Kultur | Nummer 473 - November 2013

„Wir machen keine Paraden, wir machen Lärm!“

Bate-bola – der etwas andere Karneval Rio de Janeiros

Die jüngsten Straßenproteste Brasiliens sind in aller Munde. In den Vorstädten Rio de Janeiros lebt noch eine weitere Form des Protests gegen die etablierte Ordnung – und das seit mehr als 100 Jahren. Es ist der kulturelle und symbolische Widerstand der bate-bolas, der inoffiziellen chaotischen Version des Karnevals. Sie fordern den Ordnungs- und Kontrolldrang der Regierung und der Polizei heraus und ziehen dadurch den Missmut dieser auf sich. Ein Interview mit dem brasilianischen Filmemacher und bate-bola Felipe Bragança.

Interview: Caroline Kim

Worum handelt es sich bei der Bewegung der Bate-bolas?
Schon bevor in den 1920er Jahren der Karneval offiziell als nationale Feierlichkeit anerkannt wurde, gingen die Menschen vor religiösen Feiertagen auf die Straße, um zu feiern, zu tanzen und zu singen.
Die bate-bolas sind informelle Bewegungen, die sich aus diesen rituellen Volksfesten ergeben haben und in der Tradition der Nachkommen der ehemaligen Sklaven und Sklavinnen stehen.

Wie entstanden die Gruppen der bate-bolas?
Interessanterweise passierte damals etwas, was sich heute auf ganz ähnliche Weise wiederholt: Das Chaos der Volksfeste und das Feiern der afro-brasilianischen Traditionen war der damaligen Regierung ein Dorn im Auge und so versuchte sie, die Bewegung zu verbieten, um die Stadt zu organisieren und zu kontrollieren. Und das ist heute das Gleiche wie damals. Sie wollen die Stadt organisieren und zwar nach ihren Vorstellungen.
Besonders jetzt vor den kommenden Mega-Events – Fußballweltmeisterschaft 2014 im ganzen Land und den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro – wollen sie, dass alles geordnet zugeht.
Früher verlagerten sich die Feste vom Stadtzentrum Rios in die Vororte, um dem Verbot zu entgehen. Dort wurde nicht so stark von der Polizei kontrolliert. Um sich zu schützen und nicht erkannt zu werden, begannen die Menschen, sich in Gruppen zu organisieren, Masken zu tragen und pfeifend statt sprechend untereinander zu kommunizieren. Heute gibt es in den Vororten von Rio de Janeiro etwa 400 verschiedene bate-bolas-Gruppen, mit jeweils 30-40 Mitgliedern, wir sprechen also von fast 15.000 Personen.

Was passiert heute mit den Bewegungen?
Heute wird auch in den Vororten versucht, die Gruppen in vorgegebene Muster zu zwängen: Sie werden von der Polizei kontrolliert und schikaniert. Der Regierung gefällt es nicht, dass die Menschen öffentlich auftreten, ohne mit einer Partei oder offiziellen Sponsoren verbunden zu sein. Die bate-bolas werden als Vandalen bezeichnet. Zugegeben, es gibt Alkohol, etwas zerstörerisches Potential, Feuerwerk, viel Musik, Tanz, keine Regeln. Wir gehorchen niemandem. Aber die Nachbarschaft kennt und erwartet ihre bate-bolas-Gruppen, alte Frauen aus der Straße nähen die aufwändige Kleidung. Für die Kleinen sind sie Helden, lustig und ein bisschen unheimlich zugleich, aber bewundernswert. Es handelt sich um ein Volksfest, eine informelle Bewegung, ein populäres öffentliches Chaos, wenn man so will, bei dem es um Freiheit geht.

