Chile | Land und Freiheit | Nummer 526 - April 2018

KEIN SELBSTMORD

Wie die Justiz im Fall von Macarena Valdés trotz Gegenbeweisen an ihrer These festhalten will

Im Dorf Tranguil in der Nähe von Panguipulli im Süden Chiles wurde die Umweltaktivistin Macarena Valdés vor mehr als eineinhalb Jahren tot aufgefunden. Dabei wirft das Vorgehen der Ermittlungsbehörden genauso viele Fragen auf wie die Umstände, unter denen sie starb. Lediglich die Bemühungen ihres Ehemanns und einiger Anwohner*innen scheinen die Einstellung der Ermittlungen zu verhindern.

Von David Rojas Kienzle

Rúben Collío Der Ehemann der toten Umweltaktivistin will weiter für die Aufklärung des Falls kämpfen (Foto: David Rojas Kienzle)

Rubén Collío sitzt an seinem Verkaufsstand in Panguipulli, einer Kleinstadt in den Ausläufern der Anden in der Región de los Ríos. Der freundliche Mann, der mit allen Kund*innen scherzt und schnackt, verkauft hier auf einem Markt selbst hergestellten Schmuck an Freund*innen, Dorfbewohner*innen und Tourist*innen. Collío ist Witwer, seine Frau Macarena Valdés – von Freund*innen La Negra genannt – wurde 2016 tot aufgefunden, scheinbar erhängt in ihrem eigenen Haus in Tranguil.

Das Dorf ist nur schwer als solches zu bezeichnen, eher handelt es sich um eine Schotterpiste, die von der Straße zwischen Coñaripe und Liquiñe abgeht und an der Häuser aufgereiht sind. Mehr Provinz geht kaum. Collío ist studierter Umweltingenieur, Mapuche und 2013 aus Santiago nach Tranguil gezogen, „um aus der Stadt rauszukommen“, wie er sagt.

Panguipulli ist eine Touristenhochburg. Jeden Sommer strömen tausende Chilen*innen in die Kleinstadt und die Dörfer der Gegend, um die Seen- und Berglandschaft zu genießen und der drückenden Hitze Santiagos und der anderen weiter nördlich gelegenen Städte zumindest zeitweise zu entkommen. Die Kommune ist arm, die Ärmste in der Regíon de los Ríos. Seitdem die Ausbeutung der ursprünglichen Wälder nicht mehr funktioniert, weil diese fast vollständig kahlgeschlagen wurden, ist jedes Mittel, das ökonomischen Aufschwung verspricht, recht. Die Generierung von Elektrizität ist ein solches Mittel. Allein im Gebiet der Kommune Panguipulli gibt es nach Angaben des Netzwerks der Umweltorganisationen von Panguipulli acht Wasserkraftprojekte, dazu seien mehr als 300 Wasserkonzessionen an private Akteur*innen vergeben worden.

Am 22. August 2016 fand ihr damals elfjähriger Sohn Macarena Valdés erhängt in ihrem Haus auf.

Macarena Valdés und Rubén Collío waren aktiv gegen eines dieser Wasserkraftprojekte, ein Minilaufwasserkraftwerk, das vom österreichischen Unternehmen RP Global und der chilenischen Firma Saesa geplant und gebaut wurde. Mit ihrem Protest begannen auch die Probleme für die Familie mit vier Kindern. Die Gemeinde ist gespalten in Befürworter*innen des Projekts und Gegner*innen. Das Wasserkraftwerk verspricht Jobs und Geld, beides rar in Tranguil, besonders im Winter.

Am 22. August 2016 fand ihr damals elfjähriger Sohn Macarena Valdés erhängt in ihrem Haus auf. Sie muss gestorben sein, während ihr anderer – zum damaligen Zeitpunkt eineinhalbjähriger – Sohn im Haus war. Nur einen Tag zuvor waren sie und Collío von Unbekannten wegen ihres Einsatzes gegen das Wasserkraftwerk bedroht worden. „Am 21. haben sie dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem wir wohnen, gedroht. Wenn er uns nicht rauswerfen würde, würde uns etwas sehr Schlimmes passieren, weil es Leute gebe, die uns Schaden zufügen wollten. Am nächsten Tag fand man Macarena erhängt in unserem Haus auf, ohne Erklärung”, so Collío in einem Interview mit dem Radio UChile.

