich kann mir vorstellen, dass sie diese Weisheit genutzt haben.“
Am Ort der Villa Rural stehen heute sechzig unvollendete Häusergerippe aus Lehmziegeln. Der Betrugsfall führte zu einem Baustopp von Seiten der Regierung, bevor Dächer und Fenster eingebaut, Strom und Wasser verlegt und weitere Häuser gebaut werden konnten. Der Zementfußboden ist durch die Witterung bröckelig, einige Häuser sind eingefallen. „Das sind die Ruinen von Juan Sabines“, scherzen die jetztigen Bewohner_innen. Seit etwa einem Jahr haben sie das Gelände besetzt. Die Dächer sind mittlerweile gedeckt, bei manchen Häusern allerdings lediglich mit Plastikfolie, die Fenster wurden mit Holz verbarrikadiert, um den Regen abzuhalten. Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind weiter entfernt denn je.
Die neuen Bewohner_innen sind zum einen Landlose, die sich genommen haben, was ohnehin dem Verfall überlassen war. Zum anderen finden sich hier einige derer, für die diese Villa Rural einst vorgesehen war: Aussteiger_innen aus der OPEZ. Sie wollten nicht mehr mit „Betrüger_innen“ zusammenleben. Doch im Gegensatz zu vielen anderen konnten sie nicht wieder an ihren Heimatort am Fluss zurückkehren, da auf ihrem ehemaligen Gut die Überschwemmungen andauern.
Sie leben nun von einem Stück Land, das sie von der Nachbargemeinde gepachtet haben und bauen dort Mais an. Der reiche gerade so, zum Verkauf bleibt nichts übrig. Fernández erzählt, dass er und seine Brüder früher oft für ein paar Monate nach Cancún fuhren, um dort im Baugewerbe zu arbeiten: „Aber jetzt? Wie kann ich meine Frau und die Kinder hier lassen, wenn es kein Wasser gibt, keinen Strom, nichts. Und dann könnten auch die von der OPEZ wieder kommen.“ Vor einigen Monaten wurde ein Jugendlicher aus der Villa Rural erschossen und Fernández bekam fast eine Kugel in den Fuß. „Wir sind diese Art von Gewalt nicht gewohnt. Wir sind friedliche Leute, ruhig, arbeitsam, bäuerlich. Wir mögen es nicht, in Probleme verwickelt zu sein. Wir sind jetzt noch mehr am Arsch als vorher, aber wir bleiben jetzt hier. Wir haben unsere eigene Organisation gegründet: Paz y Libertad (Frieden und Freiheit). Und wir werden diesen Ort nun aufbauen. Auch wenn es schwer wird.“ Von Regierungsseite ist dabei kaum Hilfe zu erwarten.
Die Villa Rural ist vermutlich daran gescheitert, dass die Menschen Mitbestimmung eingefordert haben. Die restlichen CRS versagen etwas zeitverzögert, unter anderem weil den Menschen kein Handlungsspielraum gegeben wurde. Weitere Modellstädte wird es in Chiapas unter dem neuen Gouverneur Manuel Velasco Coello laut Regierungsangaben nicht geben – nicht jedoch, weil das Konzept hinterfragt wurde, sondern weil sie bei der aktuellen Verschuldung schlicht nicht finanzierbar wären. Es bleibt abzuwarten, welche Lösung Velasco für die aktuellen Überschwemmungen präsentieren wird.

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