Mexiko | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

ALTES NEU VERPACKT

Ursachen für Emigration sollen mit Wirtschaftsprojekten bekämpft werden

Mexikos künftiger Präsident Andrés Manuel López Obrador will die Migration nach Norden durch Entwicklungsprojekte eindämmen und die Militarisierung der Grenzen stoppen. Doch seine bisherige Agenda lässt Zweifel an den Erfolgsaussichten dieser Vorhaben aufkommen.

Von Alexander Gorski

Ungewisse Aussichten Migrant*innen in Mexiko auf dem Weg nach Norden (Foto: Flickr.com / Peter Haden CC BY 2.0)

Fünf Tage vor seinem historischen Sieg bei den Wahlen vom 1. Juli sprach Andrés Manuel López Obrador (AMLO) zum Abschluss seines monatelangen Wahlkampfs vor 100.000 Menschen im Stadion Azteca in Mexiko-Stadt. Er nutzte den Auftritt, um seine Anhänger*innen ein letztes Mal auf den Wandel einzuschwören, den er und seine Partei Bewegung der nationalen Erneuerung (Morena) dem krisengeschüttelten Land während der Wahlkampagne versprochen hatten. Im Rahmen seines 54-minütigen Diskurses sprach der 64-Jährige auch das für Mexiko so wichtige Thema Migration an: „Wir werden dafür sorgen, dass die Auswanderung eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit ist. Wir werden uns darum bemühen, dass jeder Arbeit und Wohlstand am eigenen Herkunftsort finden kann, wo die Familie wohnt und die eigenen Bräuche und die eigene Kultur zuhause ist. Ich wiederhole: wer migrieren will, soll dies aus Neugier und Lust tun, nicht wegen Hunger, Armut oder Unsicherheit“, rief der designierte Präsident der applaudierenden Menschenmenge in dem bis auf den letzten Quadrat­meter gefüllten Fußballstadion zu.

Nicht erst seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump ist es um die Rechte dieser Migrant*innen in den USA schlecht bestellt

Laut der US-Behörde für Volkszählungen leben etwa 11,6 Millionen in Mexiko geborene Menschen in den Vereinigten Staaten. Dazu kommen um die 33,6 Millionen Personen mexikanischer Abstammung. Das heißt, dass so gut wie jede mexikanische Familie Angehörige nördlich des Río Bravo hat. Gleichzeitig ist Mexiko jedes Jahr Transitland für hunderttausende Menschen aus Zentral- und Südamerika. Nicht erst seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump ist es um die Rechte dieser Migrant*innen in den USA schlecht bestellt.

Mittlerweile sind mehr als zwei Monate vergangen, seitdem der politische Hoffnungsträger die Präsidentschaftswahlen mit 53,19 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Das heißt, dass das Land nun bereits etwa die Hälfte der sogenannten Transition hinter sich hat, gemeint ist die Übergangszeit, bevor López Obrador und sein Kabinett am 1. Dezember endgültig ihre Ämter übernehmen. Doch die tatsächliche Ablösung der bei der Bevölkerung extrem unbeliebten Regierung des noch amtierenden Staatsoberhaupts Enrique Peña Nieto und der ehemaligen Staatspartei PRI ist nur noch eine Formalität. Längst stellen López Obrador und sein Team die Weichen für die von ihnen ausgerufene „vierte Transformation“ des 124 Millionen Einwohner*innen zählenden Landes. Die soll nach der Unabhängigkeit von 1821, den liberalen Reformen des späten 19. Jahrhunderts und der Revolution von 1910 eine neue Etappe in der mexikanischen Geschichte einläuten.

In diesem Rahmen hat AMLO auch begonnen, seine Wahlkampfversprechen im Bereich Migration zu konkretisieren. Dafür traf sich der künftige Präsident zwei Wochen nach seinem Wahlsieg bereits mit dem US-Außenminister Mike Pompeo und anderen hochrangigen Vertreter*innen der US-Regierung, nachdem Donald Trump ihm schon wenige Stunden nach seinem Wahlerfolg überraschend herzlich gratuliert hatte. „Es ist klar, dass es in letzter Zeit gewisse Probleme zwischen unseren Ländern gegeben hat, aber Präsident Trump ist fest entschlossen, zu einer Verbesserung unserer Beziehungen beizutragen“, beeilte sich Pompeo dann auch den Journalist*innen in Mexiko-Stadt mitzuteilen.

