Argentinien | Nummer 358 - April 2004

Argentiniens “Stil K”

Interview mit der Politologin Cecilia Lucca

Cecilia Lucca ist Politikwissenschaftlerin, spezialisiert im Bereich Zivilgesellschaft. Sie unterrichtete an der Universidad de Buenos Aires und der Universidad de Palermo. Zur Zeit arbeitet sie für die Nichtregierungsorganisation CIPPEC, die staatliche Institutionen kontrolliert und Maßnahmen für eine größere Transparenz im Öffentlichen Dienst durchsetzt.

Antje Krüger

Frau Lucca, in den argentinischen Medien wird häufig vom „Stil K“ gesprochen. Was verbirgt sich dahinter?

Seit Néstor Kirchner die Präsidentschaft übernommen hat, regiert er auf eine Art, die sich stark von der seiner Vorgänger unterscheidet. Während Carlos Menem als größenwahnsinniger Caudillo berühmt wurde und Fernando De la Rúa langsam und wirkungslos erschien, zeigt sich Kirchner nüchtern, konsequent und hyperaktiv. Er widersetzt sich dem Protokoll, tut sich aber trotz seiner unzähligen Aktivitäten nicht hervor. Er fährt mit seiner Politik eine doppelgleisige Strategie. Zum einen ergreift er Maßnahmen, die in der öffentlichen Meinung einen hohen Stellenwert haben, wie zum Beispiel die erneute Diskussion über Gerichtsverfahren gegen Ex-Diktatoren gleich zu Beginn seiner Amtszeit. Dies brachte ihm die Zustimmung und Unterstützung von über 80 Prozent der Bevölkerung ein. Zum anderen hat er etablierten Mächten wie dem Obersten Gerichtshof, dem Militär, Unternehmern oder Gewerkschaftsführern den Kampf angesagt. Er versucht über das eigene Beispiel zu disziplinieren, Vertrauenspersonen in Schlüsselpositionen zu bringen und zu beweisen, dass er die Macht hat und bereit ist, diese zu nutzen.

Welche Maßnahme war bisher die wichtigste?

Aufgrund der großen Anzahl der bisherigen Maßnahmen ist es schwer, eine besonders wichtige herauszufiltern. Am bedeutendsten jedoch scheint die neue Verfahrensweise zur Auswahl der Richter am Obersten Gerichtshof, die faktisch bisher einzig vom Willen des Präsidenten abhing. Im neuen Verfahren wird die Zivilgesellschaft über NGOs oder Rechtsanwaltskammern in die Diskussion über die Kandidaten miteinbezogen. Diese neue Vorgehensweise bei der Auswahl der Richter ist ein bedeutender Schritt hin zur Normalisierung der Staatsgewalt, vor allem der im Machtapparat am meisten diskreditierten Judikative. Mit dieser Maßnahme wird der Wille der neuen Regierung zur politischen Veränderung und Transparenz am stärksten ausgedrückt.

Von welchen Seiten erhält Kirchner Unterstützung, von wo Ablehnung?

Die größte Unterstützung erhält er von der Zivilgesellschaft, vor allem von einigen linken Sektoren und Menschenrechtsorganisationen sowie einem Teil seiner Partei, dem ihm nahe stehenden Flügel der Peronisten (PJ). Der stärkste Widerstand kommt nach wie vor von den Militärs, einigen – inzwischen abgesetzten – Richtern des Obersten Gerichtshofes, Gewerkschaftsführern und dem Sektor der PJ, der der Tradition von Carlos Menem folgt.

Was zeichnet die Regierungsmitglieder aus, mit denen Kirchner sich umgibt?

Bei der Auswahl seiner Minister vereinte Kirchner drei Charakteristiken: fachliche Kompetenz, Tadellosigkeit und – als wichtigsten Punkt – die Zugehörigkeit zu einer Politikergeneration, die bisher nur im Hintergrund tätig sein konnte. Denn obwohl die gewählten Minister nicht neu in der Politik waren, gehörten sie doch nicht zum etablierten und verhassten Machtapparat.

Wie gestaltet sich Kirchners Verhältnis zu den Organisationen der Zivilgesellschaft?

Ambivalent. Im Hinblick auf die Arbeitslosenorganisationen der Piqueteros zum Beispiel, behält er sein wichtigstes Machtinstrument, die staatliche Unterstützung der Arbeitslosen über den Plan „Jefes y Jefas de Hogar“, bei. Er verhält sich hier sehr konfrontativ und verhandelt nicht mit den Hardlinern. So kommt es immer wieder – und in letzter Zeit wieder verstärkt – zu Straßenblockaden und Protestmärschen einiger Piqueterogruppen.
Was die NGOs und Menschenrechtsorganisationen angeht, zeigt sich die Regierung sehr offen. Bisher gehörte es eher nicht zur politischen Tradition in Argentinien, diese Organisationen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Kirchner scheint jedoch auch hier einen neuen Weg zu suchen.

