Costa Rica | Nummer 233 - November 1993

Abschied vom selbstgewählten Image

Der spärliche Informationsfluß über Costa Rica läßt fälschlicherweise den Eindruck entstehen, daß es nichts Neues zu vermelden gibt aus dem mittelamerikanischen Kleinstaat. Dem ist jedoch nicht so: Nach einigen unvorhersehbaren Ereignissen im Laufe dieses Jahres zeigt sich das Selbstverständnis der CostaricanerInnen schwer angeschlagen. Neben der schon seit langem gravierenden Kluft zwischen arm und reich ist ein schwindendes Vertrauen in die Politik kennzeichnend für die aktuelle Situation im Land. Im Mittelpunkt der Kritik steht hierbei die innere Sicherheit – seit jeher eines der Aushängeschilder des Staates. Daß sich gerade hier nun die meisten Probleme zeigen, kommt einer Infragestellung der nationalen Identität Costa Ricas gleich.

Jörg Thomann

Kein Interesse an Zentralamerika

Während die vier Länder Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua im Juni in Guatemala einen Vertrag zur zentralamerikanischen Einigung unterzeichneten, der einige Zoll- und Handelsschranken beseitigte und Migrationskontrollen lockerte, blieb Costa Rica ebenso wie Panamá in der Rolle des stillen Beobachters. Statt auf Gemeinsamkeiten blicken die costaricanischen PolitikerInnen eher mißtrauisch auf Unterschiede zu den Nachbarstaaten; so zum Beispiel der neugewählte Parlamentspräsident Danilo Chaverri von der konservativen Regierungspartei Partido Unidad Social Cristiana (PUSC). In einem Zeitungsinterview erklärte er: “Wir haben ein Land mit 40 % Arbeitslosigkeit (gemeint ist der Nachbarstaat Nicaragua, der Verf.), und eine Öffnung der Grenzen würde eine Flut von Immigranten auslösen, die in sehr starkem Maße an unserer kulturellen Identität rütteln würde.” Abgesehen von der verblüffenden Geistesverwandtschaft einiger costaricanischer PolitikerInnen zu ihren KollegInnen in der BRD wird hier eine interessante Frage aufgezeigt: Was soll denn Costa Ricas “kulturelle Identität” bedeuten?

Identität durch Abgrenzung

Gehen wir einmal davon aus, daß es so etwas tatsächlich gibt: Mit einer gemeinsamen Identität der Länder Mittelamerikas, einer gemeinsamen Rolle in der Geschichte und gleichen aktuellen gesellschaftlichen Merkmalen, hat es offenbar nichts zu tun. Wer eine eigene Identität so sehr an die Notwendigkeit zur Abschottung knüpft, gibt damit zu, daß er Angst hat, sie sehr leicht verlieren zu können. Eine Angst, die sich politisch seit Jahren durch eine Das-geht-mich-nichts-an-Haltung ausdrückt, oder höflicher: durch eine Neutralitätspolitik. Und wenn das Land mit den Problemen anderer in speziellen Fällen ganz besonders wenig zu tun haben wollte (wie in den 80er Jahren mit Nicaragua), dann gab es sich einfach so extrem neutral, daß die ein-und ausgehenden Contras gar nicht bemerkt werden konnten.
Was aber ist für die CostaricanerInnen die eigene Kultur? Marimbaklänge und Volkstanzgruppen aus Guanacaste – vielleicht. Die Tradition der Schwarzen von der Atlantikküste schon weniger. Und was die Indígena-Kultur betrifft, so galt diese vielen schon immer als etwas Fremdes im eigenen Land. Die Conquistadoren bewirkten hier gemeinsam mit der Gesetzgebung der jüngeren Vergangenheit etwas, was anderswo mordende Soldaten nicht schafften: Die ohnehin zahlenmäßig nie sehr große Indígena-Bevölkerung Costa Ricas konnte große Teile ihrer natürlichen Lebensform und ihrer Traditionen nicht bewahren.

