Chile | Nummer 498 - Dezember 2015

„Angst vor Selbstbestimmung“

Warum das geplante Abtreibungsgesetz der bestmögliche Kompromiss ist, erklärt die chilenische Frauenrechtlerin Carolina Carrera im Interview

Chile hat eine der restriktivsten Abtreibungsgesetzgebungen weltweit. Erstmals seit Ende der Diktatur hat nun eine Gesetzesini­tiative Aussicht auf Erfolg, die eine Legalisierung der Abtreibung unter bestimmten Bedingungen vorsieht. Während die Bevölkerungsmehrheit zustimmt, vergleichen „Lebensschützer*innen“ in einer großangelegten Kampagne Abtreibung mit Folter, Tod und Verschwindenlassen zu Diktaturzeiten. Die Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation Corporación Humanas, Carolina Carrera, erklärt die Hintergründe des Gesetzesprojekts.

Von Interview: Eva Bräth
Unter Strafe gestellte Abtreibung ist Gewalt durch den Staat (Foto: Daniel Lobo CCBY20)
Unter Strafe gestellte Abtreibung ist Gewalt durch den Staat (Foto: Daniel Lobo CCBY20)

In Chile gilt ein Komplettverbot der Abtreibung. Welche gesundheitlichen Risiken gehen die Frauen ein, die unter nicht fachgerechten Bedingungen dennoch einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen?
Es gibt schwerwiegende Folgen im Bereich der reproduktiven sowie der psychischen Gesundheit. Die Frauen, die nach Komplikationen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, befinden sich teilweise in Lebensgefahr. Oft durch die fehlerhafte Einnahme des Medikaments Misoprostol, das auf dem Schwarzmarkt gehandelt wird. Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch mit Misoprostol wäre heutzutage unter medizinischer Beobachtung eine der am wenigsten gefährlichen Abtreibungsformen. Aber die Frauen wissen nicht genau, was sie kaufen und wie man es anwendet. Frauen, die es sich finanziell leisten können, lassen in Privatkliniken innerhalb des Landes oder im Ausland abtreiben. Gefährdet sind also vor allem einkommensschwache Frauen.

Die Gesundheitskommission der Abgeordnetenkammer hat nun einem Gesetzesentwurf der Regierung zugestimmt, der die Legalisierung unter drei Bedingungen vorsieht: Bei Lebensgefahr für die Frau, Lebensunfähigkeit des Fötus sowie Schwangerschaft durch Vergewaltigung. Wie bewertet Ihre Organisation die Initiative?
Wir denken, diese Regelung ist ein Fortschritt und ein ethischer Mindeststandard. Immerhin hilft sie einer bestimmten Anzahl von Frauen. Diejenigen, die andere Gründe haben, um abzutreiben, werden aber immer noch kriminalisiert. Die Initiative ist eine politische Vereinbarung zwischen den Mitgliedern des Parteienbündnisses und war so ausgerichtet, dass auch die Christdemokratische Partei (Mitglied des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría, Anm. d. Red.) zustimmen konnte. Der Verhandlungsspielraum war von Beginn an recht begrenzt.
Teile der feministischen Bewegung äußern scharfe Kritik an der Regelung. Warum?
In der feministischen Bewegung fürchten einige, dass das Thema mit dieser Gesetzgebung für eine lange Zeit vom Tisch sein wird und sich so die Möglichkeit verschließt, ein umfassenderes Selbstbestimmungsrecht der Frau durchzusetzen. Sie kritisieren, dass im Zentrum der Debatte Fragen der Gesundheit und nicht das Selbstbestimmungsrecht stehen. Andere entgegnen: Ja, das kann passieren, aber es öffnet uns auch eine Tür, vor allem auf symbolischer Ebene. Zweitens hilft die Regelung einer bestimmten Anzahl von Frauen. Drittens eröffnet sie einen rechtlichen Weg, um auch die anderen Fälle angehen zu können. Zudem gibt es in Chile gerade die Debatte über eine neue Verfassung und das wäre ein anderer Weg, um das Thema anzugehen.

