Aktuell | Chile | Nummer 557 - November 2020

APRUEBO – UND DANN?

Ein Jahr nach Beginn der Proteste steht Chile vor dem Verfassungsreferendum

Am 25. Oktober werden die Chilen*innen in einem Plebiszit entscheiden, ob Chile eine neue Verfassung bekommt und wenn ja, wie sie ausgearbeitet werden soll: von einer im April 2021 vollständig neu zu wählenden verfassungsgebenden Versammlung oder einer, die sich je zur Hälfte aus gewählten Delegierten und Parlamentsabgeordneten zusammensetzt. Weil die Entscheidung bereits festzustehen scheint, diskutiert das Land schon jetzt über das Danach. Währenddessen werfen nicht nur neue Fälle von Polizeigewalt und das Missmanagement in der Corona-Pandemie ein schlechtes Licht auf die Regierung von Präsident Sebastián Piñera.

Von Martin Schäfer & Susanne Brust

Und sie wird fallen Protest gegen die Verfassung aus Diktaturzeiten (Foto: Diego Reyes Vielma)

Schon seit einem Monat läuft im chilenischen Fernsehen die Wahlkampfkampagne zum Plebiszit, in der täglich je ein 15-minütiger Block zu beiden Fragen ausgestrahlt wird. Die Sendezeit – je eine Hälfte für Befürworter*innen und Gegner*innen einer neuen Verfassung – wird unter den für die jeweilige Option werbenden Parteien entsprechend ihrer parlamentarischen Stärke aufgeteilt. Dabei sind sie verpflichtet, auch Initiativen der Zivilgesellschaft zu Wort kommen zu lassen. Auftritte bekannter Politiker*innen sind jedoch ohnehin die Ausnahme, vielmehr geben die Parteien sich nahbar und lassen Bürger*innen für sie sprechen.

Auch außerhalb der Fernsehspots bringt sich die Zivilgesellschaft ein. Feministische Organisationen wie die Coordinadora 8M starteten in Anlehnung an die Protestform, mit der vor einem Jahr alles begann, die Twitter-Kampagne #ASaltarLosTorniquetes („Springen wir über die Drehkreuze“) für eine vollständig gewählte verfassungsgebende Versammlung. Sie kämpfen für eine starke aktivistische und feministische Präsenz im Verfassungsprozess: „Sie denken, dass sie mit ihrer Vereinbarung das abwürgen können, was wir angestoßen haben. Aber das können sie nicht. Wir werden sie nicht lassen!“, beginnen Aufrufe in Anspielung auf die von Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen im November 2019 ausgehandelte Vereinbarung zur Initiierung des Verfassungsprozesses. Eines der konkreten Anliegen der Kampagne ist ein solidarisches Pensionssystem, bei dem die Einlagen von den Arbeiter*innen selbst verwaltet und auch Hausarbeit berücksichtigt werden.

In der Kampagne treten die Mitte-Links-Parteien für das Apruebo (ein Ja zur neuen Verfassung) und eine vollständig gewählte Versammlung ein. Präsident Piñera verordnete sich und seinen Minister*innen zwar offizielle Neutralität, erklärte aber auch, dass er nichts davon halte, bei einer neuen Verfassung bei Null zu beginnen. So veröffentlichte er zehn Punkte, die eine neue Verfassung berücksichtigen solle, darunter die wichtige Rolle von Familie sowie privaten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Für Carlos Maldonado, den Vorsitzenden der moderat linken Radikalen Partei (PR), handelt es sich dabei um eine „einfache Zusammenfassung der aktuellen Verfassung“ – die noch auf die Zeit der Diktatur zurückgeht.

Für eine starke aktivistische und feministische Präsenz im Verfassungsprozess

Während die rechten Regierungsparteien mehrheitlich für das Rechazo, also gegen eine neue Verfassung, eintreten, haben sie sich intern bereits mit einem Sieg des Apruebo abgefunden. Nicht ohne Grund: Laut der Umfrage Pulso Ciudadano beabsichtigen 83 Prozent der Chilen*innen, dafür zu stimmen und 67 Prozent sind dafür, die Verfassungsversammlung gänzlich neu zu wählen. Einige wechseln daher die Seiten: Der in der rechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) einflussreiche Politiker Pablo Longueira etwa verkündete Anfang September, er sei für Apruebo, um einen Tag später zuzugeben, dass er sich damit lediglich eine bessere Ausgangsposition für Kämpfe in der Verfassungsversammlung erhoffe. Joaquín Lavín (UDI), Bürgermeister des Viertels Las Condes in Santiago und in Umfragen derzeit Spitzenreiter für die Präsidentschaftswahl im November 2021, wirbt ebenfalls für Apruebo. Er verkündete sogar, dass er sich inzwischen als „Sozialdemokrat“ sehe, was in der Rechten zu großem Streit führte.

