// SO NICHT!
Editorial Ausgabe 449 – November 2011
Yucumo, ein kleiner Ort im Departamento Beni, wird dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales wohl noch lange anhaften. Am 25. September attackierten hier auf Geheiß seiner Regierung etwa 500 Polizist_innen einen Marsch der indigenen Organisationen des Tieflandes. Die Indigenen protestierten damit gegen den Bau einer Überlandstraße, die quer durch das „Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure“ (TIPNIS) führen soll. Mehr als 70 Verletzte forderte die brutale Repression, mit der die Regierung Morales den Widerstand gegen das größtenteils von der brasilianischen Entwicklungsbank finanzierte Bauprojekt brechen wollte.
„So nicht! Wir haben mit dem Volk vereinbart, die Dinge anders zu machen“, schrieb die als Reaktion auf den Polizeieinsatz zurückgetretene Verteidigungsministerin Cecilia Chacón in ihrer Erklärung an den Präsidenten. Und sie ist nicht allein: etliche Gewerkschaften, Kollektive, Intellektuelle, ehemalige Regierungsmitglieder, Bolivianerinnen und Bolivianer haben dem „ersten indigenen Präsidenten Südamerikas“ in den letzten Wochen den Rücken zugekehrt.
Die Marschierenden haben dabei auch Solidaritätsbekundungen von falschen Freunden erhalten, insbesondere von den ultrarechten „Zivilkomitees“, die vor Kurzem noch Jagd auf Indigene machten. Der Versuch der Regierung, den Demonstrierenden daraus einen Strick zu drehen und den Protestmarsch als „von rechts infiltriert“ zu diffamieren, ist allerdings mehr als fragwürdig. Denn schließlich waren es auch jene Organisationen, welche nun gen La Paz marschieren, die sich über Jahre den Angriffen der Zivilkomitees widersetzten und letztlich deren Putschversuch im September 2008 verhinderten. Mit den Oligarchen zu paktieren, ist im Tiefland seit 2008 vielmehr die Sache der Regierungspartei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS).
Um so mehr sind die Vorkommnisse der letzten Wochen als ein gefährliches Zeichen für den Transformationsprozess in Bolivien zu sehen. Die Regierung war mit dem Versprechen angetreten, künftig bei politischen Projekten den Rechten der Bevölkerung und dem Naturschutz Priorität einzuräumen. Doch die Regierung verstößt nun gegen die von ihr selbst mitgeschriebene Verfassung, indem sie die Überlandstraße durch ein indigenes Territorium und Naturschutzgebiet bauen wollte, und das ohne die betroffene Bevölkerung bei der Planung zu beteiligen. Inzwischen hat sich Morales für das Vorgehen entschuldigt. Zudem will die Regierung eine Befragung zum Projekt durchführen; die aber nicht rechtlich bindend sein soll. Es scheint, als wolle die Regierung die Straße weiterhin bauen, so oder so.
Das Vorgehen der Regierung, die Telefone indigener Aktivist_innen überwachte, jede Verhandlung zur Farce werden ließ und vor keiner Einschüchterung und Beschimpfung zurückschreckte, zeugt von einer gefährlichen Annäherung der MAS an autoritäre Regierungsmuster. Schon seit längerem diskutiert die MAS kaum mehr mit Andersdenkenden – wer nicht spurt, dem droht ein Prozess, Parteiausschluss, Verleumdung oder Schlimmeres.
Die Partei galt einst als das Sprachrohr der sozialen Bewegungen. Dies ist jetzt passé: Die MAS versucht, soziale Bewegungen für ihren Machterhalt zu instrumentalisieren. Existierende Spannungen zwischen sozialen Bewegungen wurden angeheizt und nicht in Verhandlungen geklärt. Dabei sollte die MAS einst ein Forum zur Lösung solcher Konflikte sein.Stattdessen stellten sich dem Marsch der Indigenen hunderte Kokabauern entgegen, deren Straßenblockade und Gewaltandrohungen von staatlicher Seite unterstützt wurden. Mit dieser Politik, regierungstreue soziale Bewegungen gegen kritischere auszuspielen, hat die Regierung dem vormals so bewundernswerten Zusammenhalt der sozialen Bewegungen Boliviens einen noch nicht abzuschätzenden Schaden zugefügt. Nichtsdestotrotz sind es die sozialen Bewegungen, auf denen die Hoffnung und in denen das Potenzial für eine Neuausrichtung des Transformationsprozesses liegen – zurück zu den Wurzeln.