Wie wurde die Abtreibungsfrage in der Gesundheitskommission verhandelt?
Sehr polemisch! Es ist ein Thema, das spaltet. Die politische Rechte hat die Initiative vollständig abgelehnt. Die Abgeordneten der Nueva Mayoría haben zwar zugestimmt. Aber einige betonten, dass es sich um ein Thema der Gesundheit handelt und nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Frau geht. Es gibt eine regelrechte Angst vor dem Selbstbestimmungsrecht. In Chile werden Frauen wie kleine Mädchen behandelt, die nicht entscheidungsfähig sind. Im Kongress argumentierte man sogar, dass die Legalisierung der Abtreibung nach einer Vergewaltigung dazu führen würde, dass Frauen zukünftig immer vorschieben werden, vergewaltigt worden zu sein. Es ist eine Schande!

Die erste Hürde ist mit der Zustimmung durch die Gesundheitskommission genommen. Wie geht es weiter?
Kommentierungen der Gesundheitskommission haben den Entwurf abgeschwächt. Ursprünglich sprach er von einer Legalisierung, wenn Gesundheitsrisiken für die Frau akut auftreten oder zukünftig zu erwarten sind. Das wurde auf den Fall der akuten Lebensgefahr beschränkt. Nun wird das Projekt an die Kommission für Verfassung, Gesetzgebung und Justiz weitergereicht. Anschließend muss das Plenum zustimmen bzw. entscheiden, ob Veränderungen vorgenommen werden. Dann geht die Gesetzesinitiative an den Senat. Wir hoffen, dass dieser Prozess nicht sehr lange dauert. Inzwischen wurden alle Organisationen angehört und es besteht die Gefahr, dass die Debatte übersättigt wird. Die Abgeordneten besitzen nun hinreichend Informationen, um zu entscheiden.

Aber Sie rechnen mit einer Zustimmung der Mehrheit?
Eigentlich dürften genügend Stimmen vorhanden sein, um das Gesetz verabschieden zu können. Wir hoffen, dass alle Parteien der Regierungskoalition zustimmen. Denn es werden sogar dort Stimmen laut, dass die Abgeordneten eine Gewissensentscheidung treffen sollen. Warum stimmen sie in anderen Fragen, die unsere Demokratie betreffen, parteibezogen ab und hier soll es nun eine Gewissensentscheidung sein? Wenn es um das Gewissen ginge, müssten die Frauen befragt werden! Warum sollte das Gewissen der Abgeordneten stärker wiegen als das der Frauen?

Teile der Opposition haben bereits verlautbaren lassen, dass sie den Gesetzestext als verfassungswidrig einstufen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass der Gesetzgebungsprozess auf diese Weise noch einmal blockiert wird?
Die politische Rechte hat bereits angekündigt, das Projekt vor dem Verfassungsgericht anzufechten. In letzter Zeit sind sie mit Themen, die ihnen nicht passen, so verfahren. Feministische Jurist*innen bereiten sich gerade darauf vor, um die notwendige Argumentation parat zu haben, wenn es vor das Verfassungsgericht geht.

Das Abtreibungsverbot ist ein Erbe der Diktatur Pinochets. Warum hat es nach Ende der Diktatur 25 Jahre gedauert, bis nun eine Änderung angestoßen wird?
Bis 1989 war der Schwangerschaftsabbruch bei einer Lebensgefahr Frau legal. Mit der Streichung dieser Regelung versuchte Pinochet kurz vor Ende der Diktatur Teile seines Regimes aufrecht zu erhalten – nämlich ein Gesellschaftsmodell, in dem Frauen keine Rechte haben.
In den vergangenen 25 Jahren wurden in Chile 17 Anträge auf eine Gesetzesänderung eingereicht; allerdings keiner von Seiten der Regierung. Die meisten wurden abgelehnt, die anderen wurden zu den Akten gelegt, ohne dass es zur Diskussion kam. Einzig der Antrag, den die Regierung Bachelet nun selbst ins Parlament eingebracht hat, hat zu etwas geführt.