Ein Grund für den überraschend guten bilateralen Start für AMLO dürften auch seine Ideen für die Eindämmung der Migration gen Norden sein, die Trump und seiner migrationsfeindlichen Politik wohl sympathischer sind als das planlose Lavieren von Peña Nieto. In einem Brief an Trump, den AMLO Pompeo übergab, warb der Präsident in spe für eine entwicklungspolitische Herangehensweise an die Migrationsproblematik in der Region. Konkret will AMLO Entwicklungsprojekte in Zusammenarbeit mit den USA und Kanada nicht nur in Mexiko, sondern auch in Zentralamerika stärken, um durch wirtschaftliches Wachstum Migrationsanreize für die lokale Bevölkerung zu vermindern.

Die Formel ‚mehr Wohlstand ist gleich weniger Migration‘ diskutierte López Obrador dann auch Ende August mit Guatemalas Präsident Jimmy Morales bei einem Treffen im südmexikanischen Chiapas. „Wir müssen aufhören, die Migration durch die Militarisierung von Grenzen lösen zu wollen. Vielmehr geht es darum, uns der Migrationsursachen anzunehmen und das heißt vor allem, unseren Bürger*innen bessere Lebens­bedingungen anzubieten, damit sie sich nicht gezwungen sehen zu migrieren“, sagte AMLO bei dem Treffen mit dem Präsidenten des südlichen Nachbarn.

Wie genau diese Entwicklungsoffensive aussehen könnte, zeigt sich bei einem Blick auf die bisherigen Vorschläge von López Obrador für die Entwicklung ländlicher Zonen in Mexiko selbst. So will er im Süden des Landes auf etwa einer Million Hektar Fläche Bäume pflanzen lassen, die zum einen der Holz- und Papierwirtschaft zu Gute kommen und zum anderen den einheimischen Fruchtmarkt stärken sollen. Daneben plant der ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt einen „modernen, touristischen und kulturellen Zug“ in mehreren südlichen Staaten, den sogenannten Tren Maya, der die in großen Teilen indigenen Gebiete für den Massentourismus erschließen soll. In diese Reihe von Großprojekten der künftigen Regierung passt auch der geplante Bau von zwei Ölraffinerien im südöstlichen Tabasco und das Abrücken AMLOs von seinem kategorischen „Nein“ zum umstrittenen neuen Hauptstadtflughafen, der trotz erheblicher ökologischer und sozialer Bedenken nach einer Volksbefragung Ende Oktober wohl doch fertiggestellt werden soll.

Während die Unternehmerelite begeistert ist von den Plänen deseigentlich linken López Obrador, kommt aus den sozialen und indigenen Bewegungen Mexikos harsche Kritik

Während die nationale wie internationale Unternehmerelite begeistert ist von den Plänen des im politischen Spektrum eigentlich links angesiedelten López Obrador, kommt aus den sozialen und indigenen Bewegungen Mexikos harsche Kritik. „AMLOs Projekte im Süden Mexikos sind nichts als Plünderung“, hieß es in einer Erklärung der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) Mitte August.

Und tatsächlich wird das Unbehagen in Bezug auf die Infrastrukturprojekte bei vielen Aktivist*innen immer größer. Können die Rechte der indigenen Völker gewahrt bleiben, wenn derartige Vorhaben auf ihrem Territorium realisiert werden? Wird die lokale Bevölkerung am Ende nicht nur als billige Arbeitskraft für die Konzerne herhalten müssen, die die Projekte gemeinsam mit dem öffentlichen Sektor durchführen? Wird all dies nicht zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und gewach­sener Gemeinschaften vor Ort und somit zu vielen neuen Konflikten führen? Und zuletzt: Kann man in Anbetracht all dessen davon ausgehen, dass die Leute aus diesen ohnehin schon marginalisierten Gebieten aufhören, ihr Glück im Norden zu suchen?

