Kolumbien | Nummer 505/506 - Juli/August 2016

24 STUNDEN IN GEFAHR

Interview mit dem Journalisten Sergio Segura über seine Verhaftung wegen angeblicher Verbindungen zur Guerilla

Am 2. Juli 2015 explodierten fünf Sprengsätze im Finanzzentrum Bogotás, zwei davon trafen Gebäude der Einrichtung Porvenir, mindestens sieben Menschen wurden verletzt. Auf der Suche nach den Verantwortlichen verhaftete die Polizei dreizehn Personen und durchsuchte deren Wohnungen. Alle waren Student*innen oder soziale Aktivist*innen zwischen 19 und 34 Jahren, elf von ihnen Mitglieder der Basisorganisation Congreso de los Pueblos (Kongress der Völker). Obwohl ein Richter in zweiter Instanz die Freiheitsstrafen aufgrund von mangelnden Beweisen widerrief, läuft der Prozess weiter. Die LN sprachen mit Sergio Segura, einem der zur Zeit freigelassenen Aktivist*innen und Journalisten der Presseagentur Colombia Informa.

Von Interview: Daniela Rivas
SERGIO SEGURA
ist Journalist der Presseagentur des Congreso de los Pueblos, Colombia Informa, wo er vor allem über den bewaffneten Konflikt und Frieden berichtet. Vor der Verhaftung arbeitete er für das Bildungsamt Bogotás in Ciudad Bolivar, einer der Gegende der Hauptstadt, die am meisten von Gewalt und gesellschaftlichen Ausgrenzung betroffen sind. Dort engagierte sich Sergio für Themen wie soziale Integration und friedliches Zusammenleben. In Juli 2015 musste er sein Masterstudium der Politikwissenschaft kurz vor dem Abschluss wegen der Inhaftierung unterbrechen. Heute schreibt er für mehrere alternative Medien in Argentinien und Frankreich. (Foto: Privat)

Die Hausdurchsuchungen, die am 8. Juli stattfanden, wurden von den Medien heftig kommentiert. Viele sprachen über die Verhaftung von Mitgliedern einer urbanen Zelle der Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN), die Angst und Schrecken in der Hauptstadt verbreiten will. Beginnen wir bei der Verhaftung: Wie wurde sie durchgeführt?
Ich schlief, bis um sechs Uhr morgens ein schwer bewaffneter Einsatztrupp gegen meine Haustür hämmerte. Ich öffnete ein Fenster und sah, wie Scharfschützen auf der gegenüberliegenden Brücke in meine Richtung zielten. Ich habe mir erst alles Mögliche vorgestellt, nur nicht, dass die wirklich zu mir wollten. Sie waren kurz davor, meine Tür einzuschlagen, als ich aufmachte. Ich wurde auf den Boden geworfen, mit Handschellen gefesselt und meine ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt. Mein Recht auf einen Anruf wurde mir nicht gewährt. Gefunden haben sie vierzehn alte Flugblätter von militanten Bewegungen, die ich für wissenschaftliche Zwecke (ich war kurz vor meinem Masterabschluss in Politik) nach Hause mitgenommen hatte. Für die Polizei und die Staatsanwaltschaft waren dies unwiderlegbare Beweise für meine Verbindung zur ELN.

