Alle wollen Obama werden
Präsidentin Bachelet ist in ihrem letzten Amtsjahr beliebt – dennoch könnte bei den Wahlen im Dezember die rechte Opposition gewinnen
In der Mitte des Fotos leuchtet türkis der Zweiteiler der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet, und um sie herum schieben und drängeln sich aufgeregt die JournalistInnen, um aufs Bild zu kommen. Doch Bachelet ist weder der Grund für die freudige Erregung, noch für das Foto selbst. Denn dieses entstand im Rosengarten des Weißen Hauses, US-Präsident Barack Obama lehnt sich grinsend ins Bild. Die chilenischen JournalistInnen, die Bachelet auf ihrem Besuch in Washington am 21. Juni begleiteten, hatten ihn überredet, ein Erinnerungsfoto zu machen. „Alle in Chile lieben Sie!“, hatte eine Journalistin dem US-Präsidenten enthusiastisch mitgeteilt.
In den USA zeigte man sich eher verwundert ob des seltsamen Verhaltens der chilenischen Gäste. „Peinlich“, „unprofessionell“, monierten auch die in Chile zurückgebliebenen JournalistInnen, als die Geschichte samt Foto publik wurde, und die „Foto-Affäre“ geisterte für einige Tage durch die chilenische Presse. Eine willkommene Ablenkung, denn trotz aller ernstgemeinten Kritik an der Vermischung von persönlicher Bewunderung und professionellem Journalismus war sie doch eher etwas zum Schmunzeln. Und zum Schmunzeln gibt es in der chilenischen Politik derzeit nicht allzu viel. Fünf Monate vor den Wahlen des neuen Präsidenten, des Parlaments und eines Teil des Senats wird die chilenische Parteienlandschaft mit jedem Tag unübersichtlicher – und der Ton zwischen den Kandidaten zunehmend rauer.
Die Einzige, die das nicht trifft, ist die Präsidentin. 2006 hat Michelle Bachelet ihr Amt angetreten – als Frau, Mitglied der Sozialistischen Partei (PS) und Tochter eines Allende-treuen Generals, der von Pinochets Anhängern gefoltert und ermordet wurde, war allein das eine Sensation. Doch ihre Präsidentschaft begann holprig: Monatelang streikten und protestierten 2006 die SchülerInnen gegen das seit Pinochet fast vollständig privatisierte Bildungssystem. Den „Aufstand der Pinguine“ – den Spitznamen tragen die SchülerInnen nach ihren schwarz-weißen Uniformen (siehe LN 385/386) – hatte Bachelet ebenso wenig kommen sehen wie das gewaltige Verkehrschaos in Santiago de Chile, als der öffentliche Verkehr auf das neue Verkehrssystem Transantiago umgestellt wurde. Das Großprojekt, das noch unter ihrem Vorgänger Ricardo Lagos (PS) geplant worden war, legte den Verkehr der 6-Millionen-Stadt nahezu lahm und führte zu wütenden Protesten der Betroffenen. Bachelet tauschte den Bildungs- und den Transportminister aus. Es dauerte, bis in Schulen und Hauptstadt wieder halbwegs Ruhe eingekehrt war. Und noch länger dauerte es, bis Bachelet den Ruf los wurde, eine zwar sympathische Präsidentin mit sozialer Ader zu sein, doch von ihren Aufgaben leicht überfordert und mit Mangel an Führungsstärke und politischem Gespür.
Doch es gelang ihr: Über die Anfangsschwierigkeiten ihrer Regierung redet heute niemand mehr, auch die zahlreichen Ministerwechsel der letzten Jahre sind vergessen. Spätestens seit die globale Wirtschaftskrise Ende des vergangenen Jahres auch Chile erreicht hat, ist Bachelet zur Lichtgestalt aufgestiegen. Seit Dezember ist ihre Beliebtheit um über 20 Prozent gestiegen. Rund 70 Prozent Zustimmung hat sie jetzt – soviel wie kein anderer Präsident in den letzten 20 Jahren. Bachelet inszeniert sich als souveräne Managerin des Landes in Krisenzeiten – und hat es bisher tatsächlich geschafft, die Folgen der Wirtschaftskrise für Chile recht gering zu halten. Die Möglichkeit dazu verdankt sie der Finanzpolitik der letzten Jahre. Die hohen Rohstoffpreise, insbesondere der Rekordpreis für Chiles wichtigstes Exportgut Kupfer, hatten in den letzten Jahren zusätzliche Milliarden in den chilenischen Haushalt gespült.
