Literatur | Nummer 341 - November 2002

Ein Leben für das bolivianische Buch

Interview mit Werner Guttentag

Werner Guttentag wurde als deutscher Jude 1920 in Breslau geboren. 1939 konnte er vor den Nazis nach Bolivien flüchten. Dort hat er über Jahrzehnte hinweg als Buchhändler und Verleger das intellektuelle Leben des Landes maßgeblich mitgestaltet. Er überstand Diktaturen und bekam 1987 den höchsten Orden des Landes, den „Condor de los Andes“. Noch heute versteht sich Werner Guttentag als Sozialist.

Ellinor Krogmann

Sie bekamen 1987 den Orden „Condor de los Andes“, Ihr Portrait ziert auch eine Briefmarke der bolivianischen Post, die 1998 herausgekommen ist. Sie haben viel Ehrung erfahren als Buchhändler und Verleger, würden Sie sich selbst als einen erfolgreichen Mann bezeichnen?

Da fällt mir eine Antwort schwer. Erfolgreich in der Hinsicht, dass man mich irgendwie anerkannt hat in meinem Leben – ja! Aber als Buchhändler bin ich erst mal von etwas anderem ausgegangen, und auch als kleiner Junge habe ich von etwas anderem geträumt. Ich wollte mit dem Verkauf und später mit dem Verlegen von Büchern dazu beitragen, wenigstens dieses eine Land, Bolivien zu verbessern. Das ist mir nicht ganz so geglückt, und das wird auch nicht mehr glücken. Innerhalb einer Generation lassen sich Veränderungen offensichtlich nicht erreichen, und ein Einzelner kann erst recht nichts bewirken. Ich fühle mich vom Land, von Bolivien akzeptiert, das schon. Sogar das Land, das mich früher ausgestoßen hat, Deutschland, hat mir einen Orden verliehen. Ich war auch x-mal auf der Frankfurter Buchmesse eingeladen und habe dort bolivianische Literatur vorgestellt.
Aber wenn man älter wird und sich fragt, was man eigentlich getan hat, dann entspricht das wohl nie dem, was man eigentlich mal wollte.

Aber Sie haben doch einiges für die bolivianische Literatur getan. Sie erstellten zum Beispiel über Jahre hinweg eine Bibliografie neu erschienener bolivianischer Literatur und brachten außerdem eine Enzyklopädie heraus. Insofern leisteten Sie für den Erhalt und die Entwicklung bolivianischer Literatur einen wichtigen Beitrag!

Ich habe auch 30 Jahre lang einen Literatur-Preis gestiftet, um neue bolivianische SchriftstellerInnen dabei zu unterstützen, ihre Bücher heraus zu bringen. Einige von ihnen spielen heute eine wichtige Rolle in der Literaturszene des Landes.
Am Anfang war das schwer, weil ich eigentlich gar kein Geld dafür hatte. Das führte zu absurden Situationen. Als ich den Preis zum ersten Mal im Rahmen eines feierlichen Aktes in La Paz stiftete, übergab der Erziehungsminister dem Autor einen Umschlag mit meinem Scheck. Ich flüsterte hinterher dem Autor zu: „Lös den Scheck noch nicht ein, er ist noch nicht gedeckt!“ Manchmal habe ich den Preis vergeben und dann ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr lang kein Geld gehabt, um das Buch des Preisträgers herauszubringen.

Ist es nicht überhaupt ein mutiges Unterfangen, in einem Land, in dem wenig gelesen wird, eine ganze Kette von Buchhandlungen aufzubauen?

Da bin ich anderer Meinung. Ich denke, dass Bolivien ziemlich viele Schriftsteller hat. Die Bibliografie ist vor allem deshalb entstanden, weil wir der Welt beweisen wollten, dass es hunderte, vielleicht tausende Bolivianer gibt, die schreiben: über Musik, über Medizin, einen Roman oder sonst was. 38 Jahre lang haben wir unter den unmöglichsten Bedingungen, auch in Zeiten der Diktatur, jedes Jahr eine Bibliografie aller Neuerscheinungen herausgegeben. Am Anfang war das noch einfach, da gab es vielleicht 200 Bücher, heute gibt es 1500. Und die bekomme ich ja nicht alle, und die kann ich auch nicht alle kaufen. Heute ist das viel komplizierter geworden, und man benötigt einen ganzen Apparat, um diese Arbeit zu leisten. Aber wir arbeiten immer noch ganz altmodisch, nicht mal mit Computer. Trotzdem hoffen wir, auch noch den vierzigsten Band herausgeben zu können.

