Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

Neues vom Shakespeare der Selva

Die “Geschichten vom Alten Antonio” sind eine gelungene Sammlung von Erzählungen des Subcomandante Marcos

Es ist nicht wichtig, ob der Alte Antonio tatsächlich existiert. Wichtig ist nur, daß er existieren könnte. Marcos erzählt die Geschichten eines Mannes “undefinierbaren Alters” mit einem “Gesicht gefurcht wie Zedernrinde”, um dem westlich geprägten Mexiko seine andere Hälfte vorzuführen: Das “tiefliegende Mexiko” der tausendjährigen indigenen Tradition, das vom modernen, aber letztlich “imaginären Mexiko” nie wahrgenommen werden wollte und immer unterdrückt wurde.

Markus Müller

Marcos will neben der literarischen Tradition der Moderne eines Fuentes oder Paz Platz schaffen für den Alten Antonio und die indigene Tradition. Das, was der Sozialanthropologe Guillermo Bonfil Batalla in seinem Buch “México profundo” (tiefliegendes Mexiko) wissenschaftlich zu beweisen suchte, will Marcos literarisch erreichen. Er wendet damit ein Prinzip an, das die Kulturwissenschaften in den letzten Jahren immer deutlicher herausgestellt haben: kulturelle und nationale Identität werden ganz wesentlich über Literatur vermittelt.
Eine der schönsten Geschichten im Buch ist die vom “Löwen und dem Maulwurf”. Man stelle sich folgende Situation vor: Ein Löwe blickt sein Opfer an. “Das Tier, das sterben wird, blickt einfach nur zurück. Es sieht nicht mehr sich selbst, es sieht das Bild des Tieres im Blick des Löwen, es sieht, daß es im Blick des Löwen klein und schwach ist.” Aber “der Maulwurf wurde blind, weil er, statt nach außen zu sehen, begann, sein Herz zu betrachten.” Obwohl die Götter den Maulwurf deswegen bestraften und unter die Erde verbannten, schließlich hatten nur sie “diese Fähigkeit, in sich hineinzublicken”, blickte der Maulwurf weiter in sich hinein und hat darum keine Angst vor dem Löwen.” Die Moral ist klar: “Der Mensch, der es vermag, sein Herz zu betrachten, sieht die Kraft des Löwen nicht”. “Man tötet den Löwen und die Angst, wenn man weiß, wohin man schauen muß.”
Obwohl jede der Geschichten Gleichnis-Charakter hat und indianische Lebensweisheiten bereithält, kommen diese weder platt pathetisch noch aufdringlich esoterisch daher. Statt dessen wahren sie genau jene Vieldeutigkeit, die zum Denken anregt. So scheint den Maya-Göttern die divine Unfehlbarkeit, die die jüdisch-christliche Tradition kennzeichnet, abzugehen. Anstatt sich von der eigenen Schuldhaftigkeit und Unzulänglichkeit erschlagen zu lassen, die einen angesichts der Allmächtigkeit Gottes überkommt, erlauben die Maya-Götter auch mal ein Schmunzeln. Sie streiten sich, schlafen und trinken pozol anstatt zu richten, ja sie irren sich sogar, und das nicht bei irgendwelchen Kleinigkeiten, sondern bei einer solch transzendenten Aktivität wie der Schöpfung des Menschen selbst. Zuerst versuchen es die Götter mit Goldmenschen, weil sie “besonders schön und hart” sind. Als sie feststellten, daß diese sich nicht bewegen, unternehmen sie einen zweiten Anlauf und schufen Holzmenschen. Diese arbeiten zwar, lassen sich aber von den Goldmenschen zwingen, für diese mitzuarbeiten. Errare divinum est, sagen sich die Götter, und so gelingt es ihnen schließlich im dritten Anlauf, die “wahrhaften Männer und Frauen” zu schaffen: die Maismenschen.
Marcos “klaubt schamlos zusammen, was die alten Maya-Mythen hergeben”, so die HerausgeberInnen im Editorial, und gesteht durchaus ein, ein “Plagiator” zu sein. Bei seiner Schöpfungsgeschichte zum Beispiel hat er aus der Maya-Bibel Popol-Vuh abgeschrieben und das Material auf die mexikanische Gesellschaft, aber nicht nur auf diese, zugeschnitten.