Was danach passierte, ist eine Geschichte von Schikane, Repression und offensichtlichem Unwillen der Justiz, dem Verdacht der Ermordung von Macarena Valdés nachzugehen. Denn die Staatsanwaltschaft in Panguipulli, die die Ermittlungen übernahm, legte sich schnell auf die These fest, dass Valdés Suizid begangen habe. Obwohl es aus ihrem Umfeld keinerlei Anzeichen gab, dass sie depressiv, gar suizidal gewesen sei, und trotz der bekannten Drohungen gegenüber ihrer Familie.

Und nicht nur das: Nach Valdés’ Tod wurde gegen ihren Mann Rubén Collío ermittelt, weil er angeblich dazu aufgerufen habe, Lastwagen anzuzünden. In Chile, wo die Berichterstattung über die Auseinandersetzungen zwischen Mapuche, Großgrundbesitzer*innen und Staat sich vor allem auf direkte Aktionen militanter Mapuche konzentriert, ist das ein schwerwiegender Vorwurf. „Das war eine Lüge. Im September 2016, kurz nachdem La Negra umgebracht wurde, haben sie angefangen, gegen mich zu ermitteln. Und warum? Damit sie eine Begründung dafür hatten, im Oktober mit Gewalt die Hochspannungsleitungen zu installieren. Weil es ja einen Terroristen gab, eine Bedrohung. Es kamen dann 60 Polizisten mit Helmen, mit Schutzschildern, acht Streifenwagen und einem gepanzerten Fahrzeug, das sich neben meiner Haustür positioniert hat. Das alles um mich und meine vier Söhne zu kontrollieren.“ Nach Angaben von Collío war die ganze Aktion zu allem Überfluss noch illegal. „Die Staatsanwaltschaft hatte keine Ahnung, dass das passiert. Und sie hatten nicht mal die Erlaubnis, die Kabel zu installieren. Das ist die Art und Weise, wie die Carabineros in den Bergen agieren.“

Die Justiz hat von sich aus keinerlei Anstrengungen unternommen, die Hintergründe aufzuklären.

Collío und andere Anwohner*innen beklagen zudem, dass die Bedrohungen auch nach dem Tod von Macarena Valdés nicht aufgehört haben. Es gab anonyme Anrufe, in denen gedroht wurde, dass man mit ihnen das Gleiche machen würde wie mit Macarena Valdés. Auch das weitere Verhalten der Polizei wirft Fragen auf. „Carabineros haben Leute besucht und ihnen sehr freundlich und nett empfohlen, sich nicht mehr mit mir zu treffen, weil meine Frau ja umgebracht worden sei. ‚Passen Sie auf. Nicht, dass Ihnen das Gleiche passiert‘“, berichtet Collío. Was als freundlicher Hinweis interpretiert werden kann, könnte genauso ein Einschüchterungsversuch gewesen sein.

Die Justiz, vor allem die Staatsanwaltschaft Panguipulli, hat von sich aus keinerlei Anstrengungen unternommen, die Hintergründe von Valdés’ Tod aufzuklären. In einer ersten Autopsie des rechtsmedizinischen Dienstes des Justizministeriums (SML) in Valdivia wurde festgestellt, dass die Todesursache „Erstickung durch Erhängen“ gewesen sei und, dass es keine Anzeichen auf Einwirkung Dritter gegeben habe. Deswegen versuchte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen bereits früh einzustellen.