Ist das ein alter Wunsch, ein Kinderwunsch von Ihnen gewesen, Buchhändler zu werden?

Ich wollte nicht Buchhändler werden. Das Wort Buchhandel hat mir nicht gefallen, ich wollte nicht verkaufen. Ich wollte Bibliothekar werden, etwas mit Büchern zu tun haben. Aber als ich aus meinem ersten Exil, aus Holland, mit dem Schiff abfuhr, hatte ich nur ein Buch bei mir: „Der Idiot“ von Dostojewski.

Sie sind 1920 in Breslau geboren. Haben Sie noch Erinnerungen an die Stadt, an Schlesien in den 20er und 30er Jahren?

Ich erinnere mich an viele Freunde, von denen viele umgekommen sind. Ich habe zum Beispiel einen Freund gehabt, der emigrieren musste. Er ging nach Russland, wurde nach dem Hitler-Stalin-Pakt den Deutschen übergeben und dann sofort ermordet. Mit einigen hatte ich auch später noch Kontakt, obwohl sie mittlerweile über die ganze Welt verstreut sind. Jetzt sind natürlich viele tot.
Heute möchte ich nicht mehr in Breslau leben, ebenso wenig in Deutschland. Obwohl ich immer gern zur Frankfurter Buchmesse gefahren bin und dort viele Freunde gefunden habe. Aber ich habe auch unangenehme Erfahrungen gemacht. Einmal bin ich mit meinem Schwager ins Schlesier-Heim, das zwischen Köln und Bonn liegt, gegangen. Da haben wir guten, typisch schlesischen Kuchen gegessen. Ein paar Herren, ebenfalls Schlesier und in meinem Alter, waren auch da. Die habe ich mir dann angeschaut und gedacht: Wenn der oder der bei der SS gewesen wäre, der hätte mich doch möglicherweise umgebracht! Da hatte ich dann ein Gefühl der völligen Unsicherheit. Außerdem leben heute so viele Neonazis in Deutschland, dass mich das zusätzlich verunsichert. Auch wenn ich mir deren Existenz erklären kann.

Das heißt, Sie fühlen sich jetzt in Bolivien zu Hause?

Vollkommen.

Sie waren als Jugendlicher in einer Organisation, die „Freie Deutsch-Jüdische Jugend“. Was war das für eine Organisation?

Das war eine Organisation, die nach der Wandervogel-Bewegung entstand. Es gab auch jüdische Wandervögel, aber als die große Krise kam, da lösten sich die jüdischen Wandervögel langsam auf, und es bildeten sich daraus neue, politische Gruppen. Es gab zum Beispiel eine prozionistische Gruppe, die nach Israel auswandern wollte. Manche sagten: Wir sind Deutsche, wir sind keine Juden. Die „Freie Deutsch-Jüdische Jugend“ war eine linksgerichtete Bewegung, in die ich eher zufällig geraten bin. Das war eine antistalinistische Bewegung, irgendwo zwischen der SAP und SPD. Eine Bewegung, die mir intellektuell alles gegeben hat: Sie hat mich erzogen, mir Kultur gegeben, mir die Musik näher gebracht – mit Musik kam ich zu Hause wenig in Berührung. Vielleicht wurde für mich in der „Freien Deutsch-Jüdischen Jugend“ auch die Grundlage geschaffen, von der aus ich dann in den Buchhandel gegangen bin.

War auch Ihr Elternhaus linksgerichtet?

Nein, überhaupt nicht. Meine Eltern waren vollkommene Kleinbürger.

Strenggläubige Juden?

Nein. Nur an Feiertagen. Meine Mutter hat ihren Gottesglauben am Freitagabend zum Ausdruck gebracht, aber auch nur zu Hause. Ansonsten waren meine Eltern typische, assimilierte, deutsche Juden.

Würden Sie sich heute auch noch als „links“ bezeichnen?

