Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Die Stadt als Beute des Kapitals

Interview mit Professorin Ermínia Maricato über Stadtumstrukturierungen im Schatten der Mega-Events und die neue Generation der Protestierenden

Seit den 1980er Jahren erfolgt der Zugriff des Kapitals auf die Städte – und die Regierenden vernachlässigten die Fragen aktiver Politik für die Städte. Doch angesichts des Ausverkaufs der Städte ergreifen in Brasilien nun neue Akteure die Initiative und gehen auf die Straße. Die Stadt ist für soziale Kämpfe der Raum par excellence, meint die Urbanistin Ermínia Maricato.

Interview: Júlio Delmanto, Übersetzung: Lucie Matting und Christian Russau

Ist die urbane Frage im Juni 2013 in den Städten explodiert?
Ich denke, dass die urbane Frage in dem besagten Szenarium aus verschiedenen Gründen eine sehr entscheidende Aufgabe hat. So ist die Stadtfrage seit Jahrzehnten links liegen gelassen worden. Die Stadt war ein bedeutender Raum im Kontext der Klassenfrage. Die Stadt war beispielsweise der Raum, der den Boden für Arbeiterstreiks Ende der 1970er Jahre lieferte. Es haben sich in der Zeit neue Parteien, wesentliche Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegründet, währenddessen die internationale Bewegung Rücklauf nahm – Brasilien gewann in den 1980er Jahren dahingehend reichhaltig an Raum. Nachdem wir dann die Militärdiktatur besiegt hatten, da gab es dann diese neue Politik der und für die Stadt. Aber dieser bedeutende Zeitraum städtischer Politik flachte ab, und zwar an dem Punkt, wo die Städte vom Kapital überfallen worden sind. Was sich in Brasilien ab den 1980er Jahren entwickelte war ein riesen Agrargeschäft – die Globalisierung überrollte in Brasilien von da ab an ländliche Gebiete. Das Land wurde so zugerichtet, um die Rohstoffe und Agrargüter zu produzieren. Die Städte aber noch nicht, im Gegenteil, sie wurden erst ab den 1980er Jahren zur Beute des Kapitals.

Wird jetzt die Zeche bezahlt?
Die Probleme von früher sind auch jetzt noch da. Es gibt eine Diskussion in Brasilien, beispielsweise im gewerkschaftlichen Sektor, der es nicht gelingt, die Stadt wie einen Raum des Klassenkampfes zu erkennen. Klassenkampf für sie bedeutet ausschließlich: Kapital versus Arbeit, im Kontext der Fabrikarbeit. Aber der spanische Stadtsoziologe Manuel Castells wies darauf hin, dass die Stadt die Reproduktion von Arbeitskraft ist und deswegen der Raum par excellence für soziale Bewegungen ist. Jetzt sieht man deutlich: ein Tunnel, den der ehemalige Bürgermeister von São Paulo ausschreiben ließ und in dem nunmehr keine Busse, sondern allein Autos fahren dürfen, dieser Tunnel kostet drei Milliarden Reais. Das ist die Hälfte des Stadthaushalts für Gesundheit! Entweder der Tunnel oder die Gesundheit!
Aber man wird sagen: ‚Gut, aber das ist doch kein Kampf von Kapital und Arbeit‘. Aber das ist es doch. Denn der Lohnanstieg bringt nicht automatisch für jedermann kollektive Gesundheit, auch keine grundlegende Kanalisation mit sich. Denn die Infrastruktur einer Stadt, als auch deren öffentlichen Dienste, die stellen eine Art Lohnzusatzleistung dar. Die Reproduktion der Arbeitskraft wird dadurch auf weitere Füße gestellt. Wenn ich Einkommen und höhere Löhne verteilen kann, dann bedeutet das noch nicht, dass das Problem der öffentlichen Kanalisation, die jedermann benötigt, gelöst wurde, noch dass man das Wasser, das jederman trinken muss, auch trinken kann.

