Brasilien | Nummer 194/195 - Juli/August 1990

100 Tage Collor – ist der Lack schon ab?

Rambomäßig hatte Collor am Tag nach seiner Machtübernahme zugeschlagen und 80% aller Sparguthaben blockiert, um die drohende Hyperinflation abzuweh­ren. Aber schneller als viele erwartet hatten, verliert Collor bei seinem Projekt “Brasil Novo” an Fahrt. Der “Plano Collor”, der die Wirtschaft ein für allemal ordnen sollte, liegt in den letzten Zügen. Zwar hat Collor zum Anlaß seiner 100-Tage Bilanz noch einmal eine bombastische Rede geschwungen und verkündet, die Regierung habe alle Versprechen gehalten, nur glauben will’s so recht niemand mehr. Eine Umfrage der data folha vom 23. Juni zeigt, daß die Zustimmung zur Regierung Collor in Rekordzeit gesunken ist. Nur noch 36% halten die Regierung für gut, 100 Tage vorher waren es noch 71%.

Thomas W. Fatheuer

Inflation besiegt – und schon wieder da

Hauptproblem der aktuellen Politik ist und bleibt die Inflation. Durch eine dra­stische Reduzierung des Geldumfangs hatte die Regierung kurzfristig weitere Preisanstiege verhindert und eine Rezession in Kauf genommen. Bereits im April erklärte Collor die Inflation für besiegt, nur belegten bald die Zahlen etwas an­deres. 7,87% Inflation für Mai mußte sogar der Regierungsindex zugestehen. Die Gewerkschaften errechneten 11,2%. Für Juni wird die offizielle Rate bei 10% lie­gen. Die Tendenz ist auf jeden Fall steigend. Zwar bedeuten diese Zahlen eine drastische Verringerung gegenüber der Vor-Collor-Zeit (März 84%), aber alles andere als einen Sieg über die Inflation. Inzwischen deutet sich eine schlimme Entwicklung an: Die Inflationsrate steigt wieder, ebenso wie die Zahl der Ar­beitslosen. Im Großraum Sâo Paulo sind jetzt eine Million Menschen arbeitslos, ca. 10% der Beschäftigten. 300 000 Menschen haben allein hier in den ersten 100 Collor-Tagen ihre Stellung verloren(Eine zuverlässige nationale Arbeitslosensta­tistik existiert nicht). Collor hatte den radikalsten Wirtschaftsplan in der Ge­schichte Brasiliens nur damit legitimieren können, daß angesichts drohender Hyperinflation extreme Opfer notwendig seien. Die “Opfer” sind da – nur es feh­len überzeugende positive Resultate.

Große Worte ohne Taten

Zu einem Vertrauensverlust auch im bürgerlichen Lager führt, daß Collor einige mit großem Nachdruck vorgetragene Versprechungen nicht halten konnte:
– Am 9. Mai ruft Collor seine MinisterInnen zusammen, um die “Verwaltungsreform” zu beschleunigen. Verwaltungsreform heißt nichts an­deres als Entlassung von StaatsfunktionärInnen. Bis zum 18.Juni sollten 360 000(!) entlassen werden. Bilanz am 18.Juni: ca. 30 000 entlassene Staats”dienerInnen”, 8,7% des Versprochenen.
– Das Haushaltsdefizit von 6% (1989) sollte bis zum Jahresende in einen Über­schuß von 2% verwandelt werden. Dieses Ziel mußte inzwischen vom Wirt­schaftsteam des Präsidenten widerrufen werden, ein “ausgeglichener Haus­halt” ist nun die Arbeitshypothese. Aber niemand außerhalb der Regierung hält das für realistisch, allgemein wird ein Defizit von 4-6% erwartet.
11 große Staatsbetriebe sollten bis Ende des Jahres privatisiert werden, mit Hilfe von Privatisierungszertifikaten, mit denen die Staatskasse 7 Mrd. US-Dollar ein­nehmen wollte. Bisher ist kein einziger Betrieb privatisiert und das Ziel auf vier Betriebe zum Jahresende reduziert.
Collor hatte ohne Zwang konkret nachprüfbare Versprechungen gemacht und dann doch nicht eingehalten. Hinzu kommt der Eindruck als habe die Regierung einige Entscheidungen gefällt ohne auf die Verfassung Rücksicht zu nehmen.

