Literatur | Nummer 323 - Mai 2001

An den Kläffern vorbeikommen

Der uruguayische Schriftsteller Mario Delgado Aparaín über die Würde in den Zeiten der Bedrängnis

Die Geschichte spielt in einem uruguayischen Provinzkaff während der Militärdiktatur: Ein Mann ist verhaftet worden, weil er bei der Tupamaro-Guerilla war, und seine kleine Tochter muss heftige Anfeindungen über sich ergehen lassen. Da erfindet ihnen ein Freund eine Vergangenheit, die die Stimmung völlig kippen lässt. Februarmond ist ein Roman über den kleinen, alltäglichen Widerstand und zugleich über die subtile Macht des Erfindens.

Valentin Schönherr

Mario Delgado Aparaín ist ein
Meister der kleinen Geschichten. Nein, nicht der Kurzgeschichten als Genre, sondern der Geschichten, in denen kleine Dinge passieren, wo durchschnittliche Leute ganz normal leben, unscheinbar und auf den ersten Blick kaum der Rede wert. Ein Meister ist Delgado Aparaín deswegen, weil er es versteht, in diesen Geschichten auf überzeugende Weise das Erstaunliche, das Bemerkens- und Liebenswerte zu wecken.
Diese Kunst hatte er bereits in seinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch Die Ballade von Johnny Sosa (1996) vorgeführt. Hier geriet während der uruguayischen Militärdiktatur (1973-84) in einem Provinznest ein Jazzgitarrist mit den Machthabern in Konflikt: Statt des individualistischen Blues sollte er lieber etwas Nationales spielen, Bolero oder Tango. Nachdem er sich anfangs darauf eingelassen hatte, überlegte er es sich dann doch anders und spielte vor allen Leuten einen Blues. Den Schergen, die ihn auf der Stelle mitnehmen wollten, entkam er im letzten Augenblick. Eine kleine Geschichte, in der nicht mehr Heldentum vonnöten ist, als dass ein Mensch im richtigen Augenblick Eigensinn zeigt und sich nicht geschlagen gibt.

Strategisches Fabulieren
In Februarmond ist die Handlung ähnlich gestrickt. Auch hier gibt es einen schrulligen Helden, Gregorio Esnal. Sein Freund Milo Striga sitzt im Gefängnis, weil er als Tupamaro-Guerillero gegen die Militärs gekämpft hatte. Milo Striga wäre bei anderen AutorInnen vielleicht ein Held im landläufigen Sinne, aber hier spielt er bezeichnenderweise nur eine Nebenrolle.
Damit Gregorio Esnal zum Zuge kommen kann, muss er erst einmal in Position gebracht werden. Das macht Delgado Aparaín so: Gregorio Esnal hat sich um die kleine Mercedita, die Tochter seines inhaftierten Freundes, zu kümmern. Sie ist zur Zielscheibe von Argwohn und Zorn geworden, gilt doch ihr Vater als Verräter. Hinzu kommt, dass einstmals bereits Merceditas Großvater, Arpad Striga, viel Hass auf sich gezogen hatte: Als Aufseher in der örtlichen Zuckerraffinerie hatte er mitgeholfen, einen Aufstand der Arbeiter zu unterdrücken. Auf Mercedita rollt nun eine Welle bislang unterdrückten Grolls zu, der sich mit dem Ärger über die bestehenden Verhältnisse mischt.
Gregorio Esnal überlegt lange, wie Mercedita zu helfen wäre. Dann hat er’s: Er, der sein Leben lang am liebsten in Folianten über die Menschheitsgeschichte geschmökert hatte und über eine überbordende Phantasie verfügt, erfindet der Familie Striga eine Ahnenreihe, vor der die Unzulänglichkeiten der letzten beiden Generationen völlig verblassen sollen.
Nachdem sich Esnal vom Ortssheriff, Oberst Valerio, die Erlaubnis geholt hat, öffentliche Vorträge über die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen an zu halten – aber nur unter der Auflage, nicht weiter als bis zu Kolumbus vorzudringen (denn bis dahin kann ja nicht viel Subversives passiert sein) –, versammelt er ein rasch wachsendes Publikum Woche für Woche um sich und fabuliert drauf los.
Beim Neandertaler fängt er an. Er erzählt von einer archäologischen Forschergruppe aus Zagreb, die um das Jahr 1900 tätig ist und zu der ein gewisser Denis Striga gehört. Als sie einmal eine Höhle aus der Steinzeit untersuchen, finden sie unter den menschlichen Überresten – richtig, einen Vorfahren der Strigas, erkennbar an einem blauen Kreuz auf dem Schulterblatt, das sich angeblich als Mal vererbt (und auch an den Schultern von Milo und Mercedita zu sehen ist). Esnal zögert nicht, die Wiederbegegnung des Jetztmenschen mit seinem Urahnen in den wärmsten Farben auszumalen. Den ZuhörerInnen bleibt der Mund offen stehen. Selbst die Honoratioren des Städtchens, die seinen Ausführungen eigentlich nur zu dem Zweck beiwohnen, auf aufrührerische Stellen zu lauern, geraten in den Sog von Esnals Erzählungen. Langsam schweifend findet er einen Striga hier, einen dort, sei es bei den Griechen oder Römern, in Persien oder Ägypten.