Doch auch die indigenen Mapuche sind sich uneins. Sie stellen zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung, genießen jedoch wie alle indigenen Gruppen in der geltenden Verfassung keine offizielle Anerkennung. Laut einer Umfrage des Cadem-Instituts sind 93 Prozent der Chilen*innen der Ansicht, dass sich das ändern sollte. Viele Mapuche verbinden den Verfassungsprozess daher mit der Hoffnung auf ein Ende ihrer Ausgrenzung, beispielsweise durch die Gründung eines plurinationalen Staates oder durch eine Quotenregelung im Parlament. Die feministische Mapucheaktivistin Ninoska Pailaküra erklärte gegenüber LN: „Ich stimme für ‘Ja’ und für eine gewählte Verfassungsversammlung, in der die Belange der indigenen Bevölkerung berücksichtigt werden.“ Salvador Millaleo, Mapuche, Anwalt und Soziologe aus Santiago, ist sicher, dass die meisten so denken: „Die Mehrheit der Mapuche glaubt, dass es eine Veränderung ihres Status innerhalb des chilenischen Staats geben muss“, sagte er El País gegenüber. Die Mehrheit, aber nicht alle: Radikalere Organisationen wie die Coordinadora Arauco Malleco lehnen den Verfassungsprozess ab. Ihr Sprecher Hector Llaitul erklärte gegenüber Radio Universidad de Chile: „Wir werden uns nicht den Kämpfen der Chilenen anschließen, schon gar nicht, wenn es um staatliche Institutionen geht, denn diese repräsentieren uns nicht. Wir würden nur einem Staatswesen Kontinuität verleihen, das unser Volk unterdrückt. Der Kampf der Mapuche folgt einem anderen Weg: dem des Wiederaufbaus der Mapuche-Nation.“

„Indigene Belange werden immer beiseitegelassen“

Es wird deutlich, dass sich sowohl Zivilgesellschaft als auch Parlament inzwischen auf die offenen Punkte der künftigen Verfassungsver- sammlung konzentrieren. Ursprünglich waren Forderungen laut geworden, die angemessene Beteiligung von Frauen, unabhängigen Kandidat*innen und Indigenen sicherzustellen. Während die Geschlechterparität im März gesetzlich abgesichert wurde, stehen Regelungen zu den anderen beiden Gruppen noch aus.

Bei den Unabhängigen gibt es nun Bewegung: Seit dem 6. Oktober liegt ein Gesetzesentwurf vor, der die Anzahl der nötigen Unterschriften deutlich herabsenkt und ihre elektronische Einreichung bei der Wahlbehörde erleichtert. Hingegen konnten sich Regierung und Opposition bisher nicht einigen, wie viele Sitze für Indigene reserviert werden und wer in das Wähler*innenverzeichnis eingetragen werden kann. Jessica Cayupi, Anwältin und Sprecherin des Mapuche-Frauennetzwerkes, kommentierte gegenüber Radio Universidad de Chile: „Indigene Belange werden immer beiseitegelassen und erhalten nie die nötige Aufmerksamkeit. Der Staat sieht uns wie Bürger*innen zweiter Klasse, aber mit den Veränderungen nach dem 18. Oktober darf das nicht mehr so bleiben.”

Eine Skepsis gegenüber Veränderungsmöglichkeiten durch eine neue Verfassung spiegelt sich auch in einer nicht repräsentativen Onlineumfrage wieder, zu der Berufsverbände und linke Bürgermeister*innen wie Jorge Sharp aufgerufen hatten. Die überwältigende Mehrheit der etwa 7.000 teilnehmenden Bürger*innen war der Ansicht, dass die Verfassungsversammlung mit einfacher statt mit Zweidrittelmehrheit Beschlüsse fällen und auch Entscheidungen zu internationalen Verträgen treffen können sollte – was ihr verboten sein wird. Ebenso sprachen sie sich klar dafür aus, dass das Mandat der Delegierten nicht frei, sondern an das Votum von Bürger*innenversammlungen gebunden sein sollte. Mario Aguilar, der Präsident des Lehrerverbandes, kommentierte auf einer Onlineveranstaltung des Verbandes: „Die Ergebnisse zeigen, dass der Prozess ein Demokratiedefizit hat, das gelöst werden sollte.“

Die neue Verfassung ist jedoch nicht das einzige Thema, das derzeit die politische Agenda dominiert. So ist neben der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen während der Proteste und dem Corona-Management die Reform der Polizeiinstitution Carabineros in aller Munde. Präsident Piñera hatte zunächst angekündigt, keine Mühen zu scheuen, „damit es in Chile keine Straflosigkeit gibt, weder für die, die die Menschenrechte angreifen, noch für Gewalttäter“. Doch die Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Beginn des estallido social – unter anderen gegen Piñera selbst – verlaufen seit über neun Monaten im Sande.

