Argentinien | Nummer 227 - Mai 1993

Atom(alp)träume am Rio de la Plata

Einmal mehr ist es Greenpeace zu verdanken, daß die Atompläne der Regierung auch über die Grenzen Argentiniens hinaus bekannt und kritisiert werden. Diesmal aber blieb Greenpeace, das sich schon seit längerem mit der Nationalen Kommission für Atomenergie (CNEA) um den Betrieb des derzeit einzigen in Betrieb befindlichen Atomkraftwerkes Atucha I streitet, nicht allein: Nach einem Unfall, in dessen Folge radioaktives Wasser ausgetreten war, mußte das Werk am 15. Januar abgeschaltet werden, und die Bürger von Zárate, einem Vorort von Buenos Aires in unmittelbarer Nähe des Reaktors gingen auf die Barrikaden. In einer Bürgerversammlung forderten sie Klarheit über den Vorfall und eine gründliche unabhängige Untersuchung und Beseitigung der Schäden.

Veit Hannemann

Wie auch in anderen Ländern üblich war die Öffentlichkeit erst nach mehreren Tagen überhaupt von dem Zwischenfall unterrichtet worden. Greenpeace machte darauf aufmerksam, daß es sich um einen schweren Zwischenfall gehandelt habe, in dessen Verlauf zwei Tonnen radioaktiven Wassers ausgetreten seien und widersprach damit den Aussagen der CNEA, die den Vorfall herunterspielte.
In der Umgebung des Atommeilers sind bis heute keine Messungen zur Feststellung erhöhter Radioaktivität durchgeführt worden. Die ca. 300-köpfige Bürgerversammlung in Zárate, bei der auch zahlreiche lokale Organisationen, Werks- und Gewerkschaftsvertreter und Unterstützer von Greenpeace anwesend waren, machte daher die Untersuchung durch von der CNEA unabhängige Wissenschaftler zu ihrer ersten Forderung. Dazu haben sie allen Grund, denn bei der CNEA handelt es sich um eine sogenannte Kontrollbehörde, die direkt vom Präsidialamt abhängig ist. Eine 1984 durch die Regierung Alfonsin eingereichte Gesetzesnovelle, die eine weitreichende Autonomie für die Atomkontrollbehörde vorsah, ist nie ratifiziert worden. Allerdings wurde später eine andere unabhängige Institution zur Kontrolle der Atomenergie gegründet, der Abgeordnete von Bundes- wie Landesparlamenten sowie Wissenschaftler verschiedener Universitäten angehören. Ihr ist es in der letzten Zeit durch die Verbreitung von Informationen gelungen, zur Aufklärung über die Gefahren der Atomenergie und zu einer breiteren Diskussion über die Atompolitik beizutragen.
Zwar war es bei der Versammlung in Zárate zu einer offenen Aussprache zwischen den verschiedenen Parteien gekommen, bei der Greenpeace-Vertreter großen Beifall erhielten, aber die Tatsache, daß sich weder der Bezirksbürgermeister noch ein anderer Ratsvertreter sehen ließ, belegt, wie bereits im Vorfeld hinter den Kulissen Politik gemacht wurde. Offensichtlich hatten die Vertreter der CNEA den Bürgermeister davon überzeugt, die Beziehungen zu ihnen besser nicht zu belasten, denn schließlich habe das Werk runde 800 Millionen bereitgestellt, um damit die Straßen des Stadtteils zu pflastern.
Immerhin hatten 15 Abgeordnete mit zu der Versammlung aufgerufen, von denen jedoch lediglich einer vor Ort erschien. Dieser forderte ebenfalls die Stillegung des Werkes, bis die Ursachen für den Unfall behoben seien. Auch er wies auf die Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchungskommission hin. “Atucha kann sich nicht selbst kontrollieren,” stellte er lapidar fest und fügte hinzu, eine Demokratie funktioniere nur mit sich überschneidenden Kontrollen.

