Editorial | Nummer 491 - Mai 2015

Mexikanische Opfer zählen nicht

Skandal! Groß war der Aufschrei bei Parteien, führenden Medien und in deren Userforen, als das Bundesverteidigungsministerium Mitte April seinen Prüfbericht vorstellte. Das Sturmgewehr G36 des schwäbischen Rüstungsunternehmens Heckler & Koch (H&K), Standardwaffe der Bundeswehr, weist demnach gravierende Qualitätsmängel auf: Bei hohen Temperaturen oder nach Dauerfeuer ist die Treffgenauigkeit deutlich reduziert. Und damit mussten „unsere Jungs“ in Afghanistan gegen die Taliban kämpfen! Das geht gar nicht. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verkündete, dass das G36 „keine Zukunft in der Bundeswehr“ habe.

Eine Waffenschmiede wie H&K weiß sich freilich trefflich zu wehren: Sie lässt begeisterte Praxisanwender zu Wort kommen. Auf der Startseite ihrer Homepage dokumentiert H&K 22 Aussagen von Benutzern (alle männlich) aus dem In- und Ausland, die von der Qualität der Oberndorfer Waffen schwärmen. An internationaler Beliebtheit herrscht in der Tat kein Mangel, in über 30 Länder wurde das G36 verkauft.

Auf ein Statement mexikanischer Anwender verzichtete H&K. Dabei ist Mexiko Stammkunde, rund 10.100 Sturmgewehre (mexikanische Quellen nennen differierende Zahlen) sind laut Bundesregierung in dieses Land geliefert worden. Sicherlich hätten auch mexikanische Polizist*innen Anekdoten darüber beitragen können, wie nützlich die deutsche Waffe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben ist. Zum Beispiel bei der Bekämpfung oppositioneller Bewegungen. So beschlagnahmten mexikanische Bundesbehörden auf internationalen Druck im Dezember letzten Jahres 36 Gewehre des Typs G36 bei der lokalen Polizei der Stadt Iguala im südlichen Bundesstaat Guerrero. Dort hat die Polizei im September 2014 in einer Nacht sechs Menschen erschossen und 43 Studenten aus Ayotzinapa verschleppt. Sie wurden wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit lokalen Drogenbanden ermordet. Das ist „nur“ der bekannteste Fall in einer ganzen Reihe von staatlichen Bestrafungsaktionen gegen Aktivist*innen, die sich gegen schreiende soziale Ungerechtigkeiten, schwere Menschenrechtsverletzungen und die Allianz aus korrupten Politiker*innen und Organisierter Kriminalität zur Wehr setzen. Ganz unbekannt sind die Verhältnisse in Guerrero auch den deutschen Behörden nicht. Er ist einer von vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Rüstungsexporte erlaubt sind. Doch nach mexikanischen Angaben sind dennoch 1.924 G36-Gewehre nach Guerrero geliefert worden, ebenso wie Exporte in die anderen drei ausgenommenen Bundesstaaten belegt sind. Die Verantwortlichkeit dafür wird zwischen H&K und der mexikanischen Beschaffungsbehörde DCAM hin- und hergeschoben (siehe LN 468).

Der Verstoß gegen diese Exportauflagen ist seit Jahren bekannt. Bereits im April 2010 hatte der Freiburger Friedensaktivist Jürgen Grässlin Anzeige gegen H&K bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart erstattet. Passiert ist seitdem strafrechtlich wenig. Nachdem das Thema durch einen Bericht des ARD-Magazins Report Mainz für eine kurze Zeit in den großen Medien war, kam es zu Hausdurchsuchungen bei dem Unternehmen. Doch auch fünf Jahre nach der Anzeige und klarer Beweislage wartet mensch vergeblich auf eine Anklageerhebung, die eine gerichtliche Untersuchung der Verantwortlichkeiten zur Folge hätte. In Mexiko ging das staatliche Morden mit deutschen Waffen in diesen fünf Jahren nahezu ungestört weiter. Am 17. April organisierten Grässlin und seine Mitstreiter*innen eine Protestaktion unter dem Motto „Der Tod dankt der Stuttgarter Staatsanwaltschaft“ gegen deren Untätigkeit. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sprach daraufhin vage davon, das Ermittlungsverfahren im Spätsommer abschließen zu wollen. In der Öffentlichkeitswirkung hat der Skandal um die bisherige Verfahrensverschleppung allerdings keine Chance gegen die Aufregung über die Qualitätsmängel des G36. Was zählen schon mexikanische Opfer gegen „unsere Jungs“.

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