Der Congreso de los Pueblos dementierte sofort die Anschuldigungen gegen seine Mitglieder und bezeichnete die Vorfälle als einen falso positivo judicial, einen durch den Staat gefälschten juristischen Prozess. Wie kamen sie darauf und mit welcher Absicht, meinen Sie, hat die Regierung das getan?
Ohne Zweifel war das ein direkter Anschlag auf den Congreso de los Pueblos, um durch den Vorwurf einer Verbindung zu „terroristischen Organisationen“ der Bewegung die Legitimation zu entziehen. Damit soll aber auch die ELN unter Druck gesetzt werden, um sie an den Verhandlungstisch zu bewegen.
Außerdem war zu diesem Zeitpunkt die Popularität des Präsidenten Juan Manuel Santos stark gesunken, unter anderem durch die Sicherheitslage in der Hauptstadt. Es gab keine Spur der Täter, also griff die Staatsanwaltschaft schließlich ein. Am 20. Mai wurde ich wegen Auseinandersetzungen mit der Polizei in der Universidad Nacional angezeigt, was als Grundlage für die juristische Montage gegen mich diente. Nach den Hausdurchsuchungen kündigte Präsident Santos über Twitter an, dass die Verhafteten für die Attentate ‚bezahlen‘ würden. Und damit wurde nicht nur gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen. Auch die großen Medien des Landes, El Tiempo, Semana, CityTV, BLU Radio berichteten unaufhörlich von den angeblichen Mitgliedern der ELN, die neben den Bombenattentaten auch noch die lokalen Ämter unterwandert hätten. Demnach wären wir nicht nur Terroristen, sondern korrupte Terroristen. In jenen ersten Tagen wurde eine Liste von falschen Anschuldigungen erstellt, die während des Prozesses später nicht einmal erwähnt worden ist.

Sie waren 20 Tage in Untersuchungshaft, dann verhängte das Landesgericht Bogotás eine Gefängnisstrafe im berüchtigten Gefängnis La Modelo, von der Sie 60 Tage abgesessen haben. Wie ist es dazu gekommen und wie lautete dann die Anklage?
Vom 8. bis 31. Juli waren wir in Untersuchungshaft. Nach dem Beschluss über den Freiheitsentzug wurden wir ins Gefängnis genracht. Laut der Staatsanwaltschaft waren wir eine Gefahr für die Gesellschaft. Zehn von uns, ich eingeschlossen, wurde die Herstellung von Sprengsätzen, das Tragen von Waffen und Gewalt gegen Staatsdiener vorgeworfen. Den übrigen drei Personen wurde Rebellion, Terrorismus und ebenfalls Gewalt gegen Staatsdiener zur Last gelegt. Da unser Fall für so viel mediale Aufmerksamkeit gesorgt hatte, sollte geheim bleiben, wann wir nach La Modelo überführt werden. Drei Tage lang wussten unsere Familien nicht, wo wir waren. Der Transport fand dann unter sehr seltsamen Bedingungen statt, an einem Freitag, um 21 Uhr, weshalb es sogar zu Konflikten beim Empfang im INPEC (Strafvollzugs- und Gefängnisbehörde) kam.

Wie würden Sie Ihren Eindruck vom Gefängnis beschreiben?
Wir waren im Hochsicherheitsbereich des Gefängnisses, wo bis zu 35 Menschen in eine Zelle passen. Aber es hätte uns auch schlimmer ergehen können, vieles war zwar kaputt, doch wir hatten immerhin ein Klo. Wir schliefen so, wie wir konnten. Immer wieder gab es angespannte Momente. Prügeleien, auch mit Waffen, sind Teil des Alltags. Der Drogenhandel ebenfalls. Wer den kontrolliert, hat quasi die Macht. Wir waren eine Gruppe, die die meiste Zeit las, diskutierte oder Sport trieb. Das machte uns verdächtig. Manche Häftlinge dachten sogar, wir würden planen, den Hof einzunehmen. Es war nicht leicht mit Paramilitärs, Drogenhändlern, Guerilleros und schwer Kriminellen auf engstem Raum zu leben. Erst kürzlich wurde bekannt, dass im Abwasserkanal des Gefängnisses hunderte verstümmelte Körper gefunden wurden. Das Leben ist da 24 Stunden in Gefahr. Das INPEC und die Paramilitärs teilen sich dort gleichsam die Macht.