Inwiefern geht es um Freiheit?
Die bate-bolas sind keine Folkloregruppen. Es geht um symbolischen kulturellen Widerstand. Sie kämpfen für ihr Territorium, für den symbolischen Spirit ihrer Straße. Sie feiern ihre gemeinsame Identität, das Gefühl der geschützten Gemeinsamkeit. In der Gruppe verlieren die einzelnen Personen ihre Identität und nehmen die der Gruppe an, innerhalb derer tragen alle die gleiche bunte Kleidung und clowneske Masken. Wir setzen unsere Masken auf und werden zu Geistern. Es geht um Freiheit, um traditionelle Musik, um die Gemeinschaft in der Gruppe, darum, die Schönheit innerhalb dieser Gemeinschaft zu zeigen, die der Nachbarschaft, der Straße. Und es geht darum, niemandem zu gehorchen. Es ist eine ästhetische, symbolische Art zu sagen: Wir sind am Leben!

Wo ist der Unterschied zum „offiziellen“ Karnaval?
Der offizielle Karneval ist Samba und wird als kulturelle Bewegung von der Politik und offiziellen Sponsoren kontrolliert. Wir machen Funk. Funk ist die Musik der Straße, wird zuhause gemacht und hat nichts mit dem verstaubten Anstrich des Sambas zu tun. Auch Samba hat natürlich Tradition, und es macht mich traurig, wie kommerziell und kontrolliert diese Tradition geworden ist. Wenn die Sambaschulen ihre Sponsoren verlieren, verschwinden sie, die bate-bolas werden niemals verschwinden, denn sie haben keine Sponsoren. Es geht nicht um Geld. Im offiziellen Karneval gibt es abgesteckte Wege, an denen die Schulen ihre Parade abhalten, bate-bolas aber laufen im Chaos ohne offizielle Routen.
Bate bolas laufen in die entgegengesetzte Richtung, kreuz und quer, über die Dächer, durch die Häuser. Der Karneval macht Paraden. Wir hingegen, wir machen keine Paraden, wir machen Lärm.

Was ist es, das die Regierung so sehr an der Bewegung stört?
Die Regierung will, dass gefeiert wird, aber ohne besondere Seele oder Spiritualität. Sie wollen keine Rituale, sondern nur kontrollierte Parties, auf denen die Touristen Geld ausgeben. Bei den bate-bolas geht es nicht ums Geld. Niemand zahlt etwas. Niemand wird reich daran. Bei den Sambaschulen muss man zahlen.
Es geht um die einfachen Dinge mit Freunden, darum, etwas gemeinsam zu kreieren, Schönheit zu schaffen und die Schönheit der Straße zu repräsentieren. Und das nur, weil wir Lust dazu haben. Nichts weiter.
Und dies ist ein Schlag ins Gesicht für die Regierung und jene Organisationen, die nur an Profit und Geld denken können. Das ist Provokation. Für sie sind wir Banditen, Marginalisierte. Und wir sind auch Banditen, auf eine symbolische Art.
Sie aber, sie hassen die Vorstellung, dass es Leute gibt, die ihnen und ihrer Logik, die Menschen kontrollieren zu wollen, nicht gehorchen. Deshalb repräsentieren wir ihr Feindbild.

Worum geht es in der aktuellen Debatte um das Maskierungsverbot?
Im September wurde im Bundesstaat Rio de Janeiro ein Gesetzesvorhaben durchgebracht, das jeglichen Gebrauch von Masken bei öffentlichen Veranstaltungen kriminalisiert. Das betrifft auch die traditionell maskierten Gruppen. Dabei versuchen die Regierenden, die bate-bolas gegen die neuen sozialen Bewegungen aufzubringen. Sie erzählen ihnen, die Straßenproteste seien Schuld, dass ihnen verboten wird, Masken zu tragen. Das Gesetz wurde jedoch von evangelikalen Gruppen eingebracht, die die bate-bolas verachten, da in den Ritualen und Liedern afrikanische Gottheiten und Geister verehrt werden. Bevor wir auf die Straße gehen, machen wir ein Ritual für die Gottheit Ogun. Er ist ein Reisender und ein Krieger, wie wir. Die neuen sozialen Bewegungen stammen zwar aus einem anderen Umfeld, sie kommen eher aus einer intellektuellen Mittelklasse aus dem Stadtzentrum, die bate-bolas aus der rituellen Tradition. Aber wir haben die gleichen Gegner und beginnen, uns zu verbinden.