Allein seit September hat Chile umgerechnet 22 Milliarden Dollar an Überschüssen angespart. Dass Finanzminister Andrés Velasco das zusätzliche Geld trotz aller Kritik nicht ausgegeben, sondern für schlechtere Zeiten zurückgelegt hat, zahlt sich jetzt aus. Im Januar verabschiedete die Regierung ein erstes Konjunkturpaket. 1,7 Millionen arme Haushalte erhalten ab März jeden Monat umgerechnet 63 Dollar zusätzlich, und für 4 Milliarden Dollar soll die Infrastruktur verbessert werden – dies entspricht 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, mehr als die europäischen Länder oder die USA zur Stützung der Konjunktur ausgegeben haben. Im Mai legte Bachelet noch einmal nach: Das ärmste Viertel der Bevölkerung soll zum jetzt beginnenden chilenischen Winter 70 Dollar Heizkostenzuschuss bekommen, die Renten werden erhöht, die beschlossene Rentenreform wird um einige Monate auf September vorgezogen. Zudem werden zwei Fonds eingerichtet: Einer, der im Falle von Arbeitslosigkeit für vier Monate die Raten für die Abzahlung von Immobilienkrediten übernimmt, ein zweiter, der die Studiengebühren der Kinder weiterzahlt, wenn ein Elternteil seinen Arbeitsplatz verliert.
Angesichts solcher Maßnahmen verwundert es wenig, dass ein großer Teil der Bevölkerung hinter Bachelet steht. Jedoch scheinen davon weder ihre Partei, noch das Parteienbündnis, das hinter ihr steht, von der hohen Zustimmung zu profitieren. Im Dezember sind Wahlen in Chile, neben der Abgeordnetenkammer und der Hälfte der Senatoren wird auch ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt. Bachelet darf nicht noch einmal kandidieren, und traut man den aktuellen Umfragen, könnte der nächste Präsident durchaus ein Rechter sein: In einer Umfrage von Ende Juni führt Sebastián Piñera, der Kandidat des rechten Bündnisses Koalition für den Wandel, mit 39 Prozent vor dem Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses Concertación, Eduardo Frei, dem 30 Prozent der Befragten ihre Stimme geben würden. Auch die obligatorische Stichwahl zwischen den beiden bestplazierten Kandidaten würde Piñera derzeit für sich entscheiden.
Die chilenische Rechte ist auch nach dem Übergang zur Demokratie 1990 in Chile immer stark geblieben – das haben nicht nur die Huldigungen gezeigt, die Tausende Menschen Pinochet nach seinem Tod im letzten Jahr haben zukommen lassen. Aber an den schlechten Umfragewerten der Concertación trägt derzeit maßgeblich diese selbst schuld. Denn in der Concertación bröckelt es an allen Ecken und Enden. Allen voran gilt das für die Sozialistische Partei, der auch Bachelet angehört: Die stolze Partei, die einst tatsächlich eine sozialistische Politik vertrat und mit Salvador Allende zu trauriger Berühmtheit gelangte, seit den 1980er Jahren aber eine sozialdemokratische Politik vertritt und in den letzten Jahrzehnten die neoliberale Politik der Regierung mitgetragen oder selbst durchgesetzt hat, zerfällt immer weiter. Dies zeigt sich schon daran, dass gleich zwei ehemalige Mitglieder der PS als Präsidentschaftskandidaten im Dezember antreten – gegen Eduardo Frei, den offiziellen Kandidaten der Concertación und damit auch der PS. Der Wahlkampf auf Seiten der linken Parteien ist bisher ein einziges Chaos, wieviele Kandidaten schließlich antreten werden, ist derzeit noch immer nicht absehbar.
Während der Kandidat der rechten Koalition für den Wandel, der konservative Unternehmer und Milliardär Sebastián Piñera, schon seit langem feststand, wurde Frei erst im April von der Concertación nominiert, nachdem zwei andere Favoriten abgesagt hatten: Ex-Präsident Ricardo Lagos und José Miguel Insulza, Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten. Der Christdemokrat Frei steht für eine ganze Dynastie der gemäßigten Politik der Mitte: von 1994 bis 2000 war er schon einmal Präsident, und auch sein Vater hatte dieses Amt schon einmal inne, von 1964 bis zur Wahl Allendes 1970.
