Dossier | Indigene Justiz | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

„Alles fällt auf die Familie zurück“

Die Aktivistin Maria Eugenia Choque Quispe über indigene Justiz in Bolivien

Die indigene Rechtssprechung in Bolivien hat viele Vorteile, meint Maria Choque Quispe: Die Verfahren gehen schnell, die Verantwortlichen sprechen die Sprache der Menschen, über die sie richten. Und sie kennen die Verhältnisse, aus denen diese Menschen kommen. Der neue gesetzliche Rahmen, den es in Bolivien für indigenes Recht gibt, ist ihnen eher hinderlich als nützlich.

Interview: Harry Thomaß

In welchen Fällen wird die indigene Rechtsprechung in Bolivien genutzt?
Meist bei Problemen, die in der jeweiligen Gemeinde selbst vorkommen. Dabei geht es dann um Land- und Grenzstreitigkeiten, Viehdiebstahl, Gewalttaten, familiäre Angelegenheiten oder Streit zwischen Eheleuten. So etwas wie Mord und Vergewaltigung kommt hier sehr selten vor.

Was geschieht mit solchen schwereren Fällen?
So schwere und komplizierte Fälle, auch Drogenhandel, übernimmt die staatliche Justiz. Wenn die Parteien sich nicht einigen können, ist das auch der Fall. Das passiert allerdings selten, weil alle die staatliche Rechtssprechung für korrupt halten.

Das Gesetz der juristischen Abgrenzung von 2010 soll festlegen, welche Fälle die indigene Rechtssprechung in welchem Rahmen lösen kann und soll. Was hat sich dadurch geändert?
Das Gesetz macht klar, dass die indigenen Ansprechpartner die Kompetenten sind, nicht die Polizei. Am Anfang des Gesetzestextes geht es um die kollektiven Rechte, wie sie in der Erklärung der UN zu den Rechten der indigenen Völker definiert sind. Es geht um Selbstbestimmung. Ein für die indigene Bevölkerung Boliviens sehr interessanter Gesetzestext. Aber der Artikel 10 beschneidet die Möglichkeiten der Verantwortlichen, wirklich Recht zu sprechen. Er besagt, dass nur wenige bestimmte Fälle unter die indigene Rechtsprechung fallen. Landstreitigkeiten zum Beispiel nur, wenn es sich um kollektiv genutztes Gemeindeland handelt. Die mit indigener Rechtsprechung Beauftragten haben das Gesetz deswegen abgelehnt.

Wie kam dieses Gesetz denn zustande?
Es gab einen Entwurf, zu dem Workshops und Versammlungen organisiert wurden. Was in den Gemeinden erarbeitet wurde, ist allerdings leider nicht im Gesetz wiederzufinden. Einige haben sich daraufhin bei der Parlamentarierin Isabel Ortega beschwert, die auch vom Land kommt und indigen ist. Ortega antwortete, dass alle in den Workshops besprochenen Vorschläge im Parlament vorgestellt wurden. Die Ergebnisse sind aber trotzdem andere.

Wie stehen die Basisorganisationen jetzt dazu?
Das Gesetz an sich ist nicht schlecht, aber dieser Artikel 10 soll überarbeitet werden. Allerdings sind die Basisorganisationen gerade mehr mit Landproblemen beschäftigt, so dass das Problem des Gesetzes momentan in der Schwebe ist.

Wie verläuft ein Prozess in der indigenen Justiz?
Zunächst tragen die Kläger den Verantwortlichen ihr Anliegen mündlich vor. Die treffen sich dann mit den Klägern und den Beklagten, auch mit deren Familien. Sie klären, was eigentlich das Problem ist. Die Strafe beruht zu einem Großteil auf dem Stellenwert des Prestiges der Familie. Der Ruf, die Ehre der Familie sind sehr wichtige Werte in den Gemeinden. Zum Beispiel, wenn es um einen Diebstahl geht. Dann denken viele: In unserer Familie soll es einen Dieb geben? Das darf nicht sein!

