Mexiko | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

„Alles steht zur Diskussion“

Interview mit Gonzalo Ituarte, Generalvikar der Diozöse von San Cristobal

Anne Huffschmid

Gonzalo Ituarte lebt seit 23 Jahren in Chiapas, davon zehn in der Gemeinde Ocosingo und fast 13 in San Cristobal de las Casas, wo er – bis zu dessen Ausscheiden im Januar 2000 – als engster Mitarbeiter von Samuel Ruiz gearbeitet hat. Die LN sprachen mit Ituarte am 25.07. 2000, also bereits nach dem historischen Sieg der Opposition, aber noch vor den Gouverneurswahlen in Chiapas (siehe Artikel von Anne Becker). Ob Ituarte seine verhältnismäßig optimistische Einschätzung des Demokratisierungsprozesses noch aufrecht erhalten wird, bleibt natürlich dahingestellt.

Nach dem Wahlsieg von Fox sind viele Linke eher skeptisch als euphorisch. Gerade für Arme und Indígenas, so lautet das Argument, könnte es noch schlimmer werden…

Mexiko hat ja schon seit langer Zeit eine Regierung der Rechten, seit mindestens 18 Jahren. Wir haben es nicht mit einer Machtverschiebung vom Zentrum nach rechts zu tun, sondern eher innerhalb der Rechten. Es hat einen Wechsel zu einem Präsidenten gegeben, der aus seiner Position nie einen Hehl gemacht hat. Möglicherweise weist er aber eine gesündere Einstellung zur Sozialpolitik auf als die PRI in den letzten beiden Jahrzehnten. Für die PRI war Sozialpolitik immer ein Kontrollinstrument.
Ich glaube schon, dass der neue Präsident den politischen Willen hat, vorwärts zu gehen. Natürlich ist seine Weltsicht innerhalb des modernen Kapitalismus und innerhalb der Globalisierung angesiedelt, aber ich denke, dass er eine historische Chance hat. Und wir haben das Vertrauen, dass er sie zu nutzen weiß, und sich bewusst ist, dass er diese neue Situation nicht selber geschaffen hat. Er ist zweifellos ein wichtiger Akteur, aber Mexiko haben wir alle zusammen verändert. Und das werden wir weiterhin tun.

Lässt sich so etwas wie ein Fox-Effekt auch in Chiapas beobachten?

Zunächst mal hat sich an der Realität in Chiapas noch gar nichts verändert. Noch ist das Neue eher ein Versprechen für die Zukunft. In den Kazikenkreisen gibt es natürlich eine große Unruhe, weil für sie die Figur des Präsidenten von existenzieller Bedeutung war. Plötzlich haben sie ihren Beschützergott nicht mehr und leben in einem Zustand großer Unsicherheit. Aber es gibt immer noch dasselbe System, dieselben Regierungspolitiken, dieselben Konflikte innerhalb und zwischen den Gemeinden, dieselbe zunehmende Militärpräsenz, dieselben Paramilitärs, die völlig unbehelligt bleiben. Die Nachricht vom Fox-Sieg hat bei vielen Leuten gewisse Hoffnung ausgelöst, in dem Sinne, dass wir jetzt auch hier in Chiapas die Etappe der „low-intensity“ Demokratie überwinden können.

Sind für Chiapas die Gouverneurswahlen, etwa wichtiger als die Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli?

Der 2. Juli ist schon jetzt ein wichtiges, historisches Ereignis, mit dem das Regime der Staatspartei zu verschwinden beginnt. Das ist aber ein Prozess, kein einmaliges Ereignis und ein neuer Kontext für die Gouverneurswahlen. Sollte die PRI in Chiapas gewinnen, so wäre das ein sehr schlechtes Zeichen. Ein Gouverneur der alten Staatspartei bedeutet nicht viel Hoffnung für die Leute hier, selbst wenn der Präsident aus der Opposition stammt.

Ein Sieg des Oppositionskandidaten Pablo Salazar, der ja von acht Parteien unterstützt wird, würde also dazu beitragen, die beiden Mexikos, von denen Subcomandante Marcos einmal geschrieben hat, einander näherbringen?

