Brasilien | Nummer 489 - März 2015

Fliegende Flüsse, umgestülpte Wälder und die trockene Stadt

Die Wasserkrise im brasilianischen Südosten betrifft rund 77 Millionen Menschen und hat ihre Ursachen in der Inwertsetzung anderer Regionen

In den Millionenmetropolen Rio de Janeiro und vor allem São Paulo erreicht die Trinkwasserversorgung einen historischen Tiefpunkt. Aber was könnte das mit doppelt umgestülpten Wäldern und fliegenden Flüssen zu tun haben?

Christian Russau

Die 20-Millionen-Metropole des Großraums São Paulo ächzt unter der schlimmsten Wasserknappheit seit 80 Jahren. Weite Teile der Bevölkerung werden zeitweise von der Wasserversorgung abgeschnitten. Das größte der Reservebecken des Großraums, Cantareira, war Ende vergangenen Jahres auf den niedrigsten Stand aller Zeiten gefallen, 3,3 Prozent. Die Regenfälle während des Karnevals haben den Wasserpegel wieder leicht steigen lassen, aber trotz Regenzeit reicht das nicht, um die Reservoirs nachhaltig wiederaufzufüllen. Expert*innen taxieren den Zeitraum der kompletten Austrocknung binnen weniger Monate. Für Rio de Janeiro sieht es ähnlich düster aus.
All dies steht im Kontrast zur Aussage des Gouverneurs des Bundesstaats von São Paulo, Geraldo Alckmin, der erst am 5. Oktober im ersten Wahlgang der Gouverneurswahlen wieder gewählt worden war. „Es fehlt in São Paulo kein Wasser und es wird auch kein Wasser fehlen!“, hatte Alckmin gebetsmühlenhaft betont. Nun räumt er erste Engpässe ein, und auch der Wasserversorger Sabesp sieht sich in Erklärungsnot, während er die zunehmenden Ausfälle mit Druckschwankungen im Leitungsnetz begründet. Ein führender Sabesp-Manager hat bereits vor dem totalen Kollaps des Versorgungssystems gewarnt und dazu geraten, Urlaub für alle zu erklären: „Erklären wir allgemeinen Urlaub. Verlasst São Paulo, da es hier kein Wasser gibt, nicht für die Dusche, nicht für den Hausputz, wer kann, kauft sich Flaschen, Mineralwasser. Wer das nicht kann, sollte Duschen gehen bei der Mutter in Santos, Ubatuba, Águas de São Pedro, was weiß ich wo, hier wird das nicht gehen“.
Es war die UN-Berichterstatterin für das Recht auf Wasser, Catarina Albuquerque, die unlängst klargestellt hatte, dass „nicht der heilige Petrus“ für die Wasserkrise in São Paulo verantwortlich sei, sondern der Bundesstaat. Die Regierung Alckmin habe es versäumt, die entsprechenden Maßnahmen wie Einsparungen, Effizienzgewinne und rechtzeitige Investitionen in Instandhaltung und Modernisierung zu ergreifen. Leitungsverluste von rund 30 Prozent stehen mit den langjährigen Millionengewinnen des börsennotierten Unternehmens Sabesp im Einklang.
Indessen ist die Wasserkrise, wie sie in Brasilien mittlerweile allenthalben heißt, ein großflächigeres Phänomen. Waren es im September noch 24 Millionen Menschen, die als von der gegenwärtigen Wasserkrise betroffen galten, so sind es mittlerweile 77 Millionen Menschen im neuen Trockenzirkel von São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais. Dies sind mehr von der Trockenheit betroffene Menschen als dies im semi-ariden Nordosten des Landes der Fall ist.
Doch um die gegenwärtige Trockenheit in ihren Dimensionen und möglichen Ursachen zu begreifen, scheinen noch drei in der Debatte bisher eher vernachlässigte Faktoren von Belang zu sein: Denn inwieweit könnte die derzeitig extreme Wasserknappheit in São Paulo mit der zunehmenden Inwertsetzung des Atlantischen Regenwalds, der Trockensavanne des brasilianischen Cerrado sowie Amazoniens zusammenhängen? Malu Ribeiro von der Nichtregierungsorganisation SOS Mata Atlântica weist auf den Verlust des Atlantischen Regenwalds als Mitverursacher der gegenwärtigen Wasserkrise hin. Mittlerweile sind 93 Prozent der usrprünglichen Fläche der Mata Atlântica gerodet. Der Boden ohne Wald verliert seine Wasserspeicherfähigkeit, so dass Flüsse bei Starkregen schneller anschwellen, die Wassermassen gen Meer entfliessen und die unterirdischen Aquifere dadurch weniger Zufluss haben.
