Bolivien | Nummer 429 - März 2010

Wo Lynchjustiz nicht legal ist

Wie die bolivianische Opposition und deutsche Medien die Debatte um die indigene Rechtsprechung instrumentalisieren

Boliviens neue Verfassung will die „Dekolonisierung der Justiz“ und stärkt die kommunitäre Rechtsprechung indigener Gemeinden. Klare Regeln zur Abgrenzung zwischen traditionellem und bestehendem bürgerlichen Recht werden von Expertenkommissionen derzeit ausgearbeitet. Medien in Bolivien und Deutschland werfen der Linksregierung von Präsident Evo Morales derweil die „Legalisierung von Lynchjustiz“, den „Rückfall ins Mittelalter“ und die Einführung einer „Indio-Scharia“ vor. Der jüngste Fall um Ex-Erziehungsminister Félix Patzi aber zeigt: Den KritikerInnen geht es nicht um die Sache, die heftig geführte Debatte zur kommunitären Justiz ändert ihren Kurs je nach politischer Gemengenlage.

Benjamin Beutler

Für Félix Patzi endete der fröhliche Abend mit einer bösen Überraschung. Der Kandidat der regierenden Partei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), der bei den bevorstehenden Präfektur-Wahlen für das Departamento La Paz aufgestellt ist, kam im Auto von einer Party, wurde kurz vor seinem Haus von einer Polizeistreife gestoppt und mit rund 1,5 Promille im Blut am Steuer erwischt. Sofort entzog die Parteiführung dem Juristen seinen Startplatz für den Urnengang am 4. April. Daraufhin unterwarf sich der prominente Streiter für indigene Gleichberechtigung dem Urteil der Bauerngemeinde seines Heimatdorfs Patacamaya, unweit der Andenhauptstadt. Verurteilt wurde der indigene Akademiker nach traditioneller Rechtsprechung zur Herstellung von 1000 Lehmziegeln für die comunidad auf eigene Kosten, eine für leichte Vergehen gängige Strafe. Seit dem in Bolivien die neue Verfassung rechtskräftig wurde, gilt die kommunitäre Justiz teilweise als gleichrangig zum bürgerlichen Recht.
Sofort stürzten sich regierungskritische Medien wie das Hauptstadtblatt La Prensa halb hämisch, halb fraternisierend auf die Bilder des in Gummistiefeln und auf Knien umherrutschenden hohen MAS-Politikers. Das Land sei Zeuge eines erbitterten Machtkampfes innerhalb des MAS, so die Botschaft der Presse. Weiße Q´aras (Aymara: Weiße Habenichtse) um Vize-Präsidenten Álvaro García Linera und Regierungsminister Sacha Llorenti seien zudem allesamt „verkappte Rassisten“. Sie würden die Indigenen innerhalb der MAS-Führung mit Intrigen und Verschwörung von wichtigen Posten entfernen wollen. Darum sei Patzi allein deshalb abgesägt worden, weil er als Aymara zu großen Einfluss auf Präsident Morales bekommen habe, tönte es aus zahlreichen Kanälen an die Öffentlichkeit. Trotz tränenreicher Entschuldigung des MAS-Urgesteins Patzi, er habe mit seinem Verhalten dem „Prozess des Wandels“ geschadet, blieb Morales bei seiner Entscheidung: „Ein Betrunkener kann nicht MAS-Kandidat sein“. Was war Morales anderes übrig geblieben? Just zwei Tage vor der Trunkenheitsaffäre seines Parteigenossen hatte das Staatsoberhaupt, dem die Wählerschaft gerade wegen seiner ungebrochenen Glaubwürdigkeit in hohem Maße vertraut, ein Gesetz unterzeichnet, das schärfere Sanktionen bei Alkoholmissbrauch im Straßenverkehr vorsieht.
Ex-Erziehungsminister Patzi aber wollte die Kandidatur bis zuletzt nicht preisgeben. Mit Unterstützung der offen gegen Morales eingestellten TV-Stationen und Zeitungen zog der Gekränkte nun die letzte Karte: Die kommunale Rechtsprechung. „Ich habe einen Sonderantrag gestellt, ich wurde doch schon von der kommunitären Justiz verurteilt, so wie es in der neuen Verfassung steht“, mit diesen Worten versuchte er einem regulären Verfahren wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer zu entgehen. Somit erhoffte er sich, aus der peinlichen Angelegenheit schnell und als Saubermann unbeschadet heraus zu kommen – doch vergebens.