Denn auch die Tatsache, dass AMLO trotz anderslautender Ankündigungen im Wahlkampf zunächst weiter auf das Militär und umstrittene Polizeieinheiten im Kampf gegen das organisierte Verbrechen setzen will, lässt Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Demilitarisierungsstrategie in der Migrationspolitik aufkommen. Obwohl Mexikos Regierungen stets als schärfste Kritiker ihres nördlichen Nachbarn auftreten, sobald es um die Verletzung der Rechte von Migrant*innen oder die Militarisierung der Grenze geht, weist das Land keine allzu gute Bilanz vor.

Der Großteil der zehntausenden Migrant*innen, die jedes Jahr durch Mexiko ziehen, um in die USA zu gelangen, wird Opfer von Straftaten. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie der Solidaritätsorganisation Redodem sind für mindestens ein Viertel der Übergriffe in Form von Raubüberfällen, Erpressungen, Entführungen oder Vergewaltigungen staatliche Stellen verantwortlich, allen voran das nationale Migrationsinstitut INM. Laut Recherchen der kritischen Wochenzeitschrift Proceso sind die USA auch nicht alleine, wenn es um die unmenschliche Behandlung minderjähriger Migrant*innen und das Trennen von migrierenden Familien geht. Knapp 140.000 Minder­jährige hat das INM seit Anfang 2013 auf dem Weg nach Norden aufgegriffen, 90 Prozent davon wurden sofort und ohne Verfahren abgeschoben. Hinzu kommen meist unmenschliche Bedingungen in Auffanglagern für Migrant*innen, in denen häufig gemeinsam reisende Familien getrennt werden. In einem Bericht des Bürgerrats des Nationalen Migrationsinstituts (CCINM) vom Juli 2017, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die die Arbeit des INM kritisch beobachtet, ist von Willkür, Missbrauch und un­menschlichen Unterbringungsbedingungen in den mexikanischen Auffanglagern die Rede.

Auch Jan Jarab, Menschenrechtsbeauftragter der Vereinten Nationen in Mexiko, findet deutliche Worte für Mexikos Migrationspolitik: „Es gibt einen klaren Widerspruch zwischen der Empörung von Seiten Mexikos über die Politik der Trump-Regierung und der fehlenden Kritik an den selben Vorgehensweisen im eigenen Land.“ Hinzu kommt, dass inzwischen immer mehr lateinamerikanische Migrant*innen den Weg Richtung USA abbrechen und in Mexiko bleiben. Laut Redodem blieben fast ein Drittel aller in 2017 angekommenen Migrant*innen in Mexiko. Dies stellt die mexikanische Gesellschaft vor ganz neue Herausforderungen in puncto Integration und Zusammenleben. Da scheint der Hype um die vom US-Präsidenten so oft und publikumswirksam geforderte Mauer an der Realität vorbeizugehen. „Trumps Mauer zahlen wir Mexikaner bereits. Sie heißt INM und ist das Fundament unserer Migrationspolitik“, meinte dazu kürzlich Jorge Alberto Pérez, Aktivist der Migrant*innenherberge Casa del Migrante im nördlichen Chihuahua.

Daher wirkt es verkürzt, wenn AMLO meint, die Migrationsbewegungen der Region einfach durch massive Infrastrukturprojekte bremsen zu können. Der Wohlstand, den er jetzt mit seiner Entwicklungsoffensive verspricht, sollte auch schon durch den Freihandel Mitte der 1990er Jahre nach Mexiko kommen. Was folgte, waren Riesengewinne für transnationale Konzerne, massive Umweltzerstörung, rasant wachsende Ungleichheit und zahllose soziale Konflikte. Ähnliches ist auch jetzt zu befürchten.

Gleichzeitig fehlt es dem künftigen Präsidenten Mexikos bisher an Ideen, wie kurzfristig die Situation von Migrant*innen aus dem südlichen Lateinamerika in Mexiko verbessert werden kann, die sich jeden Tag massiven Menschenrechtsverletzungen durch Staat und organisiertes Verbrechen ausgesetzt sehen. Dass ausgerechnet der Kandidat, der im Wahlkampf das Ende der neoliberalen Epoche in Mexiko ankündigte, nun mit äußerst unternehmensfreundlichen Projekten Wachstum steigern und Migration eindämmen will, scheint einer der großen Widersprüche zu Beginn dieser neuen Ära in der mexikanischen Geschichte zu sein – und birgt wenig Hoffnung auf Besserung, dafür aber riesiges Konfliktpotenzial.

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