Brasilien | Nummer 359 - Mai 2004

20 Jahre MST – Ein Rückblick

Info-Kasten zum Thema

Das Land für denjenigen, der darauf lebt und arbeitet.“ Mit diesem Satz wurde im Januar 1984 die heute größte soziale Bewegung in Brasilien gegründet: Movimento dos Trabalhadores Ruais Sem Terra (MST). 92 Personen waren es damals, die auf dem ersten nationalen Treffen in Cascavel (PR) den Großgrundbesitzern den Kampf ansagten. Der Beschluss wurde gefasst, Aktionen unter der Devise „Besetzen und Widerstand leisten“ durchzuführen. Ein Präsident wurde nicht bestimmt, denn alle Entscheidungen sollten im Kollektiv gefällt werden.
João Pedro Stédile, Gründungsmitglied und führender MST-Aktivist, blickt zurück …

Saskia Vogel

„Damals gab es noch nicht einmal einen Namen. Das Treffen war nur ein Versuch, aus den lokal stattfindenden Kämpfen um Land eine Einheit zu schmieden und die Gemeinschaft zu stärken. Die Bedeutung dieses Treffens lag in der Erkenntnis, dass wir eine nationale Bewegung brauchten. Eine Bewegung mit einheitlichen Zielen und gemeinsamen Forderungen. Und eine Bewegung, die unabhängig ist von den Kirchen, den Parteien und dem Staat.“
Heute – 20 Jahre später – hat die MST mehrere Millionen Mitglieder, ist zur nationalen Bewegung avanciert und erhält solidarische Unterstützung aus aller Welt.
Politische Aktionen im Kampf um das Land gab es in Brasilien bereits seit den 60er Jahren – maßgeblich unterstützt von der katholischen Comissão Pastoral da Terra (CPT). Die erste „richtige“ Landbesetzung wird hingegen auf den 7. September 1979 datiert. Nach vielen unerfüllten Versprechen seitens der Landesregierung okkupierten 110 Familien die Farm Macali in Rio Grande do Sul. Am Morgen nach der Besetzung stürmten Militärbrigaden den Ort mit dem Befehl, die Besetzung zu räumen. Die Landlosen reagierten sofort: Frauen griffen nach ihren Kindern und formten eine menschliche Barrikade um das Land herum. Mit Erfolg: Die Militärs zogen sich zurück und die Regierung war gezwungen, den Aufenthalt der Familien auf den Ländereien für legal zu erklären.
Die Ereignisse in Macali traten eine regelrechte Welle von Landbesetzungen und Aktionen los, die bis heute anhält. Aber auch die Großgrundbesitzer organisierten sich. 1985 vereinigten sie sich in der União Democrática Rualista (UDR). Die Gewalt in den Landbesetzungen stieg drastisch an. Zahlen der CPT belegen dies auf erschreckende Weise: Im Zeitraum von 1983 bis 1985 – ein Jahr vor bis ein Jahr nach Gründung der MST – stieg die Zahl der Toten in Folge von Landkonflikten um über 100 Prozent.

Devise: Besetzen, Widerstand leisten – und produzieren
Neben Landbesetzungen ist Bildung zentraler Teil der MST-Strategie. Schon in den 80er Jahren erkannte die Bewegung, dass Besetzungen allein zu keinem Erfolg führen. Spezialisten in Agrar- und Wirtschaftsfragen waren gefragt, politische Bewusstseinbildung von Nöten. Die MST begann, Ausbildungsprogramme zu etablieren. Die Devise „Besetzen und Widerstand leisten“ wurde durch den Begriff „produzieren“ erweitert.
„Die Bildung ist ein permanenter Prozess. Dabei kann selbst der Schatten unter einem Baum als Klassenzimmer dienen“ betont Gilmar Mauro, Mitglied der nationalen Koordination und „Mann der ersten Stunde“. Als wichtigste Errungenschaft der MST bezeichnet Mauro „die Tatsache, den Landlosen ihre menschliche Würde wiedergegeben zu haben.“

Die 90er Jahre: Zeit der großen Ereignisse
Gewalt gegen ihre Aktivisten begleitet die MST seit ihrem ersten Tag. Trauriger „Höhepunkt“ der blutigen Konflikte war 1996 das Massaker in Eldorado dos Carajás. 19 Landlose wurden während einer Demonstration von Polizisten brutal ermordet.
Zynische Folge des Gemetzels: Die MST gelangte zu internationaler Öffentlichkeit. „Carajás war ein Ereignis, dass die Agrarreform zum Thema internationaler Debatten werden ließ. Ab diesem Zeitpunkt gewann das Thema eine neue politische Dimension“ so Gilmar. Selbst die Regierung war erschüttert und zollte den Landlosen Tribut. Die Zahl der angesiedelten Familien stieg im folgenden Jahr um 23 Prozent.
Ein weiterer – diesmal unblutiger – Höhepunkt im Kampf um Land war der Demonstrationsmarsch 1997 in die Hauptstadt Brasília, wo eine Petition zur Agrarreform übergeben wurde. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Landlosen auch, öffentliche Gebäude zu besetzen und zivilen Ungehorsam zu leisten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Seit Mitte der 90er Jahre hat die MST ihre politische Agenda um einige Aspekte erweitert: Die Diskussion um die Freihandelszone ALCA etwa oder genetisch verändertes Saatgut. Denn: „Der Kampf ums Land ist nicht nur territorial, sondern umfasst alle Bereiche des Lebens.“

Neue Herausforderungen
Die Auseinandersetzung und die Position zur Regierung Lula gilt aktuell als die dringendste Herausforderung der MST. Genau wie nach Amtsantritt seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso 1994 steigt auch seit Lula die Zahl der Landbesetzungen. Anders als der neoliberale FHC, hat Lula die Agrarreform zu einer seiner politischen Prioritäten erklärt – die konkrete Umsetzung hingegen lässt noch immer auf sich warten.
Wie auch immer die Zukunft sich gestalten wird, die MST wird weiterkämpfen. Besonders in einem Punkt hat die Bewegung seit ihrer Gründung Stärke gezeigt: Ihre Kraft, Massen zu mobilisieren, politische Aktionen durchzuführen und Bewusstsein zu schaffen für eines der größten Probleme in Brasilien: die ungerechte Landverteilung.

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