Ich bezeichne mich heute immer noch als Sozialist. Obwohl das Wort „Sozialismus“ viele Varianten hat und auch viel negatives geschehen ist mit diesem Begriff. Die Nazis bezeichneten sich zum Beispiel ja auch als Nationalsozialisten.
Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Zukunft nicht im Kapitalismus liegt. Dass der Kapitalismus sich langsam ändern wird und muss, damit eine sozialere Gesellschaft entstehen kann. Sonst wird die Weltkugel die Menschen bald nicht mehr ertragen.

1939 sind Sie in Bolivien angekommen. Wie ist Ihnen die Flucht gelungen?

Ich konnte 1937 zum Glück Deutschland verlassen. Über Luxemburg kam ich nach Holland, in ein Lager für jüdische Jugendliche, die dort ein Handwerk lernen konnten. Ich bin Schlosser geworden und habe dort auch gearbeitet. Unterdessen hat meine Mutter meinen Vater aus dem KZ Buchenwald rausholen können und ein Visum für beide nach Bolivien ergattert. Meine Eltern sind über Italien nach Bolivien ausgewandert, und meine Mutter hat mir von dort mein Visum nach Holland geschickt. Ich bin dann mit einem der letzten Schiffe nach Bolivien gefahren, die noch auslaufen konnten, bevor die Deutschen Holland besetzten.

Ihre Mutter war also die rettende Kraft für Sie und Ihren Vater.

Das war sie. Ich habe sie später nicht ausführlich genug befragt, wie ihr das gelingen konnte. Ich weiß es nicht. Während mein Vater im KZ war, hat sie sich ganz kleinbürgerlich durchgewurschtelt. Wir hatten kein Geld, also hat sie Zimmer vermietet.
Sie hat mir erzählt, dass sie für mich vor dem bolivianischen Präsidentenpalast anstand, um ein Visum zu erhalten. Dort mussten damals alle für ein Visum anstehen. Meine Mutter ist aus der Schlange herausgetreten und einfach hineingegangen. Sie sprach einen der Offiziere in einem Zimmer an. Dieser Mann war – wie sich herausstellte – kein Offizier, sondern der damalige Präsident Busch. Meine Mutter konnte damals noch kein Spanisch, also sagte sie auf Deutsch: „Für meinen Sohn!“ Und Busch hat dem nächststehenden Offizier die Anweisung gegeben, ein Visum auszustellen.
Später wurde auf Einfluss deutscher, nazistischer Kreise die Grenze für Juden dichtgemacht. Ich konnte nach meiner Ankunft in Bolivien weder für meinen engsten Freund noch für andere ein Visum beschaffen. Viele aus dem Jugendlager in Holland hatten mir Papiere mitgegeben, weil ich ein Visum für sie besorgen sollte. Aber ich habe es nicht geschafft. Legal gab es damals keine Visa mehr für Juden, und Geld und Beziehungen für illegale Visa hatte ich nicht. Mein bester Freund ist später umgekommen. Das war sehr schlimm für mich.

Welche Vorstellung hatten Sie damals von Bolivien?

Gar keine. Nichts. Null. Das Einzige, was ich wusste, war, dass es da einen Chaco-Krieg gegeben hatte. Ich kam übrigens in kurzen Hosen an, das war damals unmöglich in Bolivien. Damit konnte man sich nicht auf die Straße trauen. Mein Vater musste mir sofort neue Hosen kaufen. Ich habe mich dann aber schnell ins bolivianische Leben eingefunden. Ich arbeitete die ersten fünf Jahre in Minen, bis ich die Gelegenheit bekam, Buchhändler zu werden.

Sind Sie in diesen ersten Jahren in Bolivien auch politisch tätig geworden?

Ich war Anti-Faschist. Die wenigen Emigranten der kommunistischen und sozialdemokratischen Partei, die es damals in Bolivien gab, und die jüdische Jugend haben zusammen kleine Aktionen unternommen. Aktionen, die ich heute lächerlich finde. Wir hingen Plakate auf oder verklebten die Schlösser an den Geschäften deutscher Nazis oder vergifteten deren Hunde. Aber ins politische Leben direkt eingegriffen haben wir eigentlich nicht. Es waren idiotische Aktionen, sie waren ein Ausdruck der Hilflosigkeit dem großen politischen Geschehen gegenüber. Wir wollten dem Feind etwas entgegensetzen. Übrigens gab es auch faschistische Bolivianer. Es gab einen Versuch, Juden ins Chapare zu verschleppen und dort umzubringen. Deutsche hatten die Lastwagen dafür schon zur Verfügung gestellt. Denn die Masse der Deutschen in Bolivien, rund um die deutsche Schule und das Konsulat, war faschistisch. Aber natürlich lebten auch andere hier, Freimaurer zum Beispiel.