Altair Sales Barbosa, Wissenschaftler an der Universität PUC Goiás, verweist auf die Bedeutung der Rodung einer ganz anderen Region. Er fragt nach dem Zusammenhang zwischen der derzeitigen Dürre São Paulos und der Inwertsetzung der Trockensavanne des Cerrado. Durch die Inwertsetzung des Cerrados in den vergangenen Jahrzehnten mit Vieh- und Landwirtschaft, Monokulturen und Pflanzen, die nicht an den Cerrado natürlich angepasst sind, verändere sich die Landschaft, die Flora und die Fauna – und somit auch der Wasserhaushalt in der Cerradoregion und den darunter liegenden Aquiferen, die als Zuflüsse der Flüsse auch die Region São Paulos mit Wasser versorgen. Altair Sales Barbosa erklärt es wie folgt: Die Trockensavanne des Cerrado bestehe seit 40 bis 65 Millionen Jahren aus einer an die klimatischen Verhältnisse vor Ort extrem angepassten Vegetation und diese wiederum stehe in Harmonie zur dort vorherrschenden Tierwelt. Eingriffe in dieses Zusammenspiel drohen das gesamte System zu kippen, so Barbosa. Der Cerrado zeichne sich vor allem dadurch aus, dass wegen der langen Trockenzeiten ein Großteil des in der Region gespeicherten Wassers sich im Erdreich anfände und dort zum einem Großteil in den Wurzeln der im Cerrado endemischen Bäume gespeichert sei.
Der Trockenwald des Cerrado zeichnet sich durch eine besondere Charakteristik aus: Zweidrittel der Biomasse der Bäume befindet sich im Erdreich und wird deshalb auch als „umgestülpter Wald“ oder als „auf dem Kopf stehender Wald“ bezeichnet. Und dieses dort im Wurzelwerk gespeicherte Wasser, so Barbosa, dringe von dort auch in die unterirdischen Aquifere vor. Dieses sich im Gleichgewicht befindliche Modell des umgestülpten Waldes sei aber durch die fortschreitenden Monokulturen zunehmend in Gefahr – und das ganze System kippe. Soja, Eukalyptus und andere Monokulturen veränderten die Bodenstruktur, und das Wasser dringe nicht mehr so wie zuvor ins Erdreich und von dort auch nicht mehr in die Aquifere. Und somit sitzt – in brutaler, aber folgerichtiger Evidenz – São Paulo nun zunehmend auf dem Trockenen.
Einen weiteren Erklärungsansatz liefert Antonio Nobre vom nationalen Forschungsinstitut für Raumfragen INPE. Nobre sieht einen Zusammenhang der Wasserknappheit São Paulos mit der Rodung Amazoniens. Denn: Rodung in Amazonien bedeute weniger Verdunstung in Amazonien, weniger Wolken, die an den Anden hängen bleiben und von dort gen Süden gedrängt werden, wo sie sich dann abregnen und die Quellgebiete, der die São Paulo-Region mit Wasser versorgenden Wassereinzugsgebiete, mit eben diesem Grundstoff allen Lebens versorgen.
Welche Bedeutung hat demnach die Verdunstung in Amazonien? Und welche Bedeutung hat dann die zunehmende Inwertsetzung Amazoniens in Form von Tropenholzrodung, Viehwirtschaft, Monokulturen, Bergbau und Staudämmen?
Laut Antonio Nobre im Interview mit der brasilianischen Wirtschaftszeitung Valor Econômico hat die Rodung Amazoniens enorme Konsequenzen für das Klima der ganzen Region: Ein Quadratmeter Fluss- oder Meerwasser biete die Verdunstungsfläche von eben einem Quadratmeter. Im amazonischen Regenwald böten aber das vielschichtige, in die Höhe von bis zu 40 Meter reichende Blattwerk der Pflanzenwelt auf einem Quadratmeter Regenwaldbodens das Acht- bis Zehnfache an potentieller Verdunstungsfläche. Während ein Baum bis zu 300 Liter Wasser je Tag verdunsten könne, liege die Rate bei Weideland nur bei einem Achtel dieses Werts. Und hier zeige sich, so Nobre, die Bedeutung der sogenannten „Fliegenden Flüsse“. Der Begriff der rios voadores wurde von dem Meteorologen Jose Marengo geprägt. Fliegende Flüsse bezeichnen die Verdunstung von errechnet 20 Milliarden Tonnen Wasser in Amazonien jeden Tag. Zum Vergleich: Der größte Fluss der Welt, der Amazonas, speist täglich 19 Milliarden Tonnen Wasser in den Atlantik. Der Begriff der Fiegenden Flüsse bezeichnet demnach den Vorgang der täglichen Verdunstung zu Wolken von 20 Milliarden Tonnen Wasser durch Amazoniens Blattwerk. Von diesen regnen sich 50 Prozent in Amazonien selbst wieder ab und zehn Milliarden Tonnen ziehen gen Westen. An den sechstausend Meter hohen Anden werden sie blockiert und von dort nach Süden getrieben, bevor sie sich über dem Wassereinzugsgebiet auch des Großraums São Paulo abregnen. In den Sommermonaten ist wegen der höheren Temperaturen und Luftfeuchtigkeit die Regenrate der Fliegenden Flüsse im Südosten Brasiliens deutlich höher.
Wird nun aber die Verdunstung in Amazonien durch Inwertsetzung, sprich Rodung der Region gemindert, so mindert dies letztlich auch das Wasser für die Wassereinzugsgebiete der Millionenmetrolen von São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte. In den letzten 40 Jahren wurden in Amazonien im Durchschnitt drei Millionen Bäume je Tag gerodet. Greenpeace Brasilien errechnete daraus eine erschreckende Zahl von 2.000 Bäumen je Minute oder einer Gesamtzahl von 42 Milliarden Bäumen. Der Urspung der trockenen Stadt liegt also auch im Versiegen der Fliegenden Flüsse Amazoniens.

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