Argentinien | Nummer 428 - Februar 2010

2010: Das Jahr der Prozesse

In Argentinien finden zur Zeit zahlreiche Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Verbrechen der Militärdiktatur statt

Die argentinische Tageszeitung Página12 titelt in ihrer Weihnachtsausgabe „2010: Das Jahr der Prozesse“. Immerhin kam es seit 2006 zu knapp 70 Verurteilungen gegen Angehörige der ehemaligen Militärjunta (1976 bis 1983), und insgesamt 860 Militärs sind derzeit angeklagt. In einigen der spektakulärsten Fällen finden zur Zeit die mündlichen Hauptverhandlungen statt.

Wolfgang Kaleck

In den Großverfahren zu den geheimen Folterzentren ESMA, Campo de Mayo, Atletico, Banco und Olimpo werden in Hunderten von Fällen Verschwindenlassen und Folter wieder aufgerollt (siehe hierzu den Videoblog zu den aktuellen Verfahren mit näheren Informationen und weiterführenden links auf www.ecchr.eu). In einigen der Verfahren verhandelt man auch die zuvor von den Nürnberger StaatsanwältInnen ermittelten Fälle von deutschen Opfern (u.a. Adriana Marcus und Elisabeth Käsemann). Im Laufe des Jahres 2010 wird der Verfahrensbeginn zur Operation Condor erwartet, der kontinentalen Zusammenarbeit von Diktaturgeheimdiensten unter Führung der USA mit dem Ziel, RegimegegnerInnen auszuschalten. Auch der Prozess gegen den ehemaligen Staats- und Junta-Chef Jorge Rafael Videla soll dieses Jahr beginnen.
Einerseits ist es sicherlich als ein Erfolg anzusehen, dass die sozial und politisch zerstrittene argentinische Gesellschaft nach der Aufhebung der Amnestiegesetze (2005) im großen Umfang die Ermittlungen gegen die Militärs und deren Strafverfolgung wieder aufnahm. Andererseits sind die Prozesse schon seit langem Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung geworden und werden von vielen RegierungsgegnerInnen als Projekt des Präsidentenehepaares Kirchner angesehen. Dementsprechend erfahren sie in den Mainstream-Medien, die der Opposition nahe stehen, nur gedämpfte Aufmerksamkeit. Auffällig ist der in den letzten Jahren erfolgte Generationswechsel. Die jahrzehntelang dominierenden Madres de Plaza de Mayo sind älter geworden, eine Reihe von maßgeblichen Personen, sind gestorben. Der letztjährige Marcha de la Resistencia, der alljährliche Protest am Tag der Menschenrechte am 10. Dezember, dauerte mit Rücksicht auf die Älteren so kurz wie nie zuvor. Die nächste Generation ist müde geworden, zulange mussten sie sich schon mit diesem Thema auseinandersetzen. Einige der Überlebenden der Folter sowie Brüder und Schwestern der Verschwundenen verfolgen die aktuellen Prozesse nur aus der Ferne. Sie machen ihre Zeugenaussagen, unterstützen nach wie vor die Gerichtsverfahren. Aber sie wollen sie nicht zum täglichen Bestandteil ihres Lebens machen. Anders die Jungen: die H.I.J.O.S. – die „Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen“ mobilisieren zu den Gerichten, rufen zu Demonstrationen vor den Gerichtsgebäuden auf und informieren über die wichtigen Prozessereignisse. Vor allem wenn Folteropfer und Familienangehörige in den mündlichen Verhandlungen aussagen müssen, leisten sie ihnen Beistand.