Was passiert dann mit dem_r Schuldigen?
Er oder sie muss den Schaden begleichen oder bekommt eine Geldstrafe. Manchmal muss er auch soziale Arbeit verrichten, etwa frühmorgens den Dorfplatz fegen oder tausend Lehmziegel für den Neubau des Gemeindehauses machen. Oft wollen die Familien nicht, dass eine Akte über den Fall angelegt wird, damit nicht für alle Zeiten in den Büchern steht, dass einer ihrer Verwandten gestohlen hat. Sie fühlen sich verantwortlich. In der staatlichen Justiz geht es um das Individuum, und nur der Schuldige wird sanktioniert, aber im indigenen System fällt alles auf die Familie zurück.

Welche Bedeutung hat die indigene Justiz in der Gemeinde Jesus Machaca, in der Sie arbeiten?
Der für die Rechtssprechung Verantwortliche in jeder Gemeinde ist der Jaljatamani. Die Menschen wissen, dass sie sich an ihn wenden können, denn es gibt diesen Posten in jeder Gemeinde, während die Polizei nur in den größeren Ortschaften vertreten ist. Die Menschen wenden sich oft an die indigene Justiz, weil die Urteile schneller gesprochen werden, da alles mündlich verhandelt wird, und weil die Verantwortlichen Quechua oder Aymara sprechen. Bei der staatlichen Rechtssprechung können alle nur Spanisch, alles kostet Geld und läuft schriftlich. Schwierig für Leute, die noch nicht einmal lesen und schreiben können. Da ist die indigene Justiz geeigneter. Dabei geht es nicht um Lynchjustiz. Die gibt es nur in der Stadt.

Wie wird das Amt des Jaljatamani vergeben?
Es gibt ein Rotationsverfahren. Jeder Landbesitzer muss mal ein Amt in der Gemeinde übernehmen. Wenn mein Land dran ist, muss ich es machen. Meistens bekleiden dieses Amt ein Mann und eine Frau, der Chacha und die Warmi. Wenn eine Frau keinen Mann, also keinen Chacha hat, kann sie das Amt auf Gemeindeebene auch alleine übernehmen oder es mit einem Sohn zusammen ausüben. Wer so ein lokales Amt ausgeübt hat, kann dann auch auf nationaler Ebene in die Conamaq (Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasusyu, Nationaler Rat der Ayllus und Markas des Qullasusyu) gewählt werden. Dann ist aber Schluss. Das ist anders als bei den staatlichen Ämtern: Wenn die Amtszeit vorbei ist, gibt man ab, selbst wenn man gute Arbeit geleistet hat.

Wie lange dauert denn eine Amtszeit?
Ein bis zwei Jahre. Deswegen gibt es auch keinen Machtmissbrauch. Jeder weiß, dass er nach seiner Amtszeit wieder zur Basis gehören wird, und er ist den größten Teil seines Lebens Teil der Basis. So kontrolliert die Gemeinschaft die Macht.

Was ist denn die Rolle der Frauen in der indigenen Justiz?
Auf Gemeindeebene können Frauen teilhaben, auch wenn sie keinen Mann haben. Das hängt ja vom Landbesitz ab. Meistens sind die Besitzer des Landes Männer, aber wenn Eltern ihr Land an eine Tochter vererben, kann sie auch Jaljatamani werden.

Und wenn ein Mann das Land besitzt und deswegen das Amt übernimmt, welche Rolle hat dann die Frau?
Sie begleitet den Jaljatamani, ist bei der Versammlung und hört zu. Sie ist nicht so aktiv wie der Mann, sondern hat eher eine administrative und beratende Rolle. Wenn allerdings eine Frau die Schuldige ist, gibt sie ihr Ratschläge, dann macht sie mehr als der Mann. Wenn zum Beispiel eine Frau ihr Zuhause und ihren Mann verlässt, klagt der Mann. Dann kümmert sich die Warmi um die beklagte Frau.

