Europa | Lateinamerika | Nummer 607 - Januar 2025

Andere Welten erschaffen

Reflexivität und produktives Scheitern durch educación popular

Wie Bildungsarbeit als Widerstand zum Kapitalismus betrachtet werden kann, erzählt Rubia Salgado von den Vereinen maiz und das kollektiv aus Linz. Trotz schwierigem politischen Kontext in Österreich kämpfen Lehrende und Schüler*innen dort weiter für einen alternativen Bildungsansatz.

Interview: Johanna Fuchs

Wie hat eure Arbeit begonnen?
Maiz und das kollektiv sind Vereine von Migrant*innen. Wir haben hier das, was wir aus Lateinamerika kannten, umgesetzt: informelle Treffen, kleine Veranstaltungen, Parties, gemeinsam Videos schauen und sich zuhören. Das waren Räume der solidarischen Unterstützung. Daraus ist maiz entstanden. Die Personen, die teilgenommen haben, waren vor allem Sexarbeiter*innen aus der Karibik, die hier in Linz gearbeitet haben. Wir haben nach ihren Bedürfnissen und Wünschen gefragt und es gab den Wunsch nach Deutschkursen. Es gab zwar Kurse in Linz, zum Beispiel bei Volkshochschulen, Berufsförderungsinstituten und großen Bildungseinrichtungen. Aber die Frauen sind nicht zu diesen Kursen gegangen oder hingegangen und nicht geblieben. Da gab es Barrieren und Ausschlussmechanismen, die sie zunächst gar nicht benennen konnten. Das war der Anfang von maiz-Basisarbeit und Sprachbildung: Deutsch- und Alphabetisierungskurse. Daraus sind Beratungen entstanden und die Kultur- und Forschungsarbeit. Heute nennen wir das Basisbildung. Ich bin als Koordinator*in und Lehrende tätig. Das ist ein Merkmal von das kollektiv – es gibt keine Koordinator*in, die nicht auch unterrichtet.

Du sagst, dass die Frauen am Anfang die Barrieren, die sie in anderen Deutschkursen wahrgenommen haben, nicht direkt benennen konnten. Welche Barrieren nimmst du wahr? Und was ist bei euch anders?
Eine Sache ist die persönliche Ebene. Menschen kommen hierher und werden persönlich empfangen: Es gibt einen Raum mit Tee, wir sitzen zusammen, wir sprechen miteinander. Es gibt diese Begegnungsebene, sodass die Person nicht das Gefühl hat, in einer untergeordneten Position zu sein. Stattdessen wird sie respektvoll, höflich und mit Zeit empfangen. Wir arbeiten für die Menschen mit den wenigsten Privilegien. Es sind Leute, die wenig in der Schule waren, Leute, die eine fragmentierte Bildungsbiografie haben, aufgrund von Flucht oder anderen Lebenssituationen. Diese Menschen müssen im Sinne feministischer, kritischer Bildungsarbeit beim Lernen begleitet werden. Hat man die Schule besucht, dann sind bestimmte Vorgänge selbstverständlich und internalisiert. Techniken und Strategien, die man dort lernt, müssen wir hier mit ihnen zusammen erst erarbeiten. Das machen andere Einrichtungen kaum. Seit Langem gibt es hier in Österreich und sicher auch in Deutschland eine Debatte darüber, wie der Zugang erleichtert werden kann. Wir haben vor Kurzem in einer Einrichtung gesehen, dass man für eine Anmeldung zum Alphabetisierungskurs auf Deutsch eine E-Mail schreiben muss. Das ist grotesk!

Eure kritische Bildungsarbeit soll feministisch, antirassistisch und antikapitalistisch sein. Welche Konzepte sind euch am wichtigsten? Welchen Platz hat die educación popular dabei?
Educación popular ist die Basis, aber wir bauen auf verschiedenen Einflüssen auf. Der brasilianische Pädagoge und Soziologe Paulo Freire ist eine Referenz. Wichtig sind vor allem bestimmte Prinzipien der educación popular, so wie sie in den 60er- und 70er-Jahren in Lateinamerika entworfen wurden. Dialog ist ein zentraler Grundsatz: Es geht nicht um das Belehren, es geht nicht darum, Wissen zu haben, das ich vermittle und das du passiv aufnimmst. Es geht um die Fähigkeit des Zuhörens. Und da kommt die feministische Postkolonialtheorie hinzu: vor allem Gayatri Spivak. Spivak hilft uns, die educación popular in Bezug auf die Reflexion von Macht mit dem Konzept des hegemonialen Hörens zu verschärfen: Wir müssen uns bewusst sein, wie wir hören, was wir hören und was nicht. Es gibt außerdem das Prinzip der Wechselseitigkeit: Ich lerne, du lernst, das ist zentral in der educación popular. Auch feministisch-marxistische Denkerinnen wie Frigga Haugg hinterfragen, was Lernen eigentlich ist. Wenn ich sage, ich lerne auch von den Lernenden, dann muss ich immer wieder überlegen: Ist das, was ich meine zu lernen möglicherweise die Bestätigung einer Annahme, die ich sowieso schon hatte? Wichtig ist auch bell hooks, die das Denken von Freire feministisch erweitert hat. Wir beschäftigen uns damit, wie wir das Patriarchat kritisieren können, ohne rassistisch zu sein, wie wir über Emanzipation nachdenken können, ohne eurozentrisch zu sein und ohne zu behaupten, wir wüssten, was für eine andere Frau besser ist. Es geht um Reflexivität.