Lohnraub ohne Beispiel

Während für die bürgerlichen ÖkonomInnen und die Regierung die Inflation der Kernpunkt ist, versuchen die Opposition und die Gewerkschaften die Frage der Löhne in den Mittelpunkt zu stellen. Inzwischen muß auch die Regierung zuge­ben, daß es im Jahr 1990 einen in der jüngeren Geschichte einmaligen Verfall der Kaufkraft der Löhne gegeben hat. Die ersten Verkündigungen, der Plan würde sich nicht negativ auf die Löhne auswirken, waren nicht haltbar, da sie von 0% Inflation ausgingen. Soweit – so schlecht. Alles weitere ist extrem umstritten. Das Gewerkschaftsinstitut DIESSE geht davon aus, daß Lohnerhöhungen von im Schnitt 150% notwendig sind, um den Kaufkraftverlust auszugleichen, Unter­nehmerInnen halten 50% für ausreichend. Dazwischen liegen Welten – und komplizierte Rechnungen. Ziel der Regierung ist es, alle Mechanismen der Lohnanpassung aufzuheben und Löhne nur in freien Verhandlungen zwischen UnternehmerInnen und Gewerkschaften zu fixieren – aber wie immer ist der Weg zur “Freiheit” erst einmal mit Dekreten gepflastert. Erst 103 Tage nach dem Amtsantritt schaffte es die Regierung einen Plan zur Lohnanpassung vorzulegen. Dieser ist allerdings so kompliziert, daß ihn niemand versteht. Die Folha de Sâo Paulo hat an einem Beispiel die Konsequenzen vorgerechnet. Nach dem bisher gültigen und seit Collors Machtantritt suspendierten Index müßte ein Arbeiter im Mai ’90 eine Anpassung von 187, 9% erhalten. Das Regierungsdekret führt durchgerechnet zu einer Anpassung von 52%. “Wie soll man einen Lohnabhän­gigen überzeugen, daß sein Gehalt mit 52% angepaßt wird und nicht mit 187.9% ?”. Ja, wie nur? Die Regierung hat immerhin ein Argument zu bieten. Bei einer hohen und steigenden Inflationsrate verfällt die Kaufkraft selbst bei monatlichen Anpassungen. Ein Sinken der Inflationsrate hebt die Kaufkraft also an. Bei einer Inflation unter 10% erreiche die Anpassung von 52% den “mittleren Wert des re­alen Lohns” der Zeiten mit hoher Inflation – so argumentiert die Regierung.
Hier offenbart sich allerdings ein grundlegendes Problem: Durch hohe Inflation geht nicht nur das Gedächtnis für Preise verloren, sondern auch die Wahrneh­mung und genaue Fixierung des Kaufkraftverlustes der Löhne. Jenseits aller De­tails stehen die (vorläufigen) VerliererInnen fest: die Lohnabhängigen. Sie haben auf jeden Fall, das ist gar nicht zu bestreiten, einen drastischen Lohnraub erlitten – und die Preise sind schon wieder gestiegen. Nocheinmal: Selbst nach Regie­rungsrechnungen ist die Kaufkraft der Löhne in den letzten Monaten drastisch gesunken und die Preise im Mai(in diesem Monat gab es keine Lohnanpassung!) um fast 10% gestiegen. Immerhin kann niemand behaupten, die Löhne seien Schuld an der Inflation, das alte Gerede von der Lohn-Preisspirale trägt zur Er­klärung der Inflation in Lateinamerika gewiß nichts bei.
Aber vergessen wir nun die Ökonomie und betrachten die Machtfrage: Wie konnte das geschehen? Nachdem die mit der Regierung verbundene CGT den Aufruf zum Streik zurücknahm, mußte auch die oppositionelle CUT zurückzie­hen. Einzelne Gewerkschaften wollten dennoch streiken. Aber selbst bei den Banken – einer traditionellen Hochburg der CUT – klappte es nicht. In Rio be­schloß eine Versammlung von 50 “bancarios” den Streik – der Reinfall war total. Während die Streiks ganzer Branchen nicht funktionieren, gibt es doch eine Welle betrieblicher Streiks, insbesondere im Raum Sâo Paulo. Diese Streiks sind offensichtlich nur teilweise von der CUT organisiert, viele sind “wilde” Streiks. Nicht zu übersehen ist die Schwierigkeit, die die Gewerkschaften haben, einen wirklich nationalen Protest zu organisieren. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung und das recht geschickte Lavieren der CGT, die den Arbeitsminister stellt, gleichzeitig die Regierung kritisiert und ein­zelne positive Lohnabschlüsse durchsetzt. Ausschlaggebend ist aber wohl die Angst vor Entlassungen, in rezessiven Zeiten ist die Mobilisierung schwierig.
Collor, angeblich im Namen der “descamisados”, der Armen regierend, hat es in 100 Tagen geschafft, einen gewaltigen Lohnraub durchzuhalten, die Wirtschaft in die Rezession zu führen – und das alles ohne durchschlagenden Erfolg für sein Stabilisierungsprogramm.

