Lateinamerika | Nummer 365 - November 2004 | USA

Raus aus der Ethno-Nische

Latinos im US-Kino

Seit ein paar Jahren ist von der kreativen Krise des Hollywood-Kinos die Rede. Bei vielen US-Mammutproduktionen, die weltweit in die Kinos gepuscht werden, scheint es, als stünde der bombastische Technikaufwand in umgekehrtem Verhältnis zu den dürftigen, retortenhaften Storys. Entsprechend kommt dem Zelluloidgiganten jede Vitalitätsspritze gerade recht, sei es von außerhalb des Landes, sei es von Seiten der in den USA lebenden ethnischen Minderheiten. Zur Zeit schwimmen die Latinos auf einer ungeheuren Popularitätswelle. Wohl kaum zuvor in der Geschichte Hollywoods wurden spanisch klingende Namen so hoch gehandelt wie heute.

Bettina Bremme

Bis in die siebziger Jahre war Lateinamerika in US-Filmen vorwiegend als Projektionsfläche folkloristischer oder rassistischer Stereotype präsent. Das Alltagsleben der in den USA lebenden Hispanics führte abseits von Spotlights und Starrummel ein Schattendasein. Was die Rollenpalette anging, waren – abgesehen von spektakulären Ausnahmen wie Anthony Quinn oder Rita Hayworth – die meisten Hispanic-KünstlerInnen auf klischeehafte Rollen festgelegt. So klagt die Schauspielerin Dyana Ortelli in dem 1991 erschienenen Buch Hollywood Hispanic von George Hadly-García: „Ich bin die Stereotype leid, diese Drehbücher über arme Leute und heldenhafte Kämpferinnen in den Chicano-Stadtteilen. Einige meinen, ich hätte Glück, weil ich viel zu tun habe. Ich habe Drogenhändlerinnen gespielt und eine arme Mutter aus einem barrio; dann die anständige, aber arme Verlobte eines armen Chicano-Boxers, eine Prostituierte in Tijuana, eine arme mexikanische Bäuerin, eine obdachlose Bettlerin in den Straßen von Tijuana und die leidende Mutter eines kriminellen Mitglieds einer Gang im Chicano-Viertel… Alle arm, alle ungebildet, und die Mehrzahl von ihnen hieß María.“

Licht- und Schattenseiten des „American Dreams“

Seit den achtziger Jahren sind Hispanics dabei, sich in Hollywood als RegisseurInnen Raum zu schaffen. Sie taten dies zunächst häufig mit Filmen, die etwas mit ihrem eigenen Background zu tun haben. So erzählt 1995 der Chicano Gregory Nava mit Mi familia ein Jahrzehnte umspannendes Epos vom langsamen und bescheidenen Aufstieg einer mexikanischen Immigrantenfamilie. Aus einem progressiven, gesellschaftskritischen Blickwinkel heraus werden Facetten der Alltagskultur beleuchtet: das Milieu der unteren Mittelklasse, in denen Barbecue-Idyll und Bandenkriminalität nebeneinander existieren. Der Kampf junger Frauen um eine eigenständige Rolle. Die Situation der Flüchtlinge aus Mittelamerika, die in den Siebzigern und Achtzigern zu den neuen Parias der US-Gesellschaft werden. Und last but not least die fortbestehende Fremdheit zwischen Anglos und Hispanics im angeblichen Schmelztiegel USA.
Ähnlich wie zuvor Italoamerikaner wie Francis Ford Coppola oder Afroamerikaner wie Spike Lee, fangen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Mexikaner an, ihre Variationen des „American Dreams“ mit all seinen Licht- und Schattenseiten auf die Leinwand zu bringen. So meint der mexikanische Regisseur Alfonso Arau, der nach dem Erfolg seines Films Como agua para chocolate nach Hollywood kommt, um mit A walk in the clouds (1995) die Saga einer kalifornischen Weinbauernfamilie zu inszenieren: „Die mexikanische Community in den USA wird immer mächtiger. Wir werden in Zukunft viele derartige Filme sehen.“
Fast zeitgleich mit Arau bekommt der junge, in den USA geborene Regisseur Robert Rodríguez den Auftrag, mit einem Riesenetat in Hollywood eine Fortsetzung seines Low-Budget-Überraschungserfolges El Mariachi zu drehen. Das Ergebnis, der Film Desperado (1995), ist eine poppige Gewaltballade, ein lustvolles Geklimper auf der Klaviatur populärer Mythen. Zu letzteren gehören auch rassistische Klischees über Mexiko, die zwar mit schriller Ironie präsentiert, aber gleichzeitig genussvoll ausgewalzt werden. Im Gegensatz zum politischen Engagement der Regisseure des Ende der sechziger Jahre entstandenen Chicano Cinema, das sich eher als Gegenprojekt zum Hollywood-Mainstream konstituierte, möchte ein Regisseur wie Rodríguez primär unterhalten und Kassenerfolge landen. Stilistisch und inhaltlich orientiert er sich eher an Regisseuren wie seinem Freund Quentin Tarantino.
Der – wenn auch für Hollywood-Verhältnisse recht bescheidene – Aufschwung der Hispanic-Themen bringt ab Ende der Achtziger unter anderem eine Reihe von Musikfilmen recht unterschiedlicher Qualität hervor (La Bamba, Mambo Kings, Salsa). Ein weiterer Trend sind Filme über die Jugendkultur in den Städten, wie etwa Mi vida loca (1993) von Alison Anders, der die Geschichte einer Mädchengang im Latino-Stadtteil Echo Park von Los Angeles erzählt. Bei etlichen dieser Filme führen allerdings keine Hispanics, sondern Anglos bzw. FilmemacherInnen mit einem vollkommen anderen kulturellen Hintergrund Regie, wie etwa die gebürtige Inderin Mira Nair, deren Film The Perez Familiy“ (1995) unter kubanischen Emigranten in Florida spielt.
Auch progressiv engagierte Regisseure wie Robert Redford (Milagro, 1988) oder John Sayles (Lone Star, 1996) produzieren Filme, bei denen Hispanics im Vordergrund stehen. Beim erstgenannten Film geht es um den fantasievollen Kampf von DorfbewohnerInnen gegen Grundstücksspekulanten, beim zweiten um die komplexen Verflechtungen und das Verwischen kultureller Grenzen der BewohnerInnen der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko. Steven Soderberghs eindrucksvoller Film Traffic (2000) entwirft eine Landkarte des Drogenhandels und der wechselseitigen Abhängigkeiten auf beiden Seiten der Grenze.