Was passiert am nächsten Karneval, wenn das Gesetz in Kraft ist?
Wir werden es mißachten. Es werden viel mehr Menschen mit Masken auf die Straße gehen. Und wenn sie uns die Masken verbieten, malen wir unsere Gesichter an.

Infokästen:

Felipe Bragança
32, ist Filmemacher und bate-bola. Zurzeit befindet er sich mit einem Künstlerstipendium des DAAD in Berlin. Bragança arbeitet an seinem langjährigen Werk, dem transmedialen Projekt Claun, das sich mit der langen narrativen Mythologie und symbolischen Geschichte der bate-bolas beschäftigt.
Der Name bate-bolas bezieht sich auf die ursprünglich verwendeten geruchsintensiven Rinderblasen, mit denen die bate-bolas auf den Boden schlugen – zum Schrecken oder Spaß der Kinder. Statt bate-bola wird auch clóvis gesagt, vermutlich eine sprachliche Entlehnung des englischen Wortes clown.

Vermummungsverbot à la Carioca

Die Proteste auf den Straßen von Rio de Janeiro brechen nicht ab. Sie erreichen derzeit zwar nicht die Ausmaße der Massenproteste vom Juni dieses Jahres. Rio de Janeiro ist aber brasilienweit der vorrangige Brennpunkt sozialer Kämpfe, die in Demonstrationen, Streiks und Stadtratsbesetzungen münden. Denn die Politik von Gouverneur Sérgio Cabral und Bürgermeister Eduardo Paes erregen den Zorn der Lehrer_innen, der städtischen Angestellten, der für die Mega-Sport-Events WM und Olympia aus ihren Wohnungen Vertriebenen ebenso wie den der Student_innen. Kaum ein Tag vergeht derzeit in Rio ohne Demonstration. Kaum ein Tag ohne Tränengas und Tritte, Pfefferspray und Prügel.
Neu für Rio ist die Erfahrung, auf den Demonstrationen einen Schwarzen Block zu sehen. Black Bloc nennt sich dieser. Schwarz gekleidet und maskiert, so treten die meist jungen Leute im Zentrum Rios auf.
Für die Politik und Presse ist die Sache klar: baderneiros, Krawallchaoten also, seien diese. Und um ihrer Habhaft zu werden, hat die Regierung nun ein Gesetz verabschiedet, das das Tragen von Masken verbietet. „Frei ist die Meinungsäußerung“, heißt es in dem neuen Gesetzestext, aber „Anonymität ist untersagt“. Dem neuen Gesetz zufolge beträfe dieses Vermummungsverbot nicht kulturelle Veranstaltungen, aber – so wird flugs einschränkend ausgeführt – dies gelte nur für die im offiziellen Veranstaltungskalender des Bundesstaats registrierten Kultur-Events, wie dem Carnaval.
Der von den beiden rechten PMDB-Abgeordneten Domingos Brazão und Paulo Melo eingebrachte Gesetzestext wurde im September vom Abgeordnetenhaus des Bundesstaats Rio de Janeiro (Alerj) verabschiedet und von Gouverneur Cabral unterzeichnet. Wer vermummt auf eine Demonstration kommt, dessen Personalien werden aufgenommen. Wer sich weigert, wird auf die Polizeiwache mitgenommen und dort identifiziert. Der Gesetzestext verlangt auch, dass politische Demonstrationen ab jetzt polizeilich angemeldet werden müssen, bei einer Frist von mindestens 48 Stunden vor Beginn des Aufzugs, entweder bei der zuständigen Polizeiwache oder per Internet.
// Christian Russau

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