Zu den größten Problemen zählen derzeit die lange Verfahrensdauer und die Sicherheit von ZeugInnen. Die Ermittlungen betreffen teilweise Armeeeinheiten und geheime Folterzentren, in denen mehrere tausend Menschen verschwunden sind, gefoltert und ermordet wurden. Die Komplexität dieser Verfahren sorgt daher naturgemäß für eine lange Verfahrensdauer, vor allem weil die Beweismittel in einer mündlichen Hauptverhandlung gesammelt werden müssen. Doch einige der Probleme sind hausgemacht. So kann jede Zwischenentscheidung von den Angeklagten angefochten werden, die Gerichte müssen teilweise über mehrere Instanzen entscheiden und dafür benötigen sie Zeit und nehmen sich Zeit – oft mehr als notwendig, wie die Menschenrechtsorganisationen kritisieren. Zurecht beklagen sie das Fehlen angemessener Ressourcen und die Unwilligkeit und Überlastung mancher Gerichte. Problematisch ist jedoch die Kritik gegen die Inanspruchnahme von Rechtsgarantien durch die Angeklagten. Jedenfalls könnte die Regierung Kirchner die ihr verbleibende Amtszeit nutzen, um ein besser ausgestattetes und funktionierendes Justizsystem zu schaffen, auch – aber nicht nur – für die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen.
Im Verfahren gegen den ehemaligen Polizeichef der Provinz Buenos Aires, Miguel Etchecolatz, verschwand am 18. September 2006 Jorge Julio Lopez, einer der wichtigsten Zeugen, spurlos. Dieses Verschwinden von Julio Lopez hat für die Tausenden ZeugInnen und Familienangehörigen – von denen viele bis heute an den direkten und indirekten Folgen der Folterhaft leiden – verheerende psychische Auswirkungen. Dies gilt umso mehr, als dass es in zahlreichen weiteren Fällen, vor allem in der Provinz, zu Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen gegenüber NebenklägerInnen und ZeugInnen gekommen ist.
Eine weitere offene Frage bleibt zudem, inwieweit neben den uniformierten Tätern, den Polizisten und Militärs – den unmittelbar für Folter und Mord Verantwortlichen – auch die zivilen MittäterInnen, die im Hintergrund standen und von der Diktatur profitiert haben, zur Verantwortung gezogen werden. Obwohl bereits ein Priester und ein Richter verurteilt wurden, scheint dies vorläufig die Ausnahme zu bleiben. Die Führungen der Niederlassungen von Ford und Mercedes Benz in der Provinz Buenos Aires sehen sich zwar seit Jahren Ermittlungen ausgesetzt. Doch ob irgendwann ein Manager vor Gericht landen wird, bleibt mehr als fraglich.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Verfahren sind derzeit auf dem richtigen Weg, auch wenn sie zu lange dauern. Die Bedrohung von ZeugInnen bleibt unzumutbar. Auch andere Akteure während der Militärdiktatur müssten ins Visier genommen werden.
Viele BeobachterInnen trauen der politischen Entwicklung in Argentinien nicht, fürchten einen Regierungswechsel und damit einhergehend eventuelle Rückschläge für die Prozesse. Sie fordern eine aktive Beteiligung aus Europa zur Unterstützung auch als Druckmittel. Und die Europäer lösen diesen Anspruch zumindest teilweise ein. Der französische Botschafter war bei der Eröffnung des ESMA-Prozesses anwesend, die Deutsche Botschaft tritt im Fall Käsemann als Nebenklägerin mit einem eigenen Rechtsanwalt auf und aus Spanien wurde vor wenigen Tagen der mutmaßliche Todespilot Poch nach Argentinien ausgeliefert. Auch das Amtsgericht Nürnberg hat am 15. Dezember 2009 einen weiteren Haftbefehl gegen den ehemaligen Chef der 1976 bis 1983 regierenden Militärjunta, Jorge Rafael Videla, wegen Beteiligung an der Ermordung des deutschen Staatsbürgers Rolf Stawowiok erlassen. Da aufgrund des vorher erfolglos verlaufenen Auslieferungsverfahrens in Sachen Käsemann feststand, dass Argentinien Videla nicht ausliefern wird, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren vorläufig ein. Die gegen ihn ergangenen Haftbefehle bleiben allerdings in Kraft. Dies ist als wichtige Unterstützung der in Argentinien laufenden Bemühungen um Aufklärung und Verfolgung der Diktaturverbrechen anzusehen.

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