Kuba | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

AUF DEM PRÜFSTAND

Kubaner*innen diskutieren neue Magna Charta und haben mit einem Plebiszit das letzte Wort

Seit Mitte August sind Millionen von Kubaner*innen aufgerufen, sich drei Monate lang in landesweit 135.000 Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen an der Diskussion über die Reform der Verfassung zu beteiligen. Die derzeitige Magna Charta stammt aus dem Jahr 1976. Die neue Verfassung soll die veränderten kubanischen Realitäten besser widerspiegeln und die Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre rechtlich verankern.

Von Andreas Knobloch

Foto: Flickr.com / Pedro Szekely (CC BY-SA 2.0)

Die Debatte über die Reform der kubanischen Verfassung ist in vollem Gang. In diesen Tagen trifft man in der Hauptstadt Havanna immer wieder auf mal größere, mal kleinere Gruppen von Bürger*innen, die zusammenstehen oder zusammensitzen und zum Teil lebhaft diskutieren. Über Onlineforen dürfen sich daran auch 1,4 Millionen im Ausland lebende Kubaner*innen beteiligen – eine beachtliche Tatsache angesichts der konfliktreichen Geschichte zwischen der sozialistischen Revolution und seiner Diaspora.

Kubas derzeitige Verfassung stammt aus dem Jahr 1976. Damals_war die Sowjetunion der Leuchtturm des Weltkommunismus. Kubaner*innen konnten weder Cafés oder Restaurants betreiben, noch ihre Häuser an Ausländer*innen vermieten oder Angestellte für ihr Kleingewerbe einstellen. Homosexuelle mussten sich verstecken. Seither wurde die Verfassung dreimal überarbeitet – zuletzt 2002. Die neue Verfassung soll den Reformprozess der letzten Jahre rechtlich verankern.

Im Theater des Poliklinikums „Nguyen Van Troi“ in Havannas Stadtteil Centro Habana, einem schmucklosen Saal mit der Aura einer Schulturnhalle, haben sich rund 50 Ärzt*innen und Angestellte versammelt, um über den Verfassungs­entwurf zu beraten. Begleitet werden sie von mindestens ebenso vielen Pressevertreter*innen. Was auffällt: Kaum jemand der Anwesenden ist jünger als 40, 50 Jahre.

Geleitet wird die Veranstaltung von Susel Lameré García, einer resoluten Mittfünfzigerin, ihres Zeichens Funktionärin der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) in Centro Habana. Sie und die neben ihr sitzende Schriftführerin Miriam Mena vom Kommunistischen Jugendverband UJC (Unión de Jovenes Comunistas) sind in den vergangenen Wochen zusammen mit rund 15.000 Kadern geschult worden, um jeweils als Doppelgespann die Verfassungsdebatten zu leiten, wie Lameré im Gespräch mit Lateinamerika Nachrichten berichtet.

Nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne beginnt sie, den im Juli von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassungs­entwurf Zeile für Zeile vorzulesen. Insgesamt umfasst er 224 Artikel – 87 mehr als die alte Verfassung. Die Teilnehmer*innen der Sitzung sind aufgerufen, Meinungen, Zweifel zu äußern, Änderungswünsche und Ergänzungen einzubringen oder Streichungen vorzuschlagen.

„Wir bewerten die Meinungen nicht, sondern nehmen sie nur auf. Es gibt keine Abstimmungen; jede Wortmeldung ist wertvoll“, so Lameré. Alle Wortbeiträge würden protokolliert und an eine Expert*innenkommision auf Kommunalebene weitergegeben, die diese innerhalb von 48 Stunden redaktiert und an Teams aus Jurist*innen und anderen Expert*innen auf Provinz- und Landesebene weiterleitet, erläutert Lameré das Prozedere. Bis Mitte November werden alle Änderungs­vorschläge gesammelt und eingearbeitet. An­schlie­ßend wird das Parlament über den überarbeiteten Entwurf erneut abstimmen, ehe am 24. Februar 2019 die Bevölkerung in einem Referendum das letzte Wort hat.

Der vorläufige Text bekräftigt den sozialistischen Charakter des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems Kubas sowie die Führungsrolle der PCC in Staat und Gesellschaft. Die Lesung des ersten Teils des Verfassungsentwurfes im Klinikum erfolgt weitgehend kommentarlos.

Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben zwar fundamental für das kubanische Wirtschaftssystem, gleichzeitig wird aber die Rolle des Marktes und neuer privater Eigentumsformen anerkannt. Der Arbeit auf eigene Rechnung wird ergänzender Charakter bescheinigt. Zentral für die Volkswirtschaft bleiben Staatsunternehmen, die aber mehr Autonomie erhalten sollen.

Erstmals wird die Bedeutung ausländischer Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in der Verfassung verankert. Was das Privateigentum an Grund und Boden anbelangt, so wird ein Sonderregime beibehalten, mit Beschränkungen bei der Übertragung von Land und mit einem Vorkaufsrecht des Staates.

Lameré scheint die geringe Beteiligung mit zunehmender Dauer zu stören. „Es hilft nicht, danach im Laden oder an der Bushaltestelle zu diskutieren oder zu kritisieren – hier und jetzt ist der Ort“, sagt sie.

Beim Thema Gesundheitsversorgung wird es kurz lebhaft. Die Ärztin Diana Isel Ribiana mahnt die individuelle und familiäre Verantwortung angesichts des Rechts auf kostenlose Gesundheitsversorgung an. Eine Kollegin ergreift als Mutter das Wort und schlägt vor, den Militärdienst erst nach Beendigung des Studiums verpflichtend zu machen. Lameré erinnert daran, dass die Verfassung eher allgemein gehalten ist; viele Kriterien, wie die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare, werden in den nachgeordneten Gesetzen, wie dem Familienrecht, spezifiziert.