Im September widerrief ein Richter in zweiter Instanz den Freiheitsentzug und Sie wurden freigelassen. Wie verlief dieser Prozess?
Die Richterin, die uns ins Gefängnis versetzte, hatte sich kurz vor der Entscheidung mit dem Direktor der Polizei Bogotás getroffen und war wegen Pflichtvergessenheit angezeigt worden. Deshalb wurde der Fall in zweiter Instanz geprüft. Der neue Richter erkannte, dass das Verteidigungsrecht nicht gewährt wurde, dass die Verhaftung illegal gewesen war und es nicht genügend Beweise für eine Freiheitsstrafe gab. Er erkannte unsere Verwurzelung in der sozialen Arbeit. Wir waren alle Studenten und Aktivisten, in meinem Fall Journalisten. Wir alle führten ein Leben in der Öffentlichkeit und stellten keine Gefahr für die Gesellschaft dar.
Doch nach der Anhörung am 11. September wollten sie uns noch fünf Tage länger im Gefängnis behalten. Das INPEC und der Direktor des Gefängnisses weigerten sich, die Papiere für unsere Freilassung anzunehmen. Leute, die uns unterstützten, kampierten daraufhin vor dem Gelände. Internationale Organisationen wurden eingeschaltet und wir kündigten unseren Hungerstreik an. Abends waren wir frei.

Wie haben Sie sich danach gefühlt und wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?
Draußen zu sein, war sehr komisch. Ab einem gewissen Punkt im Leben hat man vertraute Räume, wo man lebt und arbeitet, und plötzlich fühlst du dich verfolgt, bedroht und vorverurteilt. Ich merkte, wie wir noch im Visier der Polizei waren. Man weiß, dass man in solchen Fällen in Kolumbien entweder verhaftet oder getötet wird. Eigentlich kann ich mich daher nicht beschweren. In diesem Prozess haben wir, im Vergleich zu anderen, Glück gehabt. Viele bleiben jahrelang eingesperrt. Es ist also nicht alles verloren, die Situation bleibt jedoch schwierig. Nicht nur das eigene Leben, sondern auch das deiner Familie ist in Gefahr. Von ihnen und deinen Freunden fühlst du dich abgeschnitten und man ist die ganze Zeit unruhig. Es gibt nichts Schlimmeres, als die Ruhe zu verlieren. Dann beginnen andere Probleme, gesundheitliche, psychische. Dabei ist das Wichtigste für diejenigen, die in sozialen Bewegungen aktiv sind und aus diesem Grund verfolgt werden, die Haltung zu bewahren. Die Unterstützung, die wir während der Verhaftung und seitdem erhalten haben, war dafür entscheidend.

Der Prozess läuft noch, wie denken Sie, wird er ausgehen?
Am 10. August wird es eine Voranhörung im Landesgericht geben, da die Staatsanwaltschaft auf der Anklage beharrt. Obwohl ein Richter die Freiheitsstrafen widerrufen und die uns vorgeworfenen Delikte für unverhältnismäßig erklärt hat, wird an diesem Tag auch entschieden, ob wir bis zum Urteil ins Gefängnis zurück müssen. Doch angesichts der chaotischen und manipulierten Untersuchungen glaube ich, dass der Prozess durch sein eigenes Gewicht fallen, und für uns gut ausgehen wird. Wir werden mit unseren Argumenten unsere Unschuld beweisen. Die Justiz in Kolumbien ist nicht nur korrupt, sondern auch langsam. Da muss man geduldig sein und darf die Hoffnung nicht verlieren.