Wie setzt ihr diese Prinzipien in die Praxis um?
Wir verstehen unsere Arbeit als das Eröffnen von Räumen, um über die Welt nachzudenken, um andere Entwürfe von Realität zu produzieren. Wir brauchen Räume des Miteinanderdenkens, in denen wir uns als Lehrende mit unserer Arbeit, mit unseren Herausforderungen auseinandersetzen können. Wir reden dabei über Reflexivität und nicht über Reflexion. Reflexivität ist kollektiv, professionell und kontinuierlich. Reflexion ist das, was ich nach dem Unterricht mit einer Kollegin kurz bespreche oder allein zu Hause überlege. Im Unterricht ist die Umsetzung unterschiedlich. Wie wir das in der Praxis gestalten, ist unterschiedlich. Viele von uns arbeiten mit Freires Methodologie. Er schlägt vor, den Prozess ausgehend von der Besprechung eines Bildes zu starten und auf dieser Basis herauszufinden, was die wichtigen Themen der Gemeinschaft sind, welche Fragen und Probleme es gibt. Daraus entsteht ein gemeinsam erarbeiteter Lehrplan. Wir sind hier, anders als Freire damals jedoch in einer Migrationsgesellschaft. Die Gruppen sind heterogen, die Leute haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Erstsprachen. Das heißt, wir können nicht mit nur einem Bild kommen, wir müssen viele Bilder zur Auswahl geben und arbeiten mit künstlerischen Methoden: mit Fotos, Dokumentationen von Installationen und Malerei, Performance und so weiter.

Was sind die Unterschiede zwischen dieser Art von Sprachbildung und der konventionellen Herangehensweise?
Ein Merkmal dieser Arbeit ist, keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Und mit den Lernenden zu reflektieren, was ein gelungener Lernprozess ist. Die Lebenssituation dieser Menschen macht das Lernen oft fast unmöglich. Traumata, Gesundheitsprobleme, Existenzängste – das alles ist mit im Unterrichtsraum. Es ist zentral, diese externen Faktoren zu benennen anstatt die Menschen als unfähig abzustempeln. Das Lernen ist eine Frage der Zeit, es ist eine Frage der Ressourcen, der Rahmenbedingungen.

Was sind die politischen Ziele hinter eurer Arbeit als Kollektiv?
Wir wollen, dass der Staat seiner Verantwortung nachkommt. Dass Lernende, Migrant*innen und geflüchtete Menschen gratis Zugang zu Kursen haben. Uns ist dabei wichtig, dass es ein Angebot ist und keine Verpflichtung. Niemand soll verpflichtet werden, Deutsch zu lernen. Niemand soll sanktioniert werden, weil sie eine bestimmte Leistung beim Erwerb der deutschen Sprache nicht erbringen kann.

Wir kämpfen auch für die Durchlässigkeit im Bildungssystem, dafür, dass Migrant*innen und geflüchtete Frauen* Zugang zu weiterführender Bildung haben. Uns geht es um den Kampf gegen die Instrumentalisierung unseres Arbeitsbereiches. Früher durfte jeder unterrichten, auch ohne Ausbildung, mittlerweile wurde der Bereich professionalisiert. Das ist gut, aber der Kapitalismus und der Neoliberalismus gingen damit einher. In den Sprachkursen sollen Migrant*innen, die „Barbaren“, zum „zivilisierten Bürger“ gemacht werden. Das ist ideologisch, eurozentrisch und gewaltvoll. Es ist aus einer feministischen Perspektive haarsträubend, wie über Migrant*innen gesprochen und gedacht wird. Die Entneoliberalisierung dieses Verhältnisses ist ein Riesenkampf, ebenso der Widerstand gegen Eurozentrismus und dagegen, dass dieser Diskurs von rechter Politik genutzt wird.

Inwiefern sind diese Forderungen und Kämpfe Teil eurer alltäglichen Arbeit mit den Lernenden?
Wir veranstalten regelmäßig Treffen, um über diese Themen zu sprechen. Zu denen kommen auch manchmal die Kursteilnehmer*innen. Es gibt Räume der politischen Arbeit im Sinne von Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, Demos organisieren, Texte und Stellungnahmen gemeinsam schreiben. Aber vor allem gehen wir mit den Frauen aus den Kursen auf die Straße und in die Öffentlichkeit. Außerdem machen wir viel Bildungsarbeit und Kulturarbeit. Im Unterricht bereiten wir zum Beispiel die Demos am 8. März oder im November zum Thema Gewalt gegen Frauen vor, überlegen uns Sprüche, Beiträge, Ausstellungen.