Hingegen zeigten Opposition und Medien mit ihrer Reaktion auf aufschlussreiche Weise, wie sie nun versuchen, das Thema der indigenen Rechtsprechung unter veränderten Vorzeichen in den ungebremsten Anti-Regierungsdiskurs einzuspannen. Im aktuellen politischen Szenarium wundert dieser Griff nach dem rettenden Strohhalm keineswegs: Die MAS-Regierungspartei ist heute ohne Zweifel auf dem Höhepunkt ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Bei den Dezemberwahlen 2009 hatte das Bündnis nicht nur den Präsidentschaftspalast, sondern auch Parlament und Senat mit einer Zweidrittelmehrheit erobert. Die Reform des bis dato wenig effizienten Rechtssystems hat Morales längst zur Chefsache ausgerufen. Sein erklärtes Ziel sei die „Dekolonisierung der Justiz“. Es müsse „Schluss sein mit den undurchsichtigen Praktiken der bolivianischen Justiz, von der die Menschen auf der Straße immer noch sagen, das Recht sei für diejenigen da, die das Geld haben“, so der Staatschef. Mitte Februar hatte der Präsident per Dekret und gegen die Warnungen der Opposition vor dem „Ende des Rechtsstaats“ 17 ÜbergangsrichterInnen eingesetzt, darunter zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine indigene „Frau im Rock“ (politisch korrekt für das abfällige „Chola“). Bis zur erstmaligen Ernennung sämtlicher oberster RichterInnen per Stimmzettel Ende des Jahres sollen die Magistraten auf Zeit den gelähmten Justizapparat in Gang bringen. Massenrücktritte konservativer Richter seit dem MAS-Regierungsantritt 2006 hatten das Verfassungsgericht, Oberste Gericht und Oberste Verwaltungsgericht arbeitsunfähig gemacht. Im Verfassungsgericht liegen seitdem 5.640 Verfahren auf Halde, im Obersten Gericht stapeln sich über 5.000. Der von der MAS angestrebte Verfassungsprozess zur „Neugründung Boliviens“ sollte per juristischem Boykott torpediert werden.
Dieses Manöver ist bekanntlich gescheitert. Darum musste eine neue Gallionsfigur herhalten, in der angeschlagenen MAS-Ikone Patzi fand die Opposition ihr neues Blashorn. Die jüngste Medienkampagne ist fast genial. Mit dem Aymara als „Opfer der totalitären MAS-Regierung“ suchen die konservativen MeinungsmacherInnen den Beweis anzutreten, die MAS meine es mit den Indigenen und der Aufwertung ihrer Rechtsprechung nicht ernst. Patzi habe durch die Strafe durch den Dorfrat für seinen Fehltritt gebüßt, nun müsse Gnade vor Recht walten, so die taktische Pseudosolidarität. Zugleich unternimmt die alte Elite den Versuch, das Regierungslager zu spalten. Vor der Instrumentalisierung eines so ambitionierten Vorhabens wie der Stärkung der indigenen Rechtsprechung wird dabei schon lange nicht mehr zurückgeschreckt.
Dem auffälligen Schwenk auf die Seite Patzis, der einer der wichtigsten MAS-Ideologen und vordersten Verfechter kommunitärer Rechtsprechung ist, war eine monatelange Kampagne gegen die neue Magna Charta bzw. gegen eine Wiederwahl von Morales vorausgegangen. In dessen argumentativen Zentrum stand noch vor wenigen Monaten: Die Indigenen-Justiz. Damals wurde sie mit allen Mitteln verteufelt. Die MAS mit ihrem „Hass auf alles Weiße“ – denselben PolitikerInnen wird heute der Hass gegen alles Indigenen unterstellt – wolle „die Zeit 500 Jahre zurückdrehen“, es drohe der „Rückfall ins Mittelalter“.
Nicht nur Carlos Morales Peña, Chefredakteur von La Prensa, schrieb zu der Zeit reihenweise Kommentare, in dem er ein „Königreich des indigenen Faschismus“ an die Wand malte. Die MAS-Regierung setzte er wegen ihrer engen Beziehung zu den sozialen Bewegungen mit Europas Faschisten in Italien und Deutschland gleich. Im selben Blatt, das wie El Deber (Santa Cruz), El Alteño (El Alto), Los Tiempos (Cochabamba), El Nuevo Sur (Tarija), El Correo (Sucre), El Potosí (Potosí) und dem Hetzsender PAT zum nationalen Medienkonsortium Grupo Líder gehört, stellte Jesuitenpater Guillermo Mariaca Iturri einen direkten Zusammenhang her zwischen der in der neuen Verfassung geplanten kommunitären Rechtsprechung und jüngsten Fällen von Lynchjustiz. „Die Verbindung von Machtmissbrauch des Staates mit der politischen Lynchjustiz durch einige soziale Bewegungen macht die Tyrannei möglich“, so der Kirchenmann. Er bezichtigte die linke Regierung der „ideologischen Täterschaft“ zur Durchsetzung ihres „Machtprojekts“ durch Anstiftung des „Pöbels“ zum Mord. Zeitgleich zu dieser konzertierten Abqualifizierung der ersten durch einen gewählten Verfassungskonvent redigierten Magna Charta überhaupt in Bolivien rückten so gut wie alle Medien spontane Lynchmorde in den Fokus der Berichterstattung. Das in ganz Lateinamerika altbekannte Phänomen der Selbstjustiz aufgebrachter