Laut Angaben des Congreso de los Pueblos wurden von 2009 bis 2012 8.600 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zur Guerilla verhaftet. 75 Prozent waren unschuldig und wurden freigelassen, dienten der Staatsanwaltschaft aber als ‚falsche Erfolge‘, um linke Bewegungen zu stigmatisieren. Nun wird gerade mit der Guerilla ein Frieden verhandelt, ist damit ein Ende des Konflikts tatsächlich absehbar?
Man kann höchstens über das Ende des bewaffneten Konflikts reden, aber wenn Menschenrechtsverletzungen wie Ermordungen, Erpressungen und willkürliche Verhaftungen  an der Tagesordnung sind, ist es gewagt, über einen Postkonflikt, sowie über einen anhaltenden Frieden  zu reden. Wichtige soziale Anführer sind nach wie vor inhaftiert, sowie zum Beispiel der indigene Anführer Feliciano Valencia. Zwar konnte der Soziologie-Professor der Universidad Nacional, Miguel Angel Beltrán, nach jahrelanger Haft seine Unschuld beweisen und ist nun frei, es bleibt aber tragisch, mitanzusehen wie das Leben von Akademikern, Aktivisten und Anführern sozialer Bewegungen kaputt gemacht wird. Nur weil man auf die Realität aus einer kritischen Perspektive blickt, wird man mit der Guerilla gleichgesetzt und bekommt vorgeworfen, eine Apologie des Terrorismus zu halten.
Und damit nicht genug: Ich und viele der Mitverhafteten haben schon Drohungen von den Paramilitärs bekommen. Im Dezember 2014 erhielten mehrere alternative Medien in Bogotá eine Email von der Gruppe Águilas Negras (Schwarze Adler). Darin schreiben sie, dass sie uns töten würden, dass wir die Stadt verlassen sollten, weil wir Sprecher der Guerilla seien. So prüft man die These, dass die Paramilitärs Hand in Hand mit dem Staat arbeiten, und das muss aufhören, bevor über ein Ende des sozialen Konflikts gesprochen werden kann.

Was denken Sie wären die Voraussetzungen für ein Gelingen des Friedensprozesses?
Es wurde schon mehrfach gesagt, aber der Frieden beruht nicht allein auf der Entwaffnung der Aufständischen – als ob die Guerillas das einzige Synonym für Krieg im Land wären. Der Friedensprozess kann nicht nur darauf zielen, die Gewalt zu beenden. Er muss politisch gewollt sein. Ich glaube, dass Santos‘ Regierung ein demokratisches Klima ohne einen bewaffneten Konflikt schaffen will. Aber er widerspricht sich, indem er dem Land zum Beispiel mit seiner Energiepolitik ein extraktivistisches Modell aufzwingt. Es wird erst Frieden geben, wenn das Recht auf Gesundheitsversorgung und Bildung gewährleistet ist und erst wenn die Rolle der Bauern anerkannt wird. Hier wird kein Sozialismus verlangt, sondern die Achtung der Grundrechte aller Kolumbianer.
Es ist wichtig, den entwaffneten Guerilleros die Option der politischen Partizipation zu geben. Viele der Aufständischen haben sich nicht aufgrund von Geldnot den Guerillas angeschlossen. Viele waren in linken Bewegungen aktiv, wurden bedroht und verfolgt und haben einfach keine Möglichkeiten gesehen, unbewaffnet Politik machen zu können. Dies ist auch Teil der Realität des Landes und begleitet, seit über 50 Jahren, die Geschichte der Gewalt im Land.

GESPRÄCHE IM STILLSTAND
Während in Havanna die Entwaffnung und Auflösung der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) am 23. Juni ausgehandelt wurde, steht der Friedensprozess mit der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) still. Am 30. März hatten Regierung und die zweitgrößte Guerilla des Landes den Beginn der offiziellen Verhandlungen in Venezuelas Hauptstadt Caracas angekündigt und sich auf eine Agenda geeinigt. Obwohl die Verhandlungen ununterbrochen und streng nach Plan laufen sollten, ist der Anfang noch nicht in Sicht. Die sechstägige Entführung der Journalistin Salud Hernández Mora Anfang Juni war für die Regierung ein deutliches Zeichnen der mangelnden Bereitschaft seitens der ELN, die offizielle Verhandlung zu beginnen. Während Präsident Santos die Freilassung aller Entführten zur Bedingung für den Beginn der offiziellen Gespräche macht, fordert ELN-Oberbefehlshaber Nicolás Rodríguez einen bilateralen Waffenstillstand. Vier Präsidenten haben versucht, mit der 1964 gegründeten Guerilla zu verhandeln – alle ohne Erfolg.

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