Von der Dienstmädchen-Darstellerin zum Superstar

In dem bereits erwähnten Film Mi familia von Gregory Nava (1995) ist in der Rolle einer jungen Einwanderin namens María, die sich in Los Angeles als Kindermädchen verdingt, eine gewisse Jennifer López zu sehen. Allerdings hat deren Auftritt in La familia – ungeschminkt und mit geflochtenen Zöpfen – rein gar nichts mit dem Image der Jennifer López von heute zu tun. Diese darf nämlich mittlerweile in Hollywood von der Polizistin bis zur Event-Managerin so ziemlich alles spielen. Die wenigsten Hispanics machen so steil Karriere in der US-Unterhaltungsindustrie wie „die López“. Allerdings ist, wenn man Interviews mit KollegInnen von ihr liest, offenkundig, dass sich die meisten danach sehnen, ebenfalls aus der „Ethno“-Nische auszubrechen und, wie ihre angelsächsischen KollegInnen auch, eine breitgefächerte Rollenpalette verkörpern zu dürfen.
Auch die meisten FilmemacherInnen wollen nicht immer nur Filme über ihre Community drehen. Etlichen Hispanics ist es mittlerweile auch tatsächlich gelungen, sich innerhalb des Hollywood-Mainstreams zu etablieren, siehe Robert Rodríguez. Ein anderer Vertreter des schrillen Horrors ist der Mexikaner Guillermo de Toro. Dessen Filme stecken allerdings – auch wenn sie, wie sein jüngstes Werk Hellboy, in den USA inszeniert sind – voller chiffrierter Anspielungen auf die Kultur seines Heimatlandes.
Der Mexikaner Alfonso Cuarón hatte 2001 in Mexiko mit Y tu mamá también einen sehr originellen, schamlos offenen Film über Jugendliche, Sex und Tod gedreht. Nach dem internationalen Überraschungserfolg dieses Films ging Cuarón in die USA, wo er bereits zuvor mehrfach gearbeitete hatte, und drehte als Auftragsarbeit die – von vielen KritikerInnnen überschwänglich gelobte – dritte Folge von Harry Potter.