Gegen Frei tritt Jorge Arrate an. Der 67-jährige Anwalt war unter Allende Bergbau-Minister, in den 1990ern Bildungsminister in der Concertación und 46 Jahre lang Mitglied der PS – bis er vor sechs Monaten austrat. Jetzt kandiert er für die außerparlamentarische Linke, das Bündnis Juntos Podemos Más. Bis zu zehn Prozent der Stimmen könnte das linke Bündnis bei den diesjährigen Wahlen Umfragen zufolge erreichen, doppelt soviel wie bei den letzten Wahlen. Nützen wird es Arrate nicht viel: Denn das einzigartige chilenische Mehrheitswahlrecht, das noch in der Diktatur beschlossen und noch immer nicht grundlegend geändert wurde, führt bei den Präsidentschafts- wie bei den Parlamentswahlen dazu, dass im Grunde immer nur die beiden größten Parteienblöcke Chancen auf die Regierung oder eine größere Anzahl von Sitzen im Parlament haben. Immerhin einige Sitze könnte Juntos Podemos dieses Mal abbekommen – und damit von der kleinen Wahlrechtsänderung profitieren, die Bachelets Regierung durchsetzen konnte.
Mehr Kopfzerbrechen als Arrate dürfte der Concertación der dritte linke Kandidat bereiten. Marco Enríquez-Ominami war lange Zeit der Jungstar unter den PolitikerInnen der PS. Mit dieser hat er sich jedoch in den vergangenen Monaten überworfen, und als sie ihn nicht zum Präsidentschaftskandidaten nominieren wollten, startete er seine eigene Kampagne – und erklärte Mitte Juni medienwirksam seinen Austritt aus der Partei. Seine ehemaligen ParteikollegInnen haben seine Ambitionen zunächst nur höhnisch belächelt. Zu Unrecht, wie sich zeigte. Denn MEO, wie Marco Enríquez-Ominami kurz genannt wird, ist es gelungen, sich als die junge Alternative zum gealterten Politprofi Frei zu installieren. Seit Mai nimmt seine Zustimmung rasant zu – was nicht zuletzt an seiner engen Zusammenarbeit mit den Medien liegt, die den jungen Kandidaten ebenso umschwärmen wie er sie. MEO twittert, diskutiert in Talk-Shows, gibt den wichtigsten Zeitschriften immer wieder lange Interviews, sogar eine Soap über seinen Wahlkampf läuft im chilenischen Fernsehen. Da macht es wenig, dass er bisher im Dunkeln gelassen hat, was sein Alternativprojekt zur Politik der Concertación sein soll – außer ihm selbst. Das Wirtschaftsprogramm, das er von seinem Berater, Paul Fontaine, hat ausarbeiten lassen, bleibt nicht nur schwammig, sondern entspricht durch und durch der neoliberalen Linie, die die Concertación in den letzten zwei Jahrzehnten vertreten hat. Kein Wunder – Paul Fontaine ist selbst ein bekennender neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler und Eigentümer der Beraterfirma South World Business. „Neo-Concertación“ nennen Kritiker, etwa die linke Monatszeitschrift Punto Final, die Entwürfe von Enríquez-Ominami.
Die Medien sprechen lieber vom „Phänomen MEO“ und vergleichen ihn bereits mit Obama. Auch wenn es noch lange nicht soweit ist, dass sich die JournalistInnen um ein Bild mit ihm so reißen wie um eines mit Obama – die PolitikerInnen der Concertación geraten zunehmend in Panik. Letzten Umfragen zufolge könnte MEO bei den Wahlen 13 Prozent holen – Tendenz steigend. Der Concertación ist bisher nichts Besseres eingefallen, als den Kandidaten zu diffamieren. Er sei unfähig für eine Präsidentschaft, ließ Luisa Duran, Ehefrau von Ricardo Lagos, in einem Interview verlauten, und als Enríquez-Ominami über die Medien vermutete, diese Intervention geschehe wohl im Auftrag von Lagos selbst, empörte sich Lagos lauthals über den Machismus von Enríquez-Ominami, der in diesem Vorwurf mitschwinge. Der Wahlkampf, das zeichnet sich bereits ab, wird schmutzig werden in diesem Jahr – und das weniger zwischen Linken und Rechten, sondern vielmehr zwischen den Linken untereinander. Am Ende könnte die Rechte genau davon profitieren.