Falsches Bild vom “grünen Land”

Der Tourismus tut ein übriges. Längst sind unter den 610.000 TouristInnen, die im letzten Jahr kamen, nicht mehr nur die üblichen Gringo-RentnerInnengruppen, sondern fast ebenso viele junge, “individuelle” “Alternativ”-Reisende aus Europa.
Ob Gruppe oder Einzelreisende/r; für ein Land mit etwas über drei Millionen BewohnerInnen hat der Tourismus, der allen Prophezeiungen zufolge demnächst die Bananen als Devisenquelle Nummer eins ablösen wird, eine Größenordnung erreicht, die eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für die Natur des Landes darstellt. Im Falle des Nationalparks Manuel Antonio an der Pazifikküste wird längst überlegt, ähnlich wie schon im Naturreservat Monteverde, täglich nur eine begrenzte BesucherInnenzahl in den Park zu lassen. Manuel Antonios Pendant an der Karibikküste ist der Nationalpark Cahuita, der bevorzugt von all jenen aufgesucht wird, die sich ihr Klischee vom relaxten Leben der schwarzen KüstenbewohnerInnen zwischen Reggae und Marihuana bestätigen lassen wollen – und sich wundern, daß sie dort auf immer größere Ablehnung stoßen.

“Öko-Teufel” für den Präsidenten

Die geschützten Nationalparks drohen an den TouristInnenströmen zu ersticken; darüber hinaus wird außerhalb der Reservate weiterhin Tropenwald gerodet, und es steht zu befürchten, daß in nicht zu weiter Ferne außer den Parks die Grünflächen Costa Ricas praktisch verschwunden sein werden.
Nicht gerade rühmlich für die Regierung des “grünen Landes”; Präsident Rafael Angel Calderón mußte dann kürzlich auch von Robin Wood den “Öko-Teufel ’92” hinnehmen – für die “scheinheiligste Öko-Politik”. Konkreter Anlaß hierzu war allerdings der umstrittene 400-Betten-Hotelkomplex der spanischen Barceló-Gruppe am Strand von Tambor, einem Mammutprojekt, für das unter anderem Wagenladungen weißen Sandes über den imageunfreundlichen dunklen Strand gekippt wurden. Gesetzesverletzungen bei der Errichtung des Hotels Las Palmas an der Atlantikküste veranlaßten die costaricanische Schriftstellerin Anacristina Rossi dazu, einen Roman über den Skandal zu schreiben (der sich in Costa Rica hervorragend verkauft).

“Grundwerte” Religion und Familie
Wer schließlich versucht, die kulturelle Identität durch bestimmte gesellschaftliche Werte oder Normen zu definieren, darf davon ausgehen, von den CostaricanerInnen auf die ungemein wichtige Bedeutung solcher Begriffe wie Religion oder Familie in ihrem Lande hingewiesen zu werden. Auch das ist freilich mit Vorsicht zu genießen. In einem Staat, in dem 60 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren bereits mindestens eine Schwangerschaft hinter sich haben, scheint es mit der Einhaltung katholischer Verhaltensmaßregeln nicht allzu weit her zu sein. Und die Tatsache, daß später 41 Prozent jener Mädchen als alleinstehende Mütter einen Haushalt führen müssen, weist nicht gerade auf ein intaktes Familienbild in Costa Rica hin.
So wäre es vielleicht korrekter, anstatt von einer kulturellen Identität von einer nationalen Identität zu sprechen, und zu deren Umschreibung müssen immer wieder zwei abgenudelte Begriffe herhalten: “Demokratie” und “Frieden”.

Eine Musterdemokratie?