Apropos gleichgeschlechtliche Ehe: Um deren mögliche Anerkennung hatte es vor der Parlamentssitzung, in der der Verfassungsentwurf diskutiert wurde, die meiste Polemik gegeben. Fünf protestantische Kirchen hatten sich Ende Juni in einem offenen Brief vehement dagegen ausgesprochen. Die Ehe sei „ausschließlich die Vereinigung von Mann und Frau“ und die „Genderideologie“ nicht Teil der kubanischen Kultur und Revolutionsgeschichte, schrieben sie.

In den sozialen Netzwerken entbrannten daraufhin heftige Diskussionen. Die evangelikalen Kirchen ersuchten zudem die Genehmigung der PCC für eine Demonstration „zur Verteidigung der traditionellen Familie“ – vergeblich.
Nach lebhafter Diskussion beschloss die kubanische Nationalversammlung schließlich, die Ehe nicht mehr als „freiwilligen Bund zwischen einem Mann und einer Frau“ zu definieren, sondern als „freiwillige Verbindung zwischen zwei Personen“. Das eröffnet die Möglichkeit zur Homo-Ehe.

„Mit diesem Vorschlag zur Verfassungsänderung platziert sich Kuba zwischen Vorreiterländern bei der Anerkennung und Garantie von Menschenrechten“, so die Parlamentarierin Mariela Castro Espín, Tochter des früheren Präsidenten Raúl Castro und als Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexuelle Bildung (Cenesex) seit Jahren prominenteste Aktivistin für die Rechte von Schwulen und Lesben in Kuba. Die Abgeordnete Yolanda Ferrer verteidigte sexuelle Vielfalt als „ein Recht und kein Stigma“ und rief dazu auf, „Jahrhunderte der Rückständigkeit“ hinter sich zu lassen. Auch verteidigte sie das Recht schwul-les­bischer Paare auf Familie.

Die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe wurde in Kubas LGBT-Gemeinschaft mit Genugtuung aufgenommen. Sie hätte gedacht, dass die konservativen Kräfte in der Regierung dies verhindern würden, so die Genderaktivistin Isbel Torres. „Zum Glück ist das nicht der Fall gewesen.“ Zugleich warnte sie vor der vielen Arbeit, die noch zu tun sei. „Kuba bleibt weiterhin ein stark homophobes Land, mehr in den Provinzen als in der Hauptstadt“. Homo- und Transphobie seien weiterhin weit verbreitet – bis hinein in die Institutionen.

Der Abgeordnete Miguel Barnet, Präsident des kubanischen Schriftstellerverbandes UNEAC, drückte „immensen Stolz“ über den neuen Verfassungsartikel aus: „Wir eröffnen eine neue Ära. Das ist eine dialektische und moderne Verfassung. Und wenn Tradition gebrochen werden muss, wird sie gebrochen. Im Sozialismus hat keine Art von Diskriminierung zwischen Menschen Platz. Ich bin für Artikel 68 (zur gleichgeschlechtlichen Ehe, Anm. d. Red.) der neuen Verfassung. Meine Damen und Herren, Liebe kennt kein Geschlecht.“

Um einiges diskussionsfreudiger als in Centro Habana verläuft die Verfassungsdebatte in Kohly im Stadtteil Playa. Dort sind in den Abendstunden auf der Straße rund 100 Nachbar*innen zusammengekommen; auch hier überwiegend ältere Semester. Da bereits die Abenddämmerung eingesetzt hat, beleuchten einige ihre Notizen mit Mobiltelefonen oder lesen von Tablets ab.

In Kohly sorgen vor allem die Neuerungen in der politischen Struktur für Diskussionsstoff. Die Macht soll auf mehrere Schultern verteilt werden. Neben dem Staatsratsvorsitzenden werden der Posten des Staatspräsidenten sowie eines Minister­präsidenten neu geschaffen. Dieser soll dem Ministerrat, also der Regierung vorstehen. Die Amtszeiten sollen auf maximal zweimal fünf Jahre begrenzt werden. Kandidat*innen dürfen bei der Wahl nicht älter als 60 Jahre sein.

Auf lokaler Ebene sollen die Bezirke (municipios) mehr Autonomie erhalten, mit dem Ziel, schneller und effizienter auf Probleme und Beschwerden vor Ort reagieren zu können. Petitionsrechte und die lokale Beteiligung sollen ausgeweitet werden. Dafür sollen die Provinzparlamente abgeschafft und durch Provinzregierungen, bestehend aus Gouverneur und einem aus den Präsi­denten der Bezirksversammlungen gebildeten Rat, ersetzt werden. „Das hat seine positiven Seiten (…), unabhängig davon glaube ich, dass die Gouverneure wählbar sein sollten“, gibt die Rentnerin Dania Rodríguez zu bedenken. Andere stören sich an der Altersbegrenzung und schlagen vor, diese aufzuheben oder zumindest zu dehnen.

Im Poliklinikum Van Troi dünnt sich die Zahl der Anwesenden nach und nach aus. Am Ende eines langen Arbeitstages sind die meisten Ärzte nicht mehr so recht in Diskussionslaune. Demokratie ist eben eine langatmige, manchmal etwas ermüdende Angelegenheit. „Eine Nation kann nicht wie ein vierköpfiger Haushalt geführt werden“, sagt Lameré. „Elf Millionen Kubaner müssen sich in dieser Verfassung wiederfinden.“


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