Auch knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt äußert man sich über Kirchners Vorgehensweise weitgehend anerkennend. Welche möglichen Gefahren könnte seine Politik dennoch bergen?

Kirchners Stil lässt eine starke Machtkonzentration erkennen. Seine Art zu verhandeln charakterisiert sich durch Konfrontation und es zeigt sich eine Hyperaktivität, die eher dem eigenen Machtaufbau dient und sich weniger nach den Prioritäten des Landes richtet. Es wird gesagt, dass er seinen Ministern angeordnet hat, mit der Presse nicht über Projekte, sondern nur über bereits Erreichtes zu sprechen. Damit bricht Kirchner zwar mit einer Politik, in der viel geredet, aber nichts getan wird. Allerdings sind so auch keine Diskussionen im Vorfeld der Entscheidungsfindung möglich. Solange dies innerhalb eines demokratischen Rahmens geschieht, ist es einfach eine Art, Macht zu errichten und zu nutzen. Gefährlich jedoch wird es, wenn die ohnehin schwachen Institutionen nicht fähig sind, Kirchner Grenzen zu setzen.

Verfolgt man die Berichterstattung über Kirchner, so scheint er in der Öffentlichkeit weniger als Peronist denn als Privatmann wahrgenommen zu werden.

Der Enthusiasmus der wiedergekehrten Hoffnung bringt eine Art Spiegel hervor, in dem alle ihre eigenen Gedanken reflektiert sehen. Für die Sozialisten ist Kirchner ein gebildeter Sozialdemokrat, für die PJ der klassische Peronist, für die Erneuerer der Radikalen Partei (UCR) der perfekte Radikale, für die Nostalgiker ein populärer Nationalist, für die Neokeysianer der Schüler von Herrn Keynes und für die Neoliberalen einer der ihren im Schafsfell.

Wie hat sich die Krise der letzten beiden Jahre in der Mentalität der Argentinier niedergeschlagen? Welche Spuren hinterließ der Aufstand vom Dezember 2001?

Die Krise ist noch immer präsent, auch wenn – wie es zu erwarten war – die Fähigkeit zu mobilisieren verloren gegangen ist. Der Aufstand vom Dezember 2001 allerdings ist als ein großer Sieg im Gedächtnis der Bevölkerung geblieben. Sie hält den Sturz von Ex-Präsidenten Fernando De la Rúa und seinem verhassten Wirtschaftsminister Domingo Cavallo für das direkte Resultat der Massenerhebungen. Kirchner kann heute als Teil einer neuen Politikergeneration gesehen werden, die aus der damaligen Forderung „Que se vayan todos – Sollen sie doch alle gehen’ hervorgegangen ist. Und er nutzt und potenziert dieses Image.

Laut Statistik geht es mit Argentiniens Wirtschaft wieder bergauf. Ist ein solcher Aufschwung im Land spürbar?

Auch wenn eine Verbesserung in der Wirtschaft registriert wird, macht sich der Aufschwung eher in den Erwartungen der Menschen als in den Statistiken bemerkbar, da hier zumeist mit geschönten Daten gearbeitet wird. So hat zum Beispiel die Arbeitslosigkeit abgenommen, weil all diejenigen, die jetzt eine staatliche Arbeitslosenhilfe für die Verrichtung einer allgemeinnützigen Tätigkeit erhalten, als Arbeitnehmer gelten. Von einem Aufschwung der Wirtschaft kann allerdings solange nicht die Rede sein, bis nicht das Banken- und Kreditsystem reguliert wird, langjährige Abkommen mit internationalen Finanzorganisationen geschlossen und Maßnahmen in Industrie, Handel und Landwirtschaft durchgeführt werden, die zur Wiedereinführung in den Weltmarkt dienen. Auch müssen die Verträge mit den zuständigen Firmen für öffentliche Dienstleitungen erneut ausgehandelt werden. Bisher sind in dieser Hinsicht noch zu wenige Entscheidungen getroffen worden.

Ist Kirchner der Lula Argentiniens?

Eigentlich unterscheidet sie mehr als sie vereint. Der brasilianische Präsident kommt aus einer Gewerkschafts- und Parteibewegung mit einer ganz bestimmten Ideologie, die Kirchner fremd ist. Die Punkte jedoch, in denen sie übereinstimmen – seien es ihre Mitte-Links Position, ihre Zurückweisung einer automatischen Bindung an die USA oder ihr Bestreben nach einer regionalen Integration – haben ein solches Gewicht, dass beide Präsidenten oft gleichgesetzt werden.

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