Die costaricanische Demokratie weist eindeutige Parallelen zu der US-amerikanischen auf. Die Macht wird mittlerweile abwechselnd von zwei programmatisch kaum variierenden Parteien, PLN (Partido Liberación Nacional) und PUSC, ausgeübt. Besonders einig sind sich die VolksvertreterInnen immer dann, wenn es um die Erhöhung ihrer Diäten geht. Der neue PLN-Fraktionsvorsitzende Federico Vargas etwa ist stolz, durch ein neues Gesetz, das die jährliche Erhöhung der Bezüge um fünf Prozent im voraus festlegt, die zukünftigen ParlamentarierInnen vor dem “schrecklichen Trauma” bewahrt zu haben, sich selbst immer neue Profite genehmigen zu müssen. Parlamentspräsident Chaverri hält Rechtfertigungen sowieso nicht für nötig: “Die Abgeordneten sind die Funktionäre, die am meisten in der öffentlichen Kritik stehen, vor allem deshalb, weil in diesem Jahr fast jeder der drei Millionen Costaricaner Abgeordneter sein möchte.”
Daß das Land erstmals seit sieben Jahren wieder im Jahresbericht von Amnesty International genannt wird, trägt neben derartigen Äußerungen ebenfalls nicht gerade zum Image der costaricanischen Demokratie bei. Zielscheibe der Vorwürfe ist die ohnehin keinen besonders guten Ruf genießende Polizei, der Morde an vermeintlichen Drogendealern und Mißhandlungen von Transvestiten in San José zur Last gelegt werden.
Kandidat unter Mordverdacht
Ob von einer PLN-Regierung neue Impulse für die Politik zu erwarten wären, ist fraglich. Wenn es nämlich einen der parteiinternen KandidatInnen der sozialdemokratischen Partei gab, dem getrost einige Schwierigkeiten beim Umgang mit der Demokratie bescheinigt werden konnten, so war dies José Maria Figueres Olsen. Weniger wegen der etwas verworrenen Vorwürfe gegen seine Person, nämlich dem Mordverdacht an einem kleinen Drogendealer Anfang der siebziger Jahre (“Caso Chemisse”) und dem des Betruges als Repräsentant einer Minenfirma, als vielmehr wegen seiner teilweise sehr eigenen Art, darauf zu reagieren: So verweigerte Figueres dem TV-Kanal 7 ein einstündiges Interview zu den offenen Fragen, wollte aber stattdessen eine (von seinem Team hergestellte) “Reportage” ins Programm rücken. Dies war kurz vor den Vorwahlen im Juni. Inzwischen haben die WählerInnen gesprochen: Der PLN-Herausforderer um die Nachfolge von PUSC-Präsident Rafael Angel Calderón (Sohn des Staatspräsidenten 1940-44) ist der mit 57,4 Prozent aller Stimmen berufene José Maria Figueres (Sohn des Staatspräsidenten 1953-58 sowie 1970-74). Und dem PUSC-Kandidaten, dem eifrigen Neoliberalismus-Verfechter Miguel Angel Rodríguez, kommt nun zugute, im Wahlkampf auf die Argumente der Figueres-Gegner aus dessen eigenen Reihen zurückgreifen zu können; da ist dann vielleicht nicht ganz so schmerzlich, daß er selbst kein Präsidenten-Sohn ist.

Wer rettet den sozialen Frieden?

Zu tun gibt es für den kommenden Präsidenten einiges. Vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen die Probleme. Die Zahl verarmter Familien liegt bei 22,2 Prozent; nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation nahm unter der amtierenden Regierung die Unterernährung in der Bevölkerung stark zu – kein Wunder, wo doch der Preis für die “Canasta Básica”, die Grundnahrungsmittel, sich innerhalb von sechs Jahren verdreifachte, ein Sprung, den die Gehälter nicht vollzogen. Die Arbeitslosigkeit sank zwar auf offizielle 4,1 Prozent (1992), doch ging dies zu Lasten eines explodierenden informellen Sektors (ambulante VerkäuferInnen, “Piraten”-Taxis etc.) Mit der Pro-Kopf-Verschuldung (März’93: 1.114 US-$) liegt Costa Rica schon seit Jahren auf einem Spitzenplatz in der Welt.
Ein sozialer Friede läßt sich bei solchen Zahlen kaum aufrechterhalten. In Costa Rica äußert sich dies in einem Anstieg der Raub-und Diebstahldelikte, bevorzugt gegen unvorsichtige TouristInnen. Rafael Guillén, Chef der Kriminalpolizei OIJ, sieht das ganze so: “Wenn ein Land, das in der Entwicklungsphase ist, sich nach vorne bewegt, bleiben Personen auf der Strecke, die sich nicht auf die neue Situation einstellen können.”
Verbrechen ganz anderer Art waren es jedoch, die das Bild von der Friedensinsel Costa Rica endgültig umstießen – und das Land einmal in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken ließ.