1945 haben Sie ihre erste Buchhandlung in Cochabamba eröffnet. War es leicht, Buchhändler zu werden?

Nein, leicht nicht. Aber mir wurde geholfen. Angefangen habe ich mit einer Leihbücherei für deutschsprachige Literatur. Damals gab es vier deutsche Leihbüchereien in Bolivien, zwei in La Paz und zwei in Cochabamba. Alle vier Betreiber konnten davon leben, so viele Leute haben Deutsch gelesen! Heute ist es fast unmöglich, ein deutsches Buch zu verkaufen. Wenn ich die letzten fünfzig Jahre anschaue, muss ich sagen: Es gab tausend Schwierigkeiten. Während einer Diktatur wurden auf der plaza meine Bücher öffentlich verbrannt, und ich bin ins Gefängnis gekommen. Dort riefen junge Leute, die mich bewachten: „Wir sind Gestapo!“ Bei so vielen Schwierigkeiten, wie dieses Land sie hatte und immer noch hat, kann man das leider gar nicht anders erwarten.

Warum sind Sie ins Gefängnis gekommen?

Weil ich Bücher herausgegeben habe, die der Regierung nicht gefallen haben. Ich bin aber auch vorher x-mal angezeigt worden. Das kann man nicht ändern in einem Land, in dem die Politik nah an der Kultur ist und man mit Büchern deutlich machen kann, dass man nachdenken muss. Hier ist Denken gefährlich.

Diese ganz schwierige Phase war unter Banzers Militärdiktatur?

Auch die Zeit während der Revolution 1952 war gefährlich. Damals kam ein Teil der siegenden Partei MNR, die Nationalistische Revolutionäre Bewegung, aus der ganz rechten Ecke. Die MNR hat noch Anfang der 40er Jahre eine ganz wüste, antisemitische Zeitschrift herausgebracht, die sich gegen die jüdische Immigration stellte und sich mehr oder weniger für Hitler aussprach. Viele, die damals jung in die Partei eintraten, wurden in den 50ern wichtige Leute. Das hat schon weitergewirkt.

Wie kam es, dass Sie trotz ihrer politisch unbequemen Haltung doch noch viel Ehrung erfahren haben?

Man hat den Idealisten in mir anerkannt, anders kann ich mir das nicht erklären.

Haben Sie versucht, bolivianische Literatur auch in anderen südamerikanischen Ländern bekannt zu machen?

Ich habe es versucht, aber das ist nicht so einfach. Ich organisierte Literaturausstellungen in Argentinien und Mexiko, versuchte auf diese Weise, unsere Bücher dort zu verkaufen. In Ecuador zum Beispiel gibt es einen guten Verlag, der nur Klassiker herausbringt, weil sich nur die auch in Peru und Bolivien verkaufen lassen. Moderne ecuadorianische Literatur würde der außerhalb des eigenen Landes nicht loswerden. Natürlich lässt sich Vargas Llosa überall verkaufen, aber darum geht es nicht.

In Zeiten der Diktatur kann ein Buch gefährlich sein, wie ist das heute in Bolivien. Ist ein Buch noch wichtig?

Im bolivianischen Parlament zum Beispiel muss jeder Abgeordnete 50 Pesos im Monat in einen Fond einzahlen, mit Hilfe dessen Bücher gedruckt werden. Das war früher so, und das ist auch heute noch so. Natürlich werden nur Bücher von Parlamentariern gedruckt, aber es sind ganz unterschiedliche Bücher, politische Bücher aber auch Gedichtbände. Können Sie sich vorstellen, dass in Deutschland die Abgeordneten 50 Euro monatlich in einen Literaturfond zahlen? Ich kann mir das in Deutschland nicht vorstellen. Hier aber ist das so, daran sehen Sie, dass man dem Buch noch einiges zutraut in Bolivien.

Interview: Ellinor Krogmann

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