Mit 21 Gramm zu den Yankees

Auch Alejandro González Iñárritu, der Regisseur von Amores Perros, folgte nach dem Welterfolg dieses Films dem Lockruf Hollywoods und inszenierte seinen nächsten Film auf Englisch und in den USA. Das Melodram 21 Gramm wurde im letzten Jahr als einer der großen Erfolge des US-Independent-Kinos gefeiert und für mehrere Oscars nominiert.
Ursprünglich hatte González Iñárritu das Drehbuch auf Spanisch geschrieben und wollte den Film in Mexiko drehen. Doch die Sirenenklänge aus dem Norden waren stärker. In einem Interview mit der spanischen Zeitung El País verwehrte sich González Iñárritu trotzig gegen Kritik an seiner Entscheidung: „Denjenigen in Mexiko, die mir vorwerfen, ich hätte meine Seele an die Yankees verkauft, weil ich nach Hollywood gegangen bin, kann ich nur sagen: Wenn dies Korruption ist, so gefällt sie mir. Ich habe mich noch nie so frei und unabhängig gefühlt“.
Die Abwanderung vieler mexikanischer Filmleute Richtung USA wird in der öffentlichen Meinung nicht gern gesehen. Für besondere Polemik sorgte 2003 der Film, mit dem sich die seit Jahren in Hollywood ansässige mexikanische Schauspielerin Salma Hayek (Desperado) ihren Lebenstraum erfüllte: Sie verkörperte Frida Kahlo auf der Leinwand.
Der Film, bei dem Hayek zudem als Koproduzentin agierte, wurde von der US-Regisseurin Juliet Taymour größtenteils mit nordamerikanischen SchauspielerInnen besetzt und auf Englisch gedreht. Frida brachte Hayek in Hollywood eine Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin, in ihrem Heimatland Mexiko jedoch viel Protest und Empörung ein. Schließlich handelt es sich bei Frida Kahlo nicht um irgendwen, sondern um die Ikone des progressiven, kreativen und mestizischen Mexikos. Laut El País bezeichnete der Direktor des Movimiento México, Olin Tezcatlipoca, den Film als „Beleidigung“ für sämtliche MexikanerInnen, weil Salma Hayek „zwei Europäer unter Vertrag genommen“ habe, um die mexikanischen Wandmaler Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros darzustellen.

MexikanerInnen zieht es nach Hollywood

Wenn in diesem Artikel fortlaufend von mexikanischen Filmleuten die Rede ist und kaum von solchen aus anderen lateinamerikanischen Ländern, so liegt dies schlicht und einfach daran, dass diese im Hollywood-Kino ungleich präsenter sind als ihre KollegInnen. Zwar gibt es auch etliche südamerikanische RegisseurInnen in den USA, wie beispielsweise die gebürtige Kolumbianerin Patricia Cardoso, deren Film Echte Frauen haben Kurven im Frühjahr 2004 in den deutschen Kinos startete. Auch etliche argentinische oder brasilianische Regisseure wie Luis Puenzo (Old Gringo), Hector Babenco (Der Kuß der Spinnenfrau) oder Bruno Barreto haben immer wieder Abstecher in die USA unternommen. Gerade startet mit dem Che-Guevara-Film Diarios de motocicleta, bei dem der Brasilianer Walter Salles Regie geführt hat und der US-amerikanische Schauspieler Robert Redford als treibende Kraft agierte, eine „trans-amerikanische“ Produktion in den Kinos. Diese zahlreichen Beispiele ändern allerdings nichts daran, dass die südamerikanische Kinoproduktion viel stärker Richtung Europa ausgerichtet ist, während die mexikanischen FilmemacherInnen, wie Millionen ihrer Landsleute, bevorzugt Richtung Norden abwandern.
Zur Zeit wirbelt eine filmerische Satire zum Thema Latinos in den USA viel Staub auf beiden Seiten des Tortilla-Vorhanges auf. Un día sin mexicanos (Ein Tag ohne Mexikaner) heißt das Erstlingswerk des mexikanischen Regisseurs Sergio Arau, der seit sechs Jahren in Los Angeles lebt. In dem Film sind von einem Tag auf den anderen sämtliche der 14 Millionen in Kalifornien lebenden Hispanics auf mysteriöse Weise vom Erdboden verschwunden. Unter den Gringos macht sich Panik breit. Wie sollen sie überleben, so ganz ohne Kindermädchen, Gärtner, Taxifahrer, KellnerInnen? Die Rückkehr der Latinos wird zum obersten Staatsziel erklärt. „Kehrt zurück, Freunde“, flehen Spruchbänder. – Bleibt zu hoffen, dass der eine oder andere US-Politiker trotz Wahlkampf die Zeit findet, sich den Film zu Gemüte zu führen. Die mexikanische NGO Foro Tijuana Tercera Nación hat jedenfalls Un día sin mexicanos am Strand von Tijuana auf riesigen Leinwänden aufgeführt, in Sicht- und Hörweite zu den Grenzbefestigungen der USA.

Weiteres zu Hispanics und dem Bild von Lateinamerika im US-Kino ist nachzulesen in Bettina Bremmes Buch MOVIE-mientos. Der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs (318 Seiten, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2000).

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