Ist das Desaster schon total?

Etwas weniger im Rampenlicht stehen Maßnahmen der Regierung, die den bra­silianischen Markt für Importe öffnen. Hier ist die Regierung recht konsequent vorgegangen, es besteht fast keine Einfuhrbeschränkung mehr, die Importsteuern sind gesenkt und sollen bis 1992 weiter sinken. Die Konsequenzen dieser Maß­nahmen werden allerdings erst mittelfristig spürbar und so ist die Regierung da­bei, die wirtschaftliche Struktur des Landes umzumodeln, ohne daß es so recht wahrgenommen wird.
Eine Bewertung der ersten 100 Tage Collor ist kaum möglich, ohne etwas über die Person Collors zu sagen. Collor ist im Stil eines Superhelden angetreten, der das Land schnell “in Ordnung” bringt. Er genießt offensichtlich die Macht, zele­briert sein Image durch öffentliche Bekundungen körperlicher Stärke und Be­herrscher modernster Technik. Sonntags macht der Präsident alles Mögliche, von Joggen über Motorradfahren(150 km/h in Shorts) bis zum Fliegen: Höhe­punkt der Show war ein Überschallflug mit einem Jagdbomber – Collor als Pilot.
Sein Rambo-Image macht Collor jetzt zu schaffen – nichts ist lächerlicher als ein gescheiterter An­geber. Collor regiert ohne Basis im Parlament, seine Partei verfügt nicht einmal über 5% der Ab­geordneten. Bisher hat er versucht, mit Hilfe seiner Popularität das diffuse Lager rechter Politike­rInnen, die mehr ihren Pfründen und ihrer Klientel als einem politischen Programm verpflichtet sind, in den Schwitzkasten zu nehmen. Der Verfall seiner Popularität könnte die Szene umkehren. Und die ersten Umfragen zeigen, daß bei den Parlamentswahlen im Oktober sich nur wenige Kan­didatnInnen aus Collors Partei durchsetzen werden. Damit blieben die Kräfteverhältnisse diesel­ben wie unter der gescheiterten Regierung Sarney. Und dann? Statt konsequenter bürgerlicher “Modernisierung” das alte stop and go diverser “Schocks” und Wirtschaftspläne. Aber so vor­schnell einige Jubelrufe nach Verkündung des Planes waren, so sollte man sich auch hüten, Collor allzu schnell abzuschreiben. Er ist ein autoritärer Charakter, der mit allen Mitteln um seine Macht kämpfen wird.

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