Altbekannte Argumente der Atomlobbyisten

Mit Greenpeace-Vertretern und der CNEA stehen sich Atomkraftgegner und -befürworter in klaren Fronten gegenüber. Nach den Worten des anwesenden Atom-Funktionärs, der sich selbst als “Ökologen” bezeichnete, liest sich das so: “Von Greenpeace trennt uns eine philosophische Frage. Wir sind überzeugt, daß die Atomenergie sehr nützlich und kaum gefährlich ist.” Und auch in einem weiteren Fall, der gerade in Argentinien diskutiert wird, der Wiederinbetriebnahme des Atommeilers von Embalse, sind altbekannte Argumente von der Atomlobby zu hören. Dort warnt der ehemalige Direktor der staatlichen Stromfirma (Empresa Nacional de Centrales Eléctricas – ENACE) Jorge Cosentino, Mitglied der Peronisten, vor den ökonomischen Folgen für die Region. Dem Atomfunktionär muß bei dieser Gelegenheit entfallen sein, daß in Argentinien bereits der Bau eines Atomkraftwerkes pro Kilowatt ca. 3500 US-Dollar kostet im Gegensatz zu lediglich 1000 US-Dollar bei einem herkömmlichen Gaskraftwerk. Dabei sind die erheblichen Kosten für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle noch nicht einmal berücksichtigt. Cosentino hatte schon Ende der 80er Jahre darauf gedrängt, die Wiederinbetriebnahme von Embalse zu beschleunigen. Das Atomkraftwerk am Rio Tercero in der Provinz Córdoba, errichtet durch eine kanadische und eine italienische Firma, mußte noch während seiner Probelaufzeit von 24 Monaten abgeschaltet werden. Schon die Auftragsvergabe an die kanadische Atomic Energy Canada Limited (AECL) und die italienische Firma Italimpianti zur Errichtung des Kraftwerks war Anfang der 70er Jahre unter dubiosen Umständen erfolgt. Dem ehemaligen peronistischen Wirtschaftsminister Gelbard konnte erst nach seinem Tod nachgewiesen werden, daß er Schmiergelder für die Baugenehmigung entgegengenommen hatte. Im Januar 1984 war dann eine 24-monatige Betriebserlaubnis erteilt worden, bis sich in einem Kraftwerk gleichartigen Bautyps in Kanada ein schwerer Zwischenfall ereignete. Daraufhin mußte Embalse vom Netz. Seitdem lagen die Kraftwerksbetreiber, die bestreiten, daß sich ein solcher Zwischenfall in Embalse ereignen könne, mit dem Chef der Kontrollkommission CNEA, Alberto Constantini, im Clinch. Der inzwischen verstorbene Constantini verweigerte eine Inbetriebnahme, bevor nicht gründliche Reparaturen durchgeführt worden seien. Allein die Kosten für die zur Diskussion stehenden Reparaturen belaufen sich auf mindestens 200 Millionen US-Dollar. Und wieder fallen den Atomvertretern Argumente ein, die die Angelegenheit kostensparend gestalten sollen: bei Embalse handele es sich gar nicht um den gleichen Bautyp wie in Kanada, ist von Embalse-Direktor Eduardo Díaz zu hören, und CNEA-Funktionär Aníbal Núñez beteuert, “diese Sache hat viel mit politischen und institutionellen Ressentiments zu tun.” Inzwischen ist das Kraftwerk schon 15 Jahre alt und schon aufgrund seiner begrenzten Lebensdauer nicht mehr rentabel. Da die Betriebserlaubnis noch nicht definitiv erteilt wurde, dürfte der Atommeiler für eine Privatisierung uninteressant geworden sein, selbst wenn die anfallenden Reparaturkosten durch einen potentiellen Käufer nach altem Muster auf den Staat und damit den Steuerzahler abgewälzt würden.
Genügend Argumente für einen Ausstieg aus der Atomtechnologie, sollte man meinen. Aber leider verstummt auch der Applaus für Greenpeacevertreter genau in dem Moment, da die Sprache auf die komplette Stillegung kommt. In Atucha I arbeiten 450 Beschäftigte, die in ihrer großen Mehrheit auch direkt in der Nähe des Werkes wohnen. “Wir leben direkt am Werk mit unseren Familien, etwas, was wir sicher nicht machen würden, wenn wir Atucha für risikoreich hielten”, so der Gewerkschaftsvertreter von Luz y Fuerza in Zárate auf der Bürgerversammlung und zahlreiche Arbeiter klatschen ihm stürmisch Beifall. Aber welcher argentinische Arbeiter hat schon die freie Wahl von Arbeitsplatz oder Wohnort?
Greenpeace dagegen erhielt 24 Stunden nach der Versammlung in Zárate einen anonymen Anruf: “Wenn ihr weiter gegen das Atomkraftwerk arbeitet, werdet ihr in tausend Stücke zerfetzt. Letzte Aufforderung!” Juan Schroeder, aktueller Greenpeace-Sprecher in Buenos Aires bestätigt, es habe schon früher solche Anrufe gegeben. Es sei eben so, daß wenn man sich ernsthaft für eine Sache einsetze, auch immer Interessen von bestimmten Leuten verletzt würden.

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