Die Aufklärung der Polizeigewalt wird von den Behörden verschleppt und behindert

Recherchen des Investigativportals CIPER belegen, dass bisher weder das Innenministerium die angeforderten Informationen darüber bereitgestellt habe, wer vor einem Jahr die Befehle an Carabineros und das Militär gab. Noch habe die Staatsanwaltschaft Valparaíso, bei der die Anklage gegen Piñera, den ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick, seinen inzwischen ebenfalls geschassten Nachfolger Gonzalo Blumel, den Generaldirektor der Carabineros Mario Rozas und andere vorliegt, keine Aussagen von Beteiligten aufgenommen._Offiziell heißt es, man warte auf angeforderte Informationen. Organisationen wie das chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) beklagen allerdings, amtliche Schreiben gar nicht erst erhalten zu haben. Die einzigen konkreten Informationen lieferten bisher die Carabineros selbst: Sie gaben an, in den ersten 14 Tagen der Proteste 104.000 Schüsse mit Gummigeschossen abgegeben zu haben – etwa 7.500 am Tag. Fragen über Anordnungen des Innenministeriums beantworteten die Carabineros jedoch nur unvollständig.

Auch aktuell sorgen sie wieder einmal für Proteste. Bei Demonstrationen im Zentrum Santiagos kam es am 2. Oktober zu einer besonders brutalen Szene, bei der ein Carabinero einen Demonstranten über ein Brückengeländer stieß. Der 16-Jährige erlitt zwei Handgelenkbrüche und ein Schädelhirntrauma. Die Carabineros stritten jegliche Verantwortung zunächst vehement ab. Jedoch zeigen Aufnahmen der Situation deutlich, wie der Jugendliche über das Geländer gedrückt wird. Der verantwortliche Polizist sitzt nun in Untersuchungshaft und muss sich wegen versuchten Mordes vor Gericht verantworten.

Die Pandemie liefert zusätzlichen politischen Zündstoff

Wenige Tage nach dem Vorfall erstattete das INDH Anzeige gegen Sebastián Piñera, Innenminister Víctor Pérez und Carabinero-Direktor Rozas. Auch Angehörigen des Verletzten, Demonstrierenden und Oppositionspolitiker*innen gehen die Schritte bisher nicht weit genug. Sie fordern Rozas’ Rücktritt. Doch der genießt das Vertrauen des Innenministers: „Die Carabineros werden immer mit der Unterstützung der Regierung rechnen können“, kündigte Pérez an.

Die Carabineros stehen schon lange wegen des exzessiven Gebrauchs von Gewalt und Anti-Riot-Waffen in der Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Nach dem jüngsten Vorfall auf der Brücke Pío Nono fordert die parlamentarische Kommission für die Sicherheit der Bürger*innen nun Mario Rozas sowie Innenminister Víctor Pérez auf, konkrete Schritte für eine grundlegende Reform der Behörde einzuleiten. Dieser Forderung schloss sich auch das Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte an.

Der Weg für eine Reform der Carabineros, die die Regierung seit 2018 plant, ist nach einer Abstimmung im Abgeordnetenhaus Anfang Oktober frei. Innenminister Pérez hat bereits die Gründung einer Kommission zur Ausarbeitung einer Reformstrategie angekündigt. Die Gruppe soll aus zehn Mitgliedern bestehen: darunter technische Expert*innen, Vertreter*innen des Innenministeriums, der staatlichen Stelle zur Verbrechens- vorbeugung und dem Frauenministerium. Kritiker*innen beklagen die fehlende Beteiligung der Bürger*innen in der Kommission, die zunächst Vorschläge zur Professionalisierung und zur Sensibilisierung der Carabineros in Sachen Menschenrechte ausarbeiten soll. Auch gegen die weitreichende Veruntreuung von Geldern durch Polizist*innen (siehe LN 526) soll eine Strategie erarbeitet werden.

Durch die Pandemie hat sich die Menge des politischen Zündstoffes weiter vergrößert, denn die Fehleinschätzungen der Regierung hatten zunächst zu einer dramatischen Entwicklung der Pandemie im Land geführt (siehe LN 550). Seit Anfang August haben sich die Zahlen der aktiven Covid-19-Erkrankungen nun stabilisiert. Die Sterberate ist jedoch unverändert hoch. Mit knapp 13.000 verstorbenen Covid-19-Patient*innen gehörte Chile Anfang Oktober weltweit zu den zehn Ländern mit den meisten Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Wegen der stabilen Fallzahlen gehen die Kommunen der stark betroffenen Metropolregion Santiagos trotzdem in die nächste Phase über. So gibt es nach fast 200 Tagen Lockdown keine generellen Ausgangssperren mehr, obwohl der Katastrophenfall bis Ende Oktober verlängert wurde. Zur „Sicherung der öffentlichen Ordnung“ wird weiterhin das Militär eingesetzt.

Mit den Lockerungen der Coronamaßnahmen und in Vorbereitung auf das Referendum füllen sich die Straßen der Hauptstadt Santiago derweil wieder mit Demonstrationen, Fahrradkorsos und Protestaktionen. Am 5. Oktober kam es zu nächtlichen Ausschreitungen, bei denen Protestierende die Freilassung der politischen Gefangenen der Proteste forderten. Das Verfassungsplebiszit ist der vorerst größte politische Erfolg, den die nun einjährige Bewegung erreichen konnte. Dessen Ausgang scheint klar – spannend wird vor allem die Frage, inwiefern die Zivilgesellschaft ihre grundlegenden Forderungen während des verfassungsgebenden Prozesses gegenüber der politischen Elite durchsetzen kann.

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