Argentinien | Nummer 514 - April 2017 | Wirtschaft

ARGENTINIENS OBERSCHICHT JUBELT

Interview mit Gastón Chillier über die Umverteilungspolitik der Regierung Macri

Der Widerstand gegen die Regierung des neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri in Argentinien wächst. Im März reihten sich Lehrer*innenstreik, Gewerkschaftskundgebungen, Frauenstreik am 8. März und die Demonstrationen zum Jahrestag des Putsches am 24. März aneinander. Für den 6. April ist der erste Generalstreik gegen Macri angesetzt. Die LN sprachen mit dem Juristen Gastón Chillier über die ersten 15 Monate der Amtszeit von Macri, eines Vertreters der neuen Rechten.

Interview: Martin Ling

Im Wahlkampf hatte Mauricio Macri eine Revolution der Freude versprochen, falls er Präsident werden würde. Seit 15 Monaten ist er Argentiniens Präsident. Ist die Revolution der Freude in Sicht?
Mitnichten. Die ist nicht zu sehen. Und das hat Gründe. Man muss sich nur die Entwicklung in dieser Zeit anschauen: Mehr als 100.000 Menschen haben ihren Job verloren, alle sozialen Indikatoren haben sich verschlechtert, das Lohnniveau sank um neun Prozent, bei einer Inflation von 40 Prozent 2016. Gemäß der Päpstlichen Katholischen Universität Argentiniens (UCA) hat die Zahl der Armen seit Macris Amtsübernahme im Dezember 2015 um 1,5 Millionen Menschen zugenommen. Die UCA beobachtet seit Jahrzehnten die Armutsentwicklung und hat deswegen sehr aussagekräftige Daten. Die Regierung Macri hat eine Flut ausländischer Investitionen versprochen, die nicht gekommen ist. Klar ist: Der Kern dessen, was die neue Regierung verkörpert, ist die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben. Das ist der Unterschied zu den Regierungen der Kirchners (Néstor 2003-2007, Cristina 2007-2015, Anm. d. Red.), die bei allen Problemen, die sie zum Beispiel mit Korruption hatten, für das Gegenteil standen: eine bessere Verteilung des Reichtums in Richtung der ärmsten Sektoren. Das wird auch durch die Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) bestätigt: Zum ersten Mal wurde durch die progressiven Linksregierungen in Lateinamerika die Ungleichheit der Einkommensverteilung, die Schere zwischen arm und reich verringert, auch wenn es nicht gelungen ist, die Strukturen der Ungleichheit an sich zu brechen, immerhin das Niveau hat sich während der Ära der Linksregierungen in weiten Teilen Südamerikas verringert. (u. a. Brasilien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Venezuela im Zeitraum von 2005 bis 2015, Anm. d. Red.) Das gilt auch für Argentinien. Bei allen Problemen hat es die Sozialpolitik der Kirchners geschafft, bei den Indikatoren der Armut Verbesserungen zu erzielen, auch wenn die Sozialpolitik nicht alle armen Sektoren erreicht hat.

 

Die Oberschicht dürfte über den Kurs der Macri-Regierung jedoch jubilieren, oder?
Ja. Im Fall der aktuellen Regierung, die im Volksmund als Regierung der CEOs (Vorstandsvorsitzende, Unternehmensbosse, Anm. d. Red.) bezeichnet wird, gilt es festzustellen, dass es die Rechte in Argentinien erstmals geschafft hat, mit Wahlen an die Regierung zu kommen, also ohne Militärputsch wie in der Vergangenheit, was positiv ist. Aber das Paradigma dieser Regierung ist eindeutig die Verteilung des Reichtums in Richtung der wohlhabendsten Sektoren. Das lässt sich an ein paar Maßnahmen der Regierung nach Amtsübernahme zeigen: die Freigabe des Wechselkurses Peso zum Dollar mit der massiven Abwertung des Peso um 50 Prozent als Folge, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau. Das bedeutet eine Umverteilung von etwa 60 Milliarden Peso (4 Milliarden Dollar) zugunsten der Oberschicht. Deshalb: Wahrscheinlich wird die Freude bei der ökonomischen Elite und der Oberschicht durchaus beträchtlich gegeben sein, bei der Mittelschicht und der Unterschicht hält sie sich sicher in Grenzen.

 

Dementsprechend dürften die Proteste der Mittel- und Unterschicht gegen die Regierung Macri anhalten?
Ja. Das was aus der zwölfjährigen Ära des Kirchnerismo auf alle Fälle geblieben ist, ist das Nutzen des öffentlichen Raums durch die Bevölkerung. Das hat zwar schon vor der Kirchner-Ära mit den Massenprotesten rund um die Krise 2001/2002 begonnen, wurde aber seitdem beibehalten und zur Selbstverständlichkeit. Das ist wohl auch eine Erklärung dafür, dass sich die Regierung Macri bisher nicht getraut hat, noch regressivere Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik zu ergreifen. Es ist interessant, dass die Regierung trotz ihres deutlich neoliberalen Profils bisher die Ausgaben für Soziales insgesamt nicht gesenkt hat und die Sozialprogramme aufrechterhält. Das ist ein deutlicher Unterschied zur neoliberalen Regierung von Carlos Menem von 1989 bis 1999. Die Macri-Regierung ist neoliberal mit sozialen Akzenten, weil die durch die politische Notwendigkeit des Machterhalts gefordert sind.