Literatur oder Politik

Marcos’ “Geschichten vom Alten Antonio” beinhalten ein Maß an Phantasie und Metaphorik, Vieldeutigkeit und ästhetischer Distanz zur Realität, das für literarische Werke typisch ist. Dennoch ist sein Interesse an den Mythen und deren literarischer Verarbeitung eher ein politisches, denn ein literarisches. Marcos will kein autonomes Kunstwerk schaffen. Sein Ziel ist vielmehr, Politik mit literarischen Diskursen anzureichern.
Wer die Texte mit ausschließlich literarischen Ansprüchen lesen will, täte ihnen sicherlich unrecht, denn sie “nur als ‘Märchen’ zu verstehen, würde ihnen den Entstehungshintergrund nehmen”, bemerken die Topitas in ihrem Editorial völlig zu recht. Der Autor selbst beugt einer solchen Lesart wirksam vor, indem er jeden Höhenflug in mythische Sphären abrupt in die chiapanekische Realität abstürzen läßt. Sie ist es, die mit ihren kindlichen Protagonisten Eva, Heriberto, Toñita und anderen den erzählerischen Rahmen für die “Geschichten vom Alten Antonio” abgibt. Denn eigentlich erzählt Marcos sie nicht uns, sondern den Kindern.

Subcomandante Marcos: “Geschichten vom Alten Antonio” Mit einem Vorwort von Elena Poniatowska. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1997, 160 Seiten.

KASTEN

Vom Schmerz als Bestandteil der Hoffnung

von Subcomandante Marcos

Es braucht viele Zutaten, sagte der Alte Antonio, damit das Brot, das viele das Morgen nennen, gebacken werden kann. Eine davon ist der Schmerz, fügt der Alte Antonio jetzt hinzu, während er einen Holzscheit im Herdfeuer zurechtrückt. Wir gingen in den Nachmittag hinaus, in dieses strahlende Licht nach einem Regen, mit dem der Juli die Erde grün anmalt, und Doña Juanita blieb im Haus zurück, um das Brot aus Mais und Zucker zuzubereiten, das sie hier marquesote nennen und das beim Servieren die Form einer Sardinenbüchse haben wird, derselben Büchse, die als Brotform diente.
Ich weiß nicht, seit wann der Alte Antonio und Doña Juanita ein Paar sind, und ich habe sie nie gefragt. Heute, an diesem Nachmittag in der Selva, spricht der Alte Antonio vom Schmerz als Bestandteil der Hoffnung, und Doña Juanita backt ihm ein Brot als Argumentationshilfe.
Es gibt Nächte, in denen eine Krankheit den Schlaf von Doña Juanita stört, und ihre Schlaflosigkeit erleichtert der Alte Antonio mit Geschichten und Spielen. Diese Nacht hat er ein grandioses Schauspiel inszeniert: Mit seinen Händen und dem Lichtschein des Herdfeuers spielend, zeichnet er ihr mit Schatten eine Unzahl der verschiedensten Tiere der Selva: Doña Juanita lacht über das nachtwandelnde Wildschwein, über das unruhige Rehkitz, den heiseren Wollhaaraffen, den eitlen Fasan und all die anderen Tiere, die die Hände und die Kehle des Alten Antonio auf die Leinwand ihrer Hüttenwände zeichneten. “Ich wurde nicht gesund, aber ich mußte viel lachen”, erzählt mir Doña Juanita. “Ich wußte nicht, daß auch Schatten lustig sind.”
An diesem Nachmittag buk Doña Juanita einen marquesote für den Alten Antonio. Nicht um ihm die fruchtlose nächtliche Medizin fröhliche Schatten zu danken. Auch nicht für ihn und seine Zufriedenheit…
Sondern Zeugnis davon abzulegen, daß der Schmerz, den man gemeinsam erleidet, Linderung ist und heiterer Schatten. Deshalb bereitet Doña Juanita das Maisbrot zu, in einer alten Sardinenbüchse, mit ihren Händen und dem vom Alten Antonio besorgten Feuerholz.
Und – damit es niemals vergessen werde: Zu heißem Kaffee aßen wir das Zeugnis des gemeinsamen Schmerzes von Doña Juanita und dem Alten Antonio, dieses Schmerzes, der zu Linderung und geteiltem Brot wurde…
Was ich euch erzählt habe, ereignete sich vor vielen Jahren, das heißt heute.

La Jornada vom 17. Juli 1997

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