Editorial | Nummer 456 - Juni 2012

Pathologisierung am Ende

Editorial Ausgabe 456 – Juni 2012

LN-Redaktion

Argentinien macht es vor: Ein Ende der rechtlichen Diskriminierung von Trans*­-Identitäten ist auf nationalstaatlicher Ebene durchsetzbar. Nach vielen Jahren des Kampfes gibt es weltweit erstmals ein Gesetz, mit dem das Recht auf die geschlechtliche Identität durch umfassende Maßnahmen abgesichert ist. Ein großer Erfolg für Travestis, Transsexuelle und Transgender (Trans*, siehe Glossar auf Seite 30) – nicht nur in Süd­amerika. Im Mai verabschiedete der argentinische Kongress mit überparteilicher Mehrheit das „Gesetz über die Geschlechtsidentität“. Es sieht unter anderem vor, dass jede Person in allen amtlichen Dokumenten die Geschlechtskategorie eintragen lassen kann, mit der sie sich selbst identifiziert – unabhängig von dem ihr bei Geburt aufgrund anatomischer Merkmale zugewiesenen Geschlecht. Auch Vornamen und Fotos können entsprechend geändert werden. Konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass eine Trans*-Frau, deren weibliches Äußeres bei Polizeikontrollen bisher nicht mit männlichem Passbild und Vornamen im Personalausweis übereinstimmte, nun viel einfacher passieren kann, wo sie bislang zumeist mit verständnislosen oder gar transphoben Reaktionen rechnen musste. Die Änderung selbst vollziehen zu können, ohne langwierige Begutachtung durch „Expert_innengremien“, ohne entwürdigende medizinische und psychologische Prozeduren: Das fordern Trans*-Personen auf der ganzen Welt.

Eine weitere Errungenschaft des Gesetzes ist die Gewährleistung kostenloser Maßnahmen, mit denen, sofern gewünscht, der Körper der eigenen Geschlechtsidentität angeglichen werden kann. Egal ob Hormonbehandlung oder Operation, die Kasse muss bezahlen.
Einwenden lässt sich aus queerer Perspektive, warum die Kategorie Geschlecht für einen Staat überhaupt noch relevant sein muss und warum nicht wenigstens eine dritte Kategorie („Anderes“) die Zweigeschlechternorm im argentinischen Personenstandswesen auflösen hilft. Gemessen an den Repressalien, denen vor allem Trans*-Frauen als Sexarbeiterinnen (nicht nur) in Lateinamerika ausgesetzt sind, ist aber auch der pragmatische Schritt, den das Gesetz darstellt, mehr als notwendig.
Wirklich wegweisend ist hingegen, dass für die Dokumentenänderung keinerlei körperliche Anpassung an ein Geschlecht notwendig ist: Hier werden Normen und Stereotype durchaus aufgeweicht. Der Schritt der argentinischen Legislative ist auch ein wichtiges Signal an die Kommissionen, die derzeit die maßgeblichen Krankheitskataloge der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association, ICD und DSM, überarbeiten. Ein breites Bündnis fordert schon seit Jahren die Streichung jeglicher Pathologisierung von Trans*-Identitäten. Wir erinnern uns: Erst vor zwanzig Jahren war die Diagnose „Homosexualität“ aus den medizinischen Handbüchern verschwunden.

Menschen, die nun fürchten, das Gesetz könne von Straftäter_innen zum Identitätswechsel missbraucht werden, oder gar das Vordringen von Machos in geschützte Frauenräume ermöglichen, wenn auch sie sich auf das Gesetz berufen und eine weibliche Identität annehmen, sollten wissen, dass Regeln auch in Zukunft gelten. Ohnehin ist nur der erste offizielle Wechsel des Geschlechts vereinfacht. Bei jedem weiteren muss ein Gericht zustimmen. Minderjährige, deren Eltern die Entscheidung ihres Kindes missbilligen, können sich an eine Ombudsperson für Kinderrechte wenden. Das neue Gesetz kann allerdings nicht alles richten. Diskriminierungen durch Polizei, Familie, Nachbarschaft, Behörden oder Medien lassen sich nicht über Nacht abschaffen. Der in dem Gesetz postulierte diskriminierungsfreie Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung oder Arbeit schafft zumindest klare Grundlagen, die eine weitere gesellschaftliche Öffnung fördern. Nun fehlen noch Programme, die das auf allen Ebenen fördern helfen. Und Menschen, die bereit sind, tagtäglich für die Durchsetzung der neuen Rechte einzutreten. Das Gesetz – so viel ist jetzt schon klar – wird als Meilenstein in die Geschichte der Trans*-Bewegung eingehen.

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