Collío und seine Unterstützer*innen glaubten derweil nie an die Selbstmordthese. Sie beauftragten eine weitere vom SML aus Valdivia unabhängige Autopsie. Beauftragt wurde Luís Ravanal, der bereits in anderen symbolträchtigen Fällen gerichtsmedizinische Untersuchungen vorgenommen hatte. Unter anderem erwirkte er 2008 mit einem Buch die erneute Autopsie Salvador Allendes, um endgültig festzustellen, wie dieser umgekommen war. Am 25. September 2017 – also über ein Jahr nach Valdés’ Tod – wurde ihre Leiche exhumiert, um sie einer zweiten Autopsie zu unterziehen.

Die Ergebnisse waren schockierend, aber wenig überraschend. Anfang Februar 2018 kam Ravanal zu dem Schluss, dass sich Valdés nicht umgebracht haben konnte. „Es gab keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sie am Leben war, als sie erhängt wurde. Der Hals – also beim Erhängen der wichtigste Bereich – wird beim lebendigen Erhängen verletzt. Unter solchen Umständen gibt es immer Merkmale: Hinweise auf Blutungen, Verletzungen im Gewebe, in den Organen. Diese Anzeichen fehlen hingegen, wenn ein Erhängen simuliert werden soll“, so Luis Ravanal gegenüber Diario UChile.

“Es gab keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sie am Leben war, als sie erhängt wurde.”


Die Untersuchung wirft ein schlechtes Licht auf den Gerichtsmediziner Enrique Rocco aus Valdivia, dessen Autopsieergebnisse nach Angaben von Radio Villa Francia bereits in zwei umstrittenen Fällen – einmal ein Gewerkschafter, einmal ein erhängter Gefangener – angezweifelt wurden.

Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren trotz alledem einstellen. „Beim ersten Mal kann man das ja noch verstehen. Als wir im August das Zweitgutachten beantragten, hatte die Staatsanwaltschaft die Akte aber schon geschlossen, wobei sie doch zwei Jahre zum Ermitteln haben. Sie haben nichts gemacht, keine Verhöre, nichts“, so Collío. „Mit der zweiten Autopsie haben wir belegt, dass Macarena aufgehängt wurde, nachdem sie gestorben war. Aber anstatt in einem Mordverdacht zu ermitteln, zweifeln sie weiter unsere Informationen an.“

Nun fordert die Staatsanwaltschaft zwei zusätzliche Gutachten, die allerdings genauso unabhängig finanziert werden sollen. Vier Millionen Pesos (mehr als 5.000 Euro) müssen Collío und seine Unterstützer*innen aufbringen, damit diese Untersuchungen durchgeführt werden können.
Die Staatsanwaltschaft wiederum hat weitere Anstrengungen unternommen, ihre Selbstmordthese zu stützen. So sollen nach Aussagen von Collío weitere Angaben zu Valdés’ Charakter gemacht werden. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass die Angehörigen mürbe gemacht werden sollen, damit es still um den möglichen Mord an Valdés wird.

Deswegen fordern Collío und Menschenrechtsorganisationen, dass die nationale Staatsanwaltschaft, vergleichbar mit der deutschen Bundesanwaltschaft, sich des Falles annimmt. Collío hatte sich im Februar mit dieser getroffen, bis dato gab es allerdings keine Anzeichen dafür, dass diese der Forderung nachkommt. Vermutlich hat dies auch mit dem Regierungswechsel zu tun. Die vergangene Regierung um Ex-Präsidentin Michelle Bachelet hatte noch ein lateinamerikanisches Abkommen zum Schutz von Umweltaktivist*innen vorangetrieben. Dass die neue Regierung dieses ratifiziert, ist unwahrscheinlich. Präsident Sebastián Piñera hat immer wieder sowohl in seinen Handlungen als auch in seinen Aussagen verdeutlicht, dass er fest auf der Seite von Unternehmen und deren Interessen steht.

In Panguipulli käme das Abkommen sowieso zu spät. Macarena Valdés ist tot und es scheint, dass die genauen Umstände ihres Todes nur aufgeklärt werden können, wenn die sozialen Bewegungen weiter Druck machen. Das Wasser­kraftwerk ist mittlerweile fertig gebaut. Strom lieferte es bis März allerdings nicht.

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