Auf jeden Fall. Der Impuls, der von Chiapas für die nationale Politik ausgegangen ist und die Region mitten im Herz des Landes verortet hat, sollte nun zu uns zurückkommen. Ganz Mexiko muss sich selbst endlich als pluriethnische, multikulturelle und multireligiöse Nation anerkennen. Hier in Chiapas würde das eine Schwächung der Seilschaften der chiapanekischen Machtfamilie bedeuten. Auch für den Friedensprozess könnte das neue, kreative Energien freisetzen.

Der formale Verhandlungspartner für die EZLN wäre ja die Bundes-, nicht die Landesregierung. Was könnte Pablo Salazar zum Dialog beitragen? Macht es Sinn, überhaupt an dem alten, seit vier Jahren stagnierenden Verhandlungsprozeß anzusetzen?

Salazar könnte günstige Bedingungen für den Prozess schaffen. Wir denken nicht, dass das bisherige Dialogmodell automatisch aktiviert werden kann. Aber es kann auch nicht darum gehen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Natürlich reicht es nicht, das Thema der indigenen Rechte und Kulturen zu verhandeln (wie im ersten Teilabkommen von San Andrés, das im Februar 1996 unterzeichnet wurde A.H.), da sich die Problematik nicht darauf reduzieren lässt.
Es geht um viel mehr: das Modell und die Politik des Staates, das Projekt der Nation, die Wirtschaftsstrategie. Alles steht zur Diskussion. Ursprünglich sollten die Verhandlungen ja im Rahmen einer Verhandlung über die Staatsreform geführt werden, bei der auch der Bundeskongress eine Rolle spielt. Beides, sowohl die Verhandlungen von San Andrés wie auch die Staatsreform, sind dann von der Regierung radikal blockiert worden.

Dieser Tage ist viel von einem möglichen Treffen zwischen Marcos und Fox die Rede. Glauben Sie, dass dies zu einer Lösung des Konflikts beitragen kann?

Das wäre ein symbolischer Akt, der positive Perspektiven schaffen könnte. Aber dieser Schritt kommt wohl, wenn überhaupt, nur in fernerer Zukunft zustande. Vorher müsste erst eine Reihe von realen Bedingungen erfüllt werden. Aber es erscheint mir auch wichtig, dass die Aufmerksamkeit nicht abgelenkt wird: das Problem besteht nicht in einem Treffen mit Marcos. Der Zapatismo steht für mehr als den Namen Marcos. Die indigenen Völker gehen weit über die EZLN hinaus. Ein Treffen zwischen den beiden symbolischen Köpfen wäre reiner Bluff, wenn es nicht auf einem realen Verständigungsprozess beruhte, reiner Bluff. Und ich glaube nicht, dass einer der beiden bereit wäre, eine solche Rolle zu spielen.

In den ersten Jahren war die Diozöse unter Leitung von Samuel Ruiz ein entscheidender Akteur und Protagonist. Ruiz hat sich im Januar verabschiedet, es ist seltsam still um die Diozöse geworden. War Don Samuel doch unersetzbar?

Natürlich beeinträchtigt uns die Abwesenheit von Don Samuel. Don Felipe (Felipe Arizmendi, der neue Bischof, A.H.) hat einen anderen Stil, eine andere Geschichte und Persönlichkeit. Er ist ruhiger und vorsichtiger, weniger impulsiv und intuitiv. Mehr an spezifisch religiösen Fragen interessiert.
Es ist richtig, dass der Stillstand im Dialogprozess dazu geführt hat, dass die Diozöse ihre öffentliche Präsenz etwas reduziert hat. Aber wir sind noch immer präsent und mit dem Thema beschäftigt. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolome de las Casas ist jetzt eine unabhängige Institution, und Samuel Ruiz weiterhin ihr Präsident. Aber wir sehen uns selber nicht als direkt in den Verhandlungsprozess involviert. In der Hinsicht haben wir alles probiert (im Rahmen der Vermittlungskommission CONAI, die sich im Juni 1998 selbst auflöste) und sind an deutliche, von außen gesetzte Grenzen gestoßen. In Zukunft brauchen wir eine neue zivile Vermittlungsinstanz, mit nationaler und internationaler Unterstützung, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Zur Zeit geht es allerdings noch nicht um Vermittlung – sondern erst mal um Kontaktaufnahme.

Interview: Anne Huffschmid

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