Editorial | Nummer 439 - Januar 2011

Auch Stahl bekommt Risse

LN

Für den Stahlkonzern sind Fakten Spielmaterial: Die Vorwürfe werden bestritten, alles sei doch harmlos und man gehe nicht von einer Verurteilung aus. Thyssen spielt wohl wieder mal auf Zeit: 1988 beging eine Tochterfirma Thyssens in Rio die gleiche Straftat – Umweltverbrechen durch massive Gewässerverschmutzung. Im Dezember 2010, 22 Jahre danach, wurde das inzwischen verkaufte Unternehmen in erster Instanz schuldig gesprochen. Prozessverschleppung mit allen Winkelzügen: Das dürfte erneut die Strategie des deutschen Konzerns sein.

Was einmal geklappt hat, muss nicht wieder klappen. Die brasilianische Justiz ist noch immer kein Ausbund an Schnelligkeit. Auch ihre Unparteilichkeit steht zuweilen in Frage. Gleichwohl ist das Brasilien des Jahres 2010 ein anderes als das von 1988, als gerade die Brasilianische Verfassung nach dem Ende der Militärdiktatur neu verabschiedet worden war. Vor allem die unabhängig operierende Staatsanwaltschaft, das so genannte „Ministério Público“, bringt Schwung in die juristische Szenerie. Das Rechtsunikat ist dem Schutz von BürgerIn und Natur verpflichtet. Der Missachtung ihrer Rechte durch Behörden, Institutionen und Firmen soll ein Riegel vorgeschoben werden. Es ist diese Institution, die sich mit Politik und Konzernen einen teils heftigen Schlagabtausch liefert. Eilverordnete Baustopps gegen den Monsterstaudamm Belo Monte in Amazonien versus hektische, teils auch illegale Gegenschachzüge der Lula-Regierung geben hiervon beredtes Zeugnis.

Wurde Brasilien immer als „das Land der Zukunft“ gehandelt, mit einer Zukunft, die immer im Futur verbleibt, so läuft nun ThyssenKrupp wahrlich Gefahr, eine neue Zukunft für sich zu entdecken. Protestierende FischerInnen und lokale AnwohnerInnen, die der Konzern so nicht auf der Rechnung hatte. Neue AkteurInnen, die einerseits aufs „Ministério Público“ hoffen, aber eben auch selbst auf ihre Rechte pochen und sich zur Wehr setzen, wenn sie merken, dass ihre Rechte verletzt werden. Die in den sieben Zivilklagen gegen ThyssenKrupp zusammengeschlossenen 5.763 FischerInnen fordern insgesamt umgerechnet bis zu 756 Millionen Euro. Selbst für ThyssenKrupp kein Pappenstiel.

Wenn es für ThyssenKrupp ganz dumm läuft, droht bei einer Verurteilung gar die vollständige Schließung des Stahlwerks. Die Gesetzeslage ließe das zu. Dazu wird es – auch aus Staatsraison – bei einem knapp sechs Milliarden Euro teuren Investitionsprojekt kaum kommen. Brasilien will sicher die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland nicht über Gebühr belasten. Eine Beruhigungspille für die Essener Konzernbosse, mehr nicht. Denn die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt so, wie es ist. Und Brasilien, daran sei an dieser Stelle erinnert, ist nach wie vor eines der wenigen Länder, das kein einziges bilaterales Investitionsschutzabkommen ratifiziert hat. Solange ThyssenKrupp gegen Gesetze verstößt, agiert der Konzern auf einer brüchigen Grundlage. Und wer wüsste besser als die Stahlbauer, dass auch der beste rostfreie Stahl durch den Zahn der Zeit ermüdet und Risse bekommt. Stahlwerke zu Angelhaken – für die FischerInnen wäre das eine lohnenswerte Perspektive.

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