Drei Geiseldramen in sieben Monaten

Wurde die eintägige Entführung des obersten Hüters über die innere Sicherheit, des Innenministers Luis Fishman durch den Honduraner Ordonez noch als einmaliger Ausrutscher ins Kuriositätenkabinett eingeordnet, so war die 13tägige Besetzung der nicaraguanischen Botschaft samt Geiselnahme in der Hauptstadt San José im März diesen Jahres ein Schlag von ganz anderem Kaliber. Zwar besaß das ohne Blutvergießen beendete Geiseldrama durchaus kabarettistische Züge, beispielweise wenn Terroristenboß Urbina Lara in selbstdarstellerischer Manier ein Dekret nach dem anderen über die Lautsprecher schickte, oder wenn das benachbarte “Pizza Hut” Opfer und Täter mal schnell mit seinen Köstlichkeiten versorgte; von der Berichterstattung der in solcherlei Dingen unerfahrenen Medien gar nicht zu reden. Der Versuch der costaricanischen Regierung jedoch, das ganze als rein nicaraguanische Angelegenheit abzutun, wirkte kläglich.
Es gelang aber, noch eins draufzusetzen: Die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit Geiselnahme von 24 Angestellten (26. – 29. April). Anders als wie zuvor verbreitet (und wohl auch gehofft), handelte es sich bei den Geiselnehmern nicht etwa um kolumbianische Drogenmafiosi, sondern um ehemalige costaricanische Justizangestellte. Da half dann auch nichts mehr, daß Kommandoführer “Charlie” in seinem Bekennerbrief dreimal “Verzeih’ mir, Costa Rica” schrieb und nach seiner Gefangennahme (kurz vor dem Einstieg in den Fluchthubschrauber übergaben die Gangster ihre Waffen freiwillig (!) der Polizei und wurden daraufhin überwältigt) erklärte, er hätte sich mit dem Lösegeld nur eine dringende Lebertransplantation finanzieren wollen – wobei die Ärzte versicherten, “Charlie” stünde nicht auf der Dringlichkeitsliste.

…und nun auch noch Dinosaurier!

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar ’94 ist es also endgültig vorbei mit dem so liebevoll gepflegten Image des “Paradieses” Costa Rica. Neben politischen Entscheidungen scheint aber auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der “kulturellen” oder “nationalen” Identität vonnöten, bei der davon abgegangen werden sollte, sich weiterhin hinter leeren Floskeln zu verschanzen.
Übrigens: Ob der Film “Jurassic Park”, den Regisseur Spielberg “auf einer Insel vor Costa Rica” spielen läßt (in Wirklichkeit wurde auf Hawaii gedreht), sich imagefördend auf das mittelamerikanische Land auswirkt? Zumindest die Darstellung der Hauptstadt San José war im Lande recht umstritten. Im Film zeigte man ein Kaff am Karibikstrand, das offenbar zur Gänze aus einem Open-Air-Café bestand. In der Version, die in der costaricanischen Hauptstadt (etwa eine Million Einwohner und 100 bzw. 160 Kilometer von Pazifik- und Karibikküste entfernt) in den Kinos gezeigt wurde, befand sich dann auch ein schwarzer Balken über dem eingeblendeten Wort San José, der jedoch leider etwas verrutscht war – was gemischte Reaktionen des Publikums hervorrief.

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