NachbarInnen gegen DiebInnen und EinbrecherInnen fand abrupt Eingang in die täglichen Nachrichtensendungen und verstärkte somit den Eindruck, der Verfassungsprozess trage die Schuld am brutalen Verbrennen oder Totschlagen ertappter Krimineller in den Vierteln und Landstrichen des verarmten Andenlandes. Indessen konnten Statistiken oder wissenschaftlichen Studien in keinem Fall einen signifikanten Anstieg der nachbarschaftlichen oder dörflichen Selbstjustiz zum Zeitpunkt des Verfassungsprozesses 2006-2009 belegen. Lynchen habe „nichts zu tun mit der kommunitären Justiz. Sie ist ein spontaner Akt der Menge, in der eine aufgebrachte Menge eine schuldige oder nichtschuldige Person erhängt, schlägt und sie umbringt“, bittet Roberto Quiroz vom Ministerium für Bürgerrechte um Abgrenzung. Gründe liegen seiner Ansicht nach darin: „Die Menschen vertrauen dem Staat nicht mehr, der im Justiz- und Polizeiwesen versagt. Weil sie keine Zeit und Geld verlieren wollen, nehmen sie die „Gerechtigkeit“ selbst in die Hand. Das ist auf keinen Fall legal, dadurch begehen sie Mord oder Tötung in der Gruppe“, so Quiroz.
Trotz dieser Stimmen verbreiteten zuletzt auch Medien in Deutschland die politisierte Sichtweise zur kommunitären Jusitz fast eins zu eins. Gleich zweimal und pünktlich zu wirksamen Terminen wie dem Verfassungsreferendum (Januar 2009) und dem jüngsten Amtsantritt von Morales (Januar 2010) veröffentlichte die Tageszeitung Die Welt (Axel Springer AG) einen in Nuancen abgeänderten Text der Journalistin und Lateinamerikakennerin Gaby Weber. Bolivien fördere „archaisches Indianer-Recht, Auspeitschen inklusive. Wer aus Verdacht tötet, hat nichts zu befürchten“, so Weber in ihrem Artikel „Wo Lynchjustiz legal ist“. Im selben sensationalistischen Ton hatte auch ein Radiobeitrag aus ihrer Feder im Deutschlandfunk vor der »völkischen Justiz« gewarnt. In der Wortwahl gleicht sie sich damit ihren bolivianischen KollegInnen an, indem sie auf das Dritte Reich mit seinen rassistisch motivierten Justiz-Verbrechen anspielt.
Diese publizistische Mehrfachverwertung scheint auch dem ARD-Korrespondenten Thomas Aders in Rio de Janeiro zu Gehör gekommen sein, woraufhin er sich ins „wilde“ Bolivien begab. Etwas vorsichtiger beginnend, aber letztlich im selben Sensationsstil endend, berichtet Aders im ARD-Weltspiegel kennerisch: „Selbstjustiz: eine uralte, unausrottbare Tradition in den Anden. Doch seit dem Inkrafttreten der kommunalen Rechtsprechung im Februar fühlen sich die indigenen Bevölkerungsgruppen der Aymara und Quetchua bestärkt in ihrer Blutrünstigkeit.“
In der andinen Konsenskultur gibt es jedoch keine Tradition von spontaner Selbstjustiz ohne Gerichtsverfahren, Todesurteile sind die krasse Ausnahme. Durch seine geradezu unglaubliche Charakterisierung der bolivianischen Urbevölkerung als wilde Blutrünstige unterstellt auch er einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem angeblichen Anstieg der Lynchmorde und der neuen Verfassung. „Die Indios bekommen ihre alten Rechte zurück“, so der TV-Bericht politisch korrekt wenige Tage nach dem letzten MAS-Wahlsieg. Auf lokaler Ebene würden „jetzt“ allerdings nicht „nur die demokratischen Gesetze“ gelten, sondern auch „die jahrhundertealte indigene Rechtsprechung“. Darum, so derselbe Zirkelschluss wie der der Morales-GegnerInnen, würden DiebInnen und Kriminelle „jetzt“ in Bolivien „kurzerhand gelyncht“, so die ARD zu bester Sendezeit im Dezember 2009. An anderer Stelle wird den BolivianerInnen ein »Missverständnis« untergeschoben, sie seien nicht in der Lage zwischen illegaler Lynchjustiz und kommunitärer Rechtsprechung zu unterscheiden.
In ganz Lateinamerika ist Lynchjustiz wegen Korruption, schwacher Staatsmacht sowie der großen Armut zu einem Forschungsfeld der Sozialwissenschaften geworden, noch fehlen große Studien. Eines aber ist klar: Nicht die Einführung indigener Rechtsprechung, sondern die jahrelange Politik von weniger Staat und mehr Armut durch Privatisierung scheint jüngsten Ergebnissen zufolge eine durchaus bedeutende Ursache an dem Phänomen zu sein. Genau diese aufgerissenen Lücken der Rechtsunsicherheit sind es, die aktuell in Bolivien geschlossen werden sollen.

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