Und die Juniproteste haben diese Fragen auf die Agenda gebracht?
Seit Juni haben wir Dinge erreicht, die mich perplex machen. Ich hätte nie gedacht, dass so viel in so wenig Zeit möglich sein könnte. Allein beim öffentlichen Transport in São Paulo haben wir die Rücknahme der Tariferhöhung von 20 Centavos erreicht., Eine parlamentarische Untersuchungskommission wurde zum Transportwesen eingesetzt und öffentliche Ausschreibungen wie dieser kriminelle Tunnel für Autos, der nichts mit der städtischen Mobilität, sondern ausschließlich mit der Finanzierung von Wahlkampagnen zu tun hat, wurden gestoppt. Zudem wird es eine internatio­nale Evaluierung über die Bustarife geben. Und der Ausbau der Busspuren wird ausgebaut.
In Rio de Janeiro hatten wir zwei phantastische Erfolge: Wer hätte vor einigen Monaten geahnt, dass dies möglich sei? Die Privatisierung vom Maracanã bedeutet nicht nur die Privatisierung des Stadions, sondern auch den Abriss zweier Sportparks, die den Anwohnern der Umgebung mit mittlerem und niedrigerem Einkommen zur Verfügung standen. Diese sollten einfach abgerissen werden – aber die Regierenden mussten ihre Pläne ändern. Dies ist von enormer Bedeutung. Und zuletzt das Beispiel der „Vila Autódromo“: Da demaskierte sich die Regierung selbst als die wahren Vandalen – aber sie hat letztlich auf die Räumung der Anwohner verzichtet. Der Staat ist für den derzeitigen Prozess der Gentrifizierung verantwortlich: In Rio de Janeiro werden beispielsweise mehr als 100.000 Personen vom Zentrum in periphere Regionen verdrängt.

Wie sehen Sie diese jüngsten Entwicklungen?
Ich bin einfach nur beeindruckt von dem, was sich da gerade abspielt. Nachdem jahrelang der Ausverkauf der Stadt und deren Kontrolle sich verschärft hatten, sieht man jetzt auf einmal solch phantastische Erfolge. Da wurde der Kommandant der Befriedungspolizeieinheit (UPP) ausgetauscht. Aber: In welche Richtung sich alles weiterentwickeln wird, ich weiß es nicht. Es ist normal, dass es auch Rückschritte gibt, aber vorerst ist keiner zu erkennen, denn diese neuen Akteure werden nicht aufhören. Es ist eine ganz andere Jugend, als ich sie aus meiner Generation kenne. Meine Generation dachte komplett holistisch: große Reformen, die sozialistische Revolution, die Apokalypse. Diese Jugend ist anders: sie wählt sich punktuelle Dinge aus, die aber eben nicht punktuell sind – und die Auswirkungen dann sind einfach gigantisch.

In Bezug auf die Groß-Events hier in Brasilien: Am Ende des Ganzen werden allein Stadien und Militarisierung als Erbe bleiben?
So sieht es aus, aber nicht nur. Man hat Gentrifizierung in der Umgebung des Itaquerão, des neuen Stadions in São Paulo. Das ist fürchterlich, was dort derzeit geschieht. Denn immerhin handelt es sich um öffentliche Gelder, die in ein Projekt investiert werden, wo alle dachten, dass es sich um Privatinvestitionen handeln würde. Dort in der Gegend explodieren die Kosten für Wohnraum. Das führt dann zur Vertreibung der Leute von dort. Und da hängen sie alle mit drin: diejenigen, die die Großprojekte und Infrastruktur bauen, das Immobilienkapital, Zulieferer für die Bauprojekte, einfach alle.

In Ihrem Text in dem gerade erschienenen Buch Rebellische Städte (Cidades Rebeldes) beschreiben Sie die Rolle der Groß-Events als den des ins Feuer geworfenen Holzscheits.
Es gibt viele, die machen die WM für alles verantwortlich. In Wahrheit ist es so, dass der Patient bereits krank ist. Und diese Großevents treiben das Fieber weiter hoch.

Infokasten:

Ermínia Maricato

ist Professorin der Fakultät für Architektur und Urbanismus der Universität in SP und der Universität in Campinas. Sie ist Urbanistin und Expertin zum Thema urbaner Reformen in Brasilien. Zwischen 2003 und 2005 war sie stellvertretenden Ministerin für Stadtwesen, in den ersten Jahren der Regierung unter dem damaligen Präsident
Luiz Inácio Lula da Silva.

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