Argentinien und Siemens vor dem Weltbankschiedsgericht
Siemens erhält 217 Millionen US-Dollar wegen Vertragsaufkündigung
Während in den USA und Deutschland die Enthüllungen und Ermittlungen über die von Siemens geleisteten „zweifelhaften Zahlungen“ von bis zu 1,3 Milliarden Euro weitergehen, wurden Mitte April neue Vorwürfe bekannt. Die Konzernspitze – so ein Siemens-Manager – habe „Provisionszahlungen“ von zehn Millionen US-Dollar für ein Geschäft in Argentinien in Auftrag gegeben. Es geht dabei um einen Fall, der vor dem Weltbankschiedsgericht (ICSID) verhandelt wurde. Dabei wurde der argentinische Staat zu Entschädigungszahlungen von 217 Millionen US-Dollar verurteilt.
Seit der Wirtschafts- und Sozialkrise von 2001 wurde Argentinien von transnationalen Konzernen in 43 Prozessen auf insgesamt über 30 Milliarden US-Dollar verklagt. Die Konzerne werfen dem argentinischen Staat vor, sie „enteignet“ zu haben. Da Argentinien in den 1990er Jahren vor allem mit europäischen Staaten eine Reihe bilateraler Investitionsschutzabkommen geschlossen hatte, können die Konzerne auf Basis dieser Verträge vor das ICSID ziehen. In der Klage „Siemens gegen den argentinischen Staat“ geht es um die durch Argentinien ausgesprochene Aufkündigung des noch 1998 groß gefeierten Vertrags für die Anfertigung neuer argentinischer Personalausweise. Siemens hatte im Jahr 1998 den Zuschlag für die Herstellung neuer Ausweise und zur Umstellung auf ein computergesteuertes System an den argentinischen Grenzübergängen aufgrund des günstigsten Angebots gegen MitbewerberInnen gewonnen.
Die Aufforderung an Siemens, eine Kostenauflistung vorzulegen, wehrte der Konzern stets ab
Doch die Erfüllung des Vertrags verlief alles andere als reibungslos: Technische Probleme bei der Fertigung der ersten und bis heute einzigen von Siemens produzierten 3.000 Personalausweise hatten seitenverkehrte Fingerabdrücke: Rechts und links waren von den Siemens-TechnikerInnen verwechselt worden. Schließlich erhöhte Siemens entgegen der ursprünglichen Angaben die Preise je Ausweis deutlich. Aufgrund all dieser Missstände beschloss der argentinische Staat, die Vertragsausführung zu unterbrechen und gründete im Jahr 2000 eine Kommission zur Neuverhandlung im Rahmen des Gesetzes zum wirtschaftlichen Notstand. Die Verhandlungen scheiterten, selbst der Druck von Seiten der Regierung Schröder konnte die endgültige Aufkündigung des Vertrags nicht mehr verhindern.
Daraufhin beschloss Siemens, auf Basis des deutsch-argentinischen Investitionsschutzabkom‑
mens, Argentinien vor dem ICSID zu verklagen. Ursprünglich belief sich die Forderung des deutschen Unternehmens auf eine Entschädigungssumme von 602 Millionen US-Dollar, diese wurde aber bald auf 500 Millionen reduziert. In dem Schiedsspruch vom 6. Februar 2007 wurde Argentinien schließlich zur Zahlung von 217 Millionen US-Dollar wegen Enteignung durch Vertragsaufkündigung verurteilt.
Die Summe beruht ausschließlich auf einer Schätzung des Gerichts. Einer der drei Richter hatte – wie die argentinische Seite – einen „unabhängigen Experten für die Schätzung der Finanzen” gefordert, die beiden anderen Richter sprachen sich dagegen aus. Dieses Vorgehen ist umso brisanter, da im Prozess von beiden Seiten vor allem über die Kostenfrage gestritten worden war: Die argentinische Aufforderung an Siemens, eine Kostenauflistung vorzulegen, die den Preisanstieg nachvollziehbar belegen könnte, wehrte der Konzern stets mit dem Argument ab, vertraglich nicht zur Offenlegung der Kosten verpflichtet zu sein. Während die argentinische Seite zunächst vermutete, es handle sich bei den „erhöhten Kosten“ um die schlichte Absicht von Siemens, die Profitmarge zu erhöhen, wurden Unstimmigkeiten zwischen Zollerklärungen und Siemens‘ Buchhaltung bekannt. Danach könnten die „erhöhten Kosten“ auf zusätzliche Ausgaben für unverzollte Waren zurückzuführen sein. Diese Vermutung war bereits im Jahr 2004 von dem Journalisten Carlos Liascovich ins Spiel gebracht worden: „Vielleicht konnte Siemens die Kosten deswegen nicht offen legen, weil Siemens bei der Einfuhr der benötigten Software auf Schmuggelware zurückgegriffen hat“.
Und nun tauchte im April dieses Jahres eine weitere Möglichkeit auf, wie sich die Kosten bei Siemens erhöht haben könnten. Seit November 2006 ermittelte die Staatsanwaltschaft in München wegen Bestechungszahlungen gegen Siemens. Gingen die ErmittlerInnen anfangs noch von 20 Millionen Euro aus, so hat Siemens mittlerweile „zweifelhafte Zahlungen“ weltweit in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden Euro zugegeben. Im April gewannen die Ermittlungen durch die Aussage eines Siemens-Managers nun neue Brisanz: Der langjährige Siemens-Konzernchef, Heinrich von Pierer, soll „Provisionszahlungen“ von zehn Millionen US-Dollar für das Geschäft zur Anfertigung der Personalausweise in Argentinien angewiesen haben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften – sowohl in München wie auch in Argentinien – konzentrieren sich seither vermehrt auch auf Argentinien.
Diese neuen staatsanwaltlichen Ermittlungen werden aber, wie zu befürchten steht, in der noch anstehenden Revisionsverhandlung vor dem ICSID für das Richtergremium nicht von Belang sein. Das ICSID sieht seine Aufgabe lediglich darin, zu untersuchen, „ob bestimmte Maßnahmen die Investition des Klägers betreffen”, sowie darüber zu wachen, dass die Normen der bilateralen Investitionsschutzabkommen die „legitimen Erwartungen” und die „rechtmäßige Sicherheit” der ausländischen AnlegerInnen schützen. Das Weltbankschiedsgericht ICSID beschäftigt sich somit weiterhin nur mit Fragen von ausländischem Investitionsschutz und nicht mit den Vorgängen realer Wirtschaftspraxis und deren Auswirkungen.
Die rein investorenfreundliche Ausrichtung des Weltbankschiedsgerichts ist es, die von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die 863 NGOs verfassten am 30. Dezember letzten Jahres eine Petition an den Präsidenten der Weltbank, Robert B. Zoellick, in der sie von der Weltbank fordern, „ein unabhängiges Prüfungspanel einzurichten, um zu analysieren, wie das ICSID (…) internationale Verträge unterhöhlt: zum Beispiel solche, die der Förderung der Sozial-, Wirtschafts- und Menschenrechte dienen oder solche, die den Entwicklungsländern helfen sollen, ihre externen Schulden zu reduzieren und die Millenium-Entwicklungsziele zu erreichen“. Außerdem erklärten sie, dass ein Großteil der Fälle vor dem Weltbankschiedsgericht mit weitreichenden sozialen Implikationen für die Bevölkerung verbunden ist, weshalb es unangebracht sei, diese als reines Schiedsverfahren zu internationalem Handel zu betreiben.