Und die Warmi ist die Frau des Jaljatamani?
Genau. Auf nationaler Ebene wird das gerade diskutiert. Denn da ist die Teilhabe der Frauen eingeschränkt. Da gibt es auch Männer ohne Frauen und die Frauen kritisieren, dass das für sie nicht möglich ist. Die meisten, etwa acht von zehn, treten allerdings als Paare auf. Das sollte schon so sein.

In Jesus Machaca leben etwa 3000 Menschen, und dazu gehören noch einige kleine Weiler. Ist dort auch die staatliche Justiz vor Ort?
Es gibt Polizei, aber es wird immer weniger. Jetzt haben sie noch nicht einmal mehr Zellen. Die Polizisten sagen selbst, dass sie inzwischen eher Freunde sind. Sie gehen in die Schulen und geben Kurse. Die staatlichen Institutionen, die für Frauen und Kinder zuständig sind, sind auch dort.

Und wie ist die Kommunikation mit den indigenen Rechtsstrukturen?
Gut. Der Bürgermeister ist von der MAS (die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus, Movimiento al Socialismo, Anm. d. Red.). Den zweitwichtigsten Posten der Ratsvorsitzenden haben wir nach dem Chacha-Warmi-Konzept der indigenen Authoritäten mit einer Frau besetzt. Die MAS stellt den Chacha, wir die Warmi. Aber sie ist nicht die Frau des Bürgermeisters.

Können Sie uns einen Fall aus Jesus Machaca schildern?
Einmal klagten zwei Schwestern nach dem Tod ihrer Eltern ihr Erbe ein, das ihre drei Brüder ihnen nicht geben wollten. Die fünf stritten sich heftig. Mit Hilfe der indigenen Rechtssprechung begannen die Geschwister miteinander zu sprechen und die Brüder wurden darauf hingewiesen, dass fünf Geschwister fünf Stücke Land brauchen. Schließlich lenkten die Brüder ein.

Wie ist das denn in der Großstadt, in La Paz?
Darüber wird gerade diskutiert. Viele Großstadtbezirke sind frühere Ayllus, also traditionelle Dorfgemeinschaften mit kollektivem Besitz, und verfügen damit über traditionelle Autoritäten. In einigen Gemeinden im Umfeld der Städte üben diese ihre Ämter aus, gehören dabei aber zur Bezirksverwaltung.

Können Sie da auch ein Beispiel für einen Fall nennen?
Nachbarschaftsstreitigkeiten unter Betrunkenen. Da gab es Beleidigungen und Prügel. Derjenige, der mehr abbekommen hatte, reichte Klage ein, aber der Verantwortliche für die indigene Rechtssprechung bestrafte beide. Sie mussten Strafe zahlen, und der, der mehr ausgeteilt hatte, zahlte mehr.

Und was passiert mit diesem Geld?
Dafür gibt es ein Register. Sowohl auf dem Land als auch in der Stadt wird das Geld in die Infrastruktur investiert, es ist für die Leute, die die Ämter bekleiden, oder wird genutzt, um an irgendeiner Veranstaltung teilzunehmen. Aber das ist eine öffentliche Angelegeheit: Die Gemeinde hat die Leute in den Ämtern bestätigt, daher sind sie ihnen Rechenschaft schuldig. Das ist keine interne Sache. Da ist es schwierig, korrupt zu sein.

 

(Download des gesamten Dossiers)

Maria Eugenia Choque Quispe ist Präsidentin des Centro de Estudios Multidisciplinarios Aymara (CEM). Das CEM unterstützt Aymara-Frauen durch Workshops und Beratung dabei, sich zu artikulieren und politisch zu engagieren. Choque Quispe studierte Sozialarbeit und Andengeschichte. Sie arbeitet vor allem zu Menschenrechten, Genderfragen und interkulturellen Themen. Seit 2001 ist sie Mitglied des Red Internacional de mujeres indígenas sobre Biodiversidad (Internationales Netzwerk indigener Frauen zu Biodiversität).

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