Was ist heute anders?
In den letzten drei Präsidentschaftswahlkämpfen wurde deutlich, dass der Frage nicht mehr ausgewichen werden kann. Das hat mit dem Kampf der feministischen Bewegung und den Medien zu tun, die es öffentlich gemacht haben. Dazu beigetragen hat auch, dass wir Abtreibung nicht nur als ethische Frage, sondern als Gegenstand der Demokratie und öffentlicher Politiken in die Debatte eingebracht haben. Die Präsidentschafts-kandidat*innen wurden gezwungen, dazu Stellung zu nehmen.

Gab es außer der Mobilisierung der feministischen Bewegung andere Faktoren, die zur Neuverhandlung beigetragen haben?
Die chilenischen sozialen Bewegungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie haben das Thema zwar nicht auf die Agenda gebracht, aber sie haben es aufgenommen. Heutzutage reden Akteure wie die Präsidentin der Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos über das Recht der Frauen auf eine selbstbestimmte Entscheidung. Wir haben also wichtige soziale Akteure auf unserer Seite. Das war vor acht Jahren vielleicht nicht so. Die Stimmung ist anders. Die katholische Kirche hat nach den Missbrauchsfällen an Glaubwürdigkeit verloren. Dadurch befinden wir uns in einem politisch opportunen Moment. Und die Gesellschaft ist reifer geworden. Wir sagen: Die chilenische Gesellschaft weiß, was sie möchte, aber das Parlament nicht. Auch der internationale Druck hat dazu geführt, dass die Frage nicht länger aus Debatten ausgeklammert werden kann. Internationale Organisationen forderten den chilenischen Staat seit 1989 dazu auf, die Gesetzgebung zu überarbeiten.

Steht die Gesellschaft in einem katholisch geprägten Land wie Chile eindeutig hinter der Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung?
In den Meinungsumfragen sprechen sich 70 Prozent für die Entkriminalisierung aus, unter den Frauen sind es noch viel mehr. Sobald man aber die feministische Forderung einer generellen Entkriminalisierung zur Debatte stellt, befürworten das nur noch 20 bis 30 Prozent. Und ein Drittel spricht sich auch weiterhin für ein Komplettverbot aus. Es gibt also zwei Lager. Deswegen ist die vorgeschlagene Regelung die einzige Möglichkeit, momentan eine Mehrheit hinter sich zu haben. Eine Gesetzesinitiative, die den Schwangerschaftsabbruch komplett legalisiert, ist derzeit nicht durchsetzbar.

 

Carolina Carrera
ist Vorsitzende der Frauenrechtsorganisation Corporación Humanas, Chile sowie Beraterin des Nationalen Menschenrechtsinstituts des chilenischen Staates. Die Psychologin trägt seit vielen Jahren zu akademischen und zivilgesellschaftlichen Debatten über Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte bei.

Schwangerschaftsabbruch in Chile
Laut chilenischem Gesundheitsministerium lassen jährlich 33.000 Mädchen und Frauen eine Abtreibung vornehmen. Mehr als zehn Prozent sind Mädchen und junge Frauen zwischen zehn und 19 Jahren. Erfasst werden die Fälle, in denen Frauen nach Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Studien von Wissenschaftler*innen und Nichtregierungsorganisationen gehen von mindestens 60.000 illegalen Abtreibungen pro Jahr aus. Schätzungen von Human Rights Watch zufolge treiben bis zu 160.000 Frauen jährlich ab, etwa 64.000 von ihnen sind jünger als 18 Jahre. Die Zahl der Fälle, die strafrechtlich verfolgt werden, scheint demgegenüber gering. So hat die chilenische Staatsanwaltschaft im Jahr 2014 in 174 Fällen ermittelt. Dennoch ist diese Zahl höher als in den meisten Ländern weltweit. Im Unterschied zu El Salvador gibt es in Chile derzeit keine Frauen, die wegen Abtreibung inhaftiert sind. Aber in den Führungszeugnissen der verurteilten Frauen gibt es einen entsprechenden Vermerk.

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