 

Macri hat in Argentinien eine Strukturanpassung der Wirtschaft auf den Weg gebracht. Mir haben auch linke Ökonomen vor den Wahlen erzählt, dass eine Strukturanpassung – wer auch immer auf Cristina Kirchner de Fernández folgen würde –, unumgänglich sei, nur eben so sozial wie möglich. Wie sehen Sie das?
Nun, ich bin kein Ökonom. Aber diese Meinung ist in der Tat sehr weit verbreitet. Argentinien braucht Reformen, Argentinien braucht eine Art Strukturanpassung. Das legen die Indikatoren einfach nahe. Die Handelsbilanz ist negativ, die Ausgaben für Subventionen sind sehr hoch und die Regierung Kirchner vermochte es nicht, sie zielgerichteter auf die Ärmsten zu lenken und bei weniger Bedürftigen und Reichen zu senken. Die Gasflaschen kosten beispielsweise fünf Mal soviel wie das Gas aus der Leitung und die Gasflaschen kaufen die Armen. Aber was klar ist: Die Strukturanpassung von Macri verläuft ohne jegliche soziale Sensibilität und sie schützt auf die eine und andere Art die Interessen der wirtschaftlichen Elite. Ein Beispiel dafür ist der tarifazo (die massive Erhöhung der Strom-, Gas- und Wassertarife um bis zu 700 Prozent allein beim Gas, Anm. d. Red.) aus dem vergangenen Jahr. Der Oberste Gerichtshof hat die Erhöhung dann auf maximal 400 Prozent festgesetzt, um die durch den tarifazo ausgelöste soziale Krise zu mildern. Manche Haushalte hatten statt 200 Peso auf einen Schlag 5000 Peso für Strom, Gas und Wasser aufzubringen. Aber es ist richtig, dass es ein Problem mit der Subventionspraxis gab, seit 2003 wurden die Preise wegen der vorangegangenen Krise quasi eingefroren und damit der öffentliche Haushalt belastet. Das Problem nun ist aber, dass die weitgehende Abschaffung der Exportsteuern und die Abschaffung der Besteuerung auf den Bergbau ein neues Haushaltsloch reißt und zudem mit diesen Einnahmen vormals auch soziale Programme und Subventionen finanziert wurden. Statt nun graduell nachzujustieren und die wohlhabendsten Sektoren mit Steuern zu belasten und die Bedürftigsten zu entlasten werden nun alle Verbraucher ob arm oder reich gleichermaßen mit Preiserhöhungen belegt, eben ohne soziale Sensibilität.

 

Vermögen die unsozialen Preiserhöhungen für öffentliche Güter wenigstens die Steuerausfälle zu kompensieren?
Nein. Das kommt als weiteres Problem der Strukturanpassung hinzu. Zwar ist das Niveau der Sozialausgaben bisher unter Macri gleichgeblieben, aber mit dem großen Unterschied, dass die Sozialausgaben nicht mehr über Steuern gegenfinanziert werden, sondern durch die Neuaufnahme von Schulden. Argentinien kehrt gerade zu einem Zyklus der Auslandsverschuldung zurück. Allein 2016 wurden mehr Auslandsschulden aufgenommen als in den zwölf Jahren des Kirchnerismo. Die argentinische Bevölkerung hat allerdings sehr klar, worin ein solcher Schuldenzyklus früher oder später münden wird: in die Zahlungsunfähigkeit, in eine tiefe soziale Krise wie schon mehrfach in der argentinischen Geschichte und zuletzt 2001/2002. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich die Regierung von Cristina Kirchner de Fernández in der UNO-Generalversammlung für ein staatliches Insolvenzrecht eingesetzt und dafür auch große und mehrheitliche Zustimmung erhalten, allerdings nicht von einflussreichen Staaten wie den USA oder Deutschland. Damit sollte auch eine Rechtsprechung geschaffen werden, die dem Geschäftsmodell von Geierfonds Einhalt gebietet, die zum Schrottwert Staatsanleihen aufkaufen, um dann auf den vollen Nominalwert zu klagen, wie auch im Falle Argentiniens geschehen.

 

Die Kirchner-Regierungen haben sich geweigert, den Forderungen der Geierfonds Rechnung zu tragen, die Regierung Macri hat den Geierfonds 12 Milliarden Dollar gezahlt, mit dem Argument, dass damit die Rückkehr auf die internationalen Finanzmärkte freigemacht werden würde und Argentinien danach mit einer Flut von Auslandsinvestitionen rechnen könne. Ist dieses Kalkül bisher aufgegangen?
In Bezug auf die Auslandsinvestitionen nicht im Ansatz. Die von Macri angekündigte Investitionsflut ist schlicht ausgeblieben. Aufgegangen ist das Kalkül, dass wenn Argentinien die Geierfonds auszahlt, der Weg zur Neuverschuldung an den internationalen Finanzmärkten wieder offen steht. An der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung hat das aber nichts geändert. Viele kleine und mittelständische Unternehmen haben dicht gemacht, die formellen Arbeitsverhältnisse nehmen ab, die informellen Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Bis jetzt ist überhaupt kein klarer Plan der Regierung Macri für die Wirtschaft zu erkennen. Es geht der Witz um: Im dritten Halbjahr wird alles besser… Das globale wirtschaftliche Umfeld ist aber sicher auch nicht hilfreich: Brasilien, einer der wichtigster Handelspartner Argentiniens, steckt tief in der Krise, die Rohstoffpreise für Argentiniens Exportgüter sind in den vergangenen Jahren tendenziell gefallen und last but not least hat der Amtsantritt von Donald Trump in den USA das Szenario nicht einfacher gemacht. Trump steht für Protektionismus zu Lasten der Handelspartner. Den Import von Zitronen aus Argentinien hat Trump schon ausgesetzt. Nach heutigem Stand lässt sich kein klarer Weg für Argentiniens wirtschaftliche Entwicklung erkennen, aber die Vorzeichen sind düster.

 

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