Kolumbus oder Eriksson?
Die Vortragsreihe hat den gewünschten Erfolg: Auf dem Grab von Milos Vater liegen von nun an immer frische Blumen, und Mercedita begegnet man mit wachsendem Staunen. Schließlich wird Esnal von Oberst Valerio – dessen Frau zu den begeistertsten ZuhörerInnen zählt – gebeten, zum Jahrestag der Landung von Kolumbus in Amerika den Festvortrag zu halten. Gewissensbisse und Angst überwindend, willigt er ein – es ist seine Chance für den kleinen Widerstand. Er nutzt sie, indem er nicht über Kolumbus, sondern von jener Wikingerexpedition des Jahres 1000 erzählt, bei der nach heutigem Wissen zum ersten Mal Europäer nach Amerika kamen. Und selbstverständlich war an der Seite Leif Erikssons auch ein Striga dabei.
Derweil die Stadt hellauf begeistert ist, wird Esnal verhaftet. Erst nach dem Ende der Militärdiktatur bekommt er die Freiheit zurück, ebenso wie sein Freund Milo Striga. Allerdings ist hier die Geschichte noch nicht zu Ende: Mercedita ist zu einer selbstbewussten jungen Frau herangewachsen. Sie ist mit Oberst Valerios Sohn liiert, der aus der ihm vorbestimmten militärischen Laufbahn ausgebüxt ist. Als beide schließlich die Stadt verlassen, gibt es so etwas wie Genugtuung: Der Oberst, der nach der Diktatur unbehelligt blieb, verliert mit seinem Sohn jemanden, der ihm in seiner Lebensauffassung hätte nachfolgen sollen; das Erbe wird ausgeschlagen. Gregorio Esnals aufrichtiges Engagement hingegen hat Früchte getragen.
Mario Delgado Aparaín hat mit Februarmond (der Titel bezieht sich auf den Monat, in dem die Situation zugunsten der Strigas umschlägt) einen Diktaturroman geschrieben, der sich mit der alltäglichen Unterdrückung, Anpassung und Verweigerung beschäftigt. Er verlangt und schafft Aufmerksamkeit für die unscheinbaren Geschichten. So ist die Handlung denkbar unspektakulär, und bei den noch am ehesten dramatischen Momenten wie zum Beispiel der Haftzeit nimmt sich Delgado Aparaín ganz besonders zurück. Seine Helden haben keinen Kampf mit dem Drachen zu bestehen, sondern sie haben lediglich damit zu tun, an den Kläffern auf der Straße vorbeizukommen. Das ist in der Regel schwierig genug, aber ziemlich wichtig.
Ein Wort zur Übersetzung: Sie dürfte nicht leicht gefallen sein bei einem Autor, der die Möglichkeiten des spanischen Satzbaus umfassend ausschöpft. Delgado Aparaín gelingt es in langen Sätzen mit Partizipien, Pronomen und Gerundialformen wunderbar, dynamisch zu erzählen – nur ist das im Deutschen verteufelt schwer nachzuahmen, weil man dauernd in Nebensätze ausweichen muss oder weil sich die Partizipialkonstruktionen, die im Spanischen locker fließen, nur holperig lesen lassen. Enno Petermann hat sich meist für eine wortnahe Übertragung entschieden, was gelegentlich auf Kosten der Lesefreundlichkeit geht. Wer kann, sollte das Buch auf Spanisch lesen (es erschien unter dem Titel Alivio de luto 1998 im Verlag Alfaguara, Montevideo). Aber auch sonst lässt sich an dem quijotesken Gregorio Esnal, der mit einer anders erzählten Weltgeschichte die Würde eines Mädchens rettet, viel Vergnügen finden.

Mario Delgado Aparaín: Februarmond. Aus dem Spanischen von Enno Petermann. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 225 S., 19.90 Euro.

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