Was waren wichtige Momente im Verlauf der Geschichte von maiz und von das kollektiv? Wie hat sich die Arbeit verändert?
Heute ist es verdammt schwierig. Hier in Oberösterreich ist die Landesregierung schwarz, ÖVP, und blau, FPÖ. Die aktuelle Bundesregierung ist schwarz und grün. Wir können wenig bewegen. Wir haben in der Geschichte unserer Arbeit immer gekämpft, um in Entscheidungsräumen mitzuwirken. Wir haben unsere Teilnahmen in verschiede­nen Beiräten, in verschiedenen Gremien reklamiert und haben zumindest halbwegs Diskussionen und Tendenzen beeinflusst. Wir waren stark im Stadtkulturbeirat, im Landeskulturbeirat, in Vorständen, Bundesverbänden, regionalen Verbänden. Da haben wir einiges beeinflusst. Auch im Bildungsbereich haben wir bis 2017 viel bewirkt. Wir waren jahrelang in einem Fachgremium im Bildungsministerium und konnten die Konzeption von Basisbildung in Österreich mitbestimmen. Das Ganze wurde von der neuen Regierung abgeschafft und heute gibt es eine kompetenzorientierte Konzeption. Es gelingt uns nicht mehr, konkrete Einflüsse auszuüben, es gelingt uns nicht, Gesetze zu verändern. Es klingt etwas pessimistisch, weil die Lage tatsächlich ernst ist. Wir haben keinen Zugang mehr zu den politischen Räumen, in denen Entscheidungen getroffen werden. Aber wir haben die Straße, die Kurse und viele Verbündete. Wir sind schon immer im Widerstand gewesen und jetzt sind wir das noch mehr.

Welche Perspektive seht ihr?
Die Leute, die bei uns Kurse besuchen, verlassen sie mit einem Verständnis von Recht und Ungerechtigkeit. Sie üben Einfluss auf ihre Umwelt aus und entwickeln Selbstbewusstsein, auch im Umgang mit Behörden. Das ist unsere Hoffnung. Außerdem wollen wir im Austausch mit anderen Gruppen stärker werden. Wir wollen, dass wir uns gegenseitig unterstützen, gemeinsam kämpfen und mehr werden. Aber wir erleben eine historisch sehr komplexe und heraus­fordernde Zeit.

Was sind Gedanken und Themen, die du anderen mitgeben willst?
Eine Frage für mich bleibt, wie wir trotz Neoliberalismus und Kompetenzorientierung arbeiten können. Wir werden als Lehrende und Beratende angehalten und sogar verpflichtet, Menschen zu selbstorganisierten, optimierten Menschen zu bilden; zu Menschen, die das machen, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Sie sollen allein für sich selbst verantwortlich sein, für ihren Erfolg und für ihren Misserfolg. Alles ist individualisiert. Unsere Arbeit geht jedoch viel mehr in Richtung Kollektivierung. Wie können wir zusammen eine bessere Welt gestalten? Das ist eine riesige Herausforderung. Denn die Bildungsarbeit steht im Dienst der Wirtschaft. Menschen werden in ein System gepresst, das sie ausbeutet. Wir müssen vom Globalen Süden lernen. Ein weiterer wichtiger Aspekt für uns ist, dass alle das Recht auf Poesie, Abstraktion und Metaphern haben. Warum sollen Migrant*innen nur kommunikative Fähigkeiten für den Alltag lernen? Sie wollen uns instrumentalisieren und wir sagen nein. Wir versuchen, im Widerstand zu bleiben!

Das Interview ist eine gekürzte und vorveröffentlichte Version eines Beitrags aus der Broschüre Sprache als Mittel der Migration. Erfahrungen mit educación popular im Kontext des Deutschlernens, welche im Februar 2025 vom Centro de Educación Lohana Berkins (siehe Kasten unten) in Kooperation mit European Alternatives e.V. herausgegeben werden wird.

Teilnehmende und Lehrende lernen gemeinsam Mit Ansätzen wie educación popular und Theater der Unterdrückten, hier im CEP (Foto: CEP)

RUBIA SALGADO

ist als Erwachsenenbildner*in und Autor*in in selbstorganisierten Kontexten tätig. Sie ist Mitbegründer*in der Selbstorga­nisation maiz in Linz sowie Projektkoordinator*in und Unterrichtende im Verein das kollektiv.

MAIZ

ist ein Verein von und für Migrant*innen in Linz in Oberösterreich. Er wurde 1994 aus Basisarbeit gegründet und definiert sich als antikapitalistisch, queerfeministisch und antirassistisch. Kritische Bildungsarbeit, Austausch, Widerstand und gemeinschaftliche Gestaltung bekommen hier Raum. 2015 wurde aufgrund politischer Zwänge der Verein das kollektiv gegründet. Die zwei Vereine arbeiten miteinander. In das kollektiv geschieht seitdem die Bildungsarbeit. Die Vereine sind unter anderem in der Erwachsenenbildung mit migrierten und geflüchteten Frauen und Personen aus der LGBTIQ*-Community tätig.


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