Mexiko | Nummer 469/470 - Juli/August 2013

Auf dem Prüfstand

Interview mit den Menschenrechtsverteidiger_innen Malú Aguilar, Georgina Vargas und Daniel Joloy

Im Oktober 2013 wird der UNO-Menschenrechtsrat eine Bewertung der Menschenrechtslage in Mexiko abgeben, sowie Empfehlungen zu ihrer Verbesserung aussprechen. Im Vorfeld erstellten 40 mexikanische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) einen Bericht, der die Defizite bei der Umsetzung der internationalen Empfehlungen von 2009 verdeutlicht. Malú Aguilar, Georgina Vargas und Daniel Joloy reisten als Vertreter_innen der NGOs unter anderem nach Berlin, um die Ergebnisse vorzustellen. Mit den LN sprachen sie über die aktuelle Menschenrechtslage, die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit sowie geschlechtsspezifische Gewalt.

Interview: Eva Bräth, Laura Haber

Seit 2009 ist Mexiko in fünf Fällen vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden. Es ist das Land, gegen das die meisten Klagen vor diesem Gericht eingereicht wurden. In welchen Bereichen besteht aus eurer Perspektive die größte Notwendigkeit, Reformen durchzuführen?
Georgina Vargas: Ich glaube, dass die effektive Durchsetzung der Verfassungsreform von 2011 sehr wichtig ist, weil sie die Akzeptanz, das Verständnis und die Anwendung der Menschenrechte von Seiten der drei Gewalten auf allen staatlichen Ebenen ermöglichen wird. Die Menschenrechte sollen komplett in die Strukturen der Institutionen integriert werden, um eine ganzheitlichere Politik zu machen.
Daniel Joloy: Persönlich halte ich die „Militarisierung“ für eines der entscheidenden Themen. Denn die Strategie für öffentliche Sicherheit, die sich auf die Streitkräfte stützt, hat zu einer Serie schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen geführt. Seit die Militärs Polizeiaufgaben übernehmen, haben zum Beispiel die Fälle von Folter, des „Verschwindenlassens“ und der außergerichtlichen Hinrichtungen zugenommen. Eine Sicherheitsstrategie, welche die Menschenrechte besser achtet, würde helfen, viele andere Probleme zu überwinden, die sich zugespitzt haben.
Malú Aguilar: Sicher sind die fünf Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs sehr wichtig. In vier davon handelt es sich um den Missbrauch von Zivilisten durch Militärs, darunter sind drei Fälle von Gewalt gegen Frauen. Ich glaube, das ist sehr repräsentativ für die fehlende Rechtsstaatlichkeit in Mexiko. Durch die Militarisierung nahm die Straflosigkeit zu, die in allen Menschenrechtsfragen wesentlich ist.

Ihr habt die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit als zentrales Problem benannt. Wie beurteilt ihr die sicherheitspolitischen Reformen, die von der Regierung der PRI (Revolutionären Institutionellen Partei) seit 2012 angestoßen wurden?
DJ: In einer der ersten Reformen wurde das Ministerium für öffentliche Sicherheit – die wesentliche Institution in der Sicherheitsstrategie der [vorherigen] rechtskonservativen PAN-Regierungen – abgeschafft und die Bundespolizei wieder dem Innenministerium unterstellt. Dadurch könnte die Bundespolizei wieder zum verlängerten Arm der politischen Machthaber werden, wie es in den früheren PRI-Regierungen der Fall war. Die Reformen beinhalten zudem keine Kontrollmechanismen gegenüber einem starken Polizeiapparat, wie es ursprünglich mit der Schaffung eines unabhängigen Kontrollgremiums vorgesehen war. Außerdem will die Regierung eine neue Polizeieinheit, die Gendarmerie, schaffen. Die Regierung von Enrique Peña Nieto präsentiert sie als bürgernahe Polizei zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Soweit wir informiert sind, wird sich die Gendamerie jedoch aus Angehörigen der Armee zusammensetzen und auch die Ausbildung der Rekruten sollen Militärs übernehmen. Deshalb befürchten wir, dass diese neue Sicherheitseinheit langfristig die Militarisierung institutionalisiert. Was sich ändert, ist nur die Farbe der Uniform – aber die für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortliche militärische Ausbildung und Arbeitsweise werden weiterexistieren.

In der Vorstellung des Berichts betont ihr, dass die Menschenrechtsverletzungen nicht nur mit dem Drogenkrieg zu tun haben, sondern auch strukturell bedingt sind, wie zum Beispiel die geschlechtsspezifische Gewalt. In den vergangenen Jahren schuf die mexikanische Regierung eine Vielzahl von rechtlichen Instrumenten zum Schutz von Frauen. Inwiefern hat das tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation geführt?
MA: Diese Instrumente zum Schutz von Frauen sind an sich eine gute Sache. Doch die Institutionen, die sie durchsetzen sollen, besitzen weder die Kapazitäten noch eine politische Strategie dazu. Es gibt keine konkreten Handlungen der Regierung, die auf strukturelle Veränderungen des Sexismus und Machismo in der Gesellschaft abzielen. Es existieren immer noch viele grundlegende Mängel. Wenn eine indigene Frau anzeigt, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen oder von Angehörigen staatlicher Institutionen vergewaltigt wurde, nehmen die Behörden ihre Anzeige nicht auf. Es gibt keine Übersetzer und keine Rechtsmediziner, die die Frauen untersuchen könnten. Diese Fälle kenne ich aus sehr armen und marginalisierten Gebieten, aber sie sagen viel über die mexikanische Realität aus. Auch in urbanen Gegenden hat es keinen Wandel gegeben, der die rechtlichen Veränderungen widerspiegelt. Frauen haben immer noch weniger Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem.
GV: Ein Beispiel für die Defizite ist das rechtliche Instrument „Alarmzustand geschlechtsspezifischer Gewalt“. Wenn dieser Zustand deklariert wird, sollen unter anderem mehr Ressourcen für den Schutz von Frauen zur Verfügung stehen. In fünf Bundesstaaten forderten zivilgesellschaftliche Akteure bereits die Anerkennung eines solchen Alarmzustandes, da dort sehr viele Femizide begangen werden oder geschlechtsspezifische Gewalt stark verbreitet ist. Aber in keinem dieser Fälle wurde der Alarmzustand ausgerufen. Es scheint, als ob dieses wichtige Instrument sich zu einer politischen Last entwickelt hat, das heißt niemand möchte der Erste sein, in dessen Bundesstaat der Alarmzustand anerkannt wird.

Besonders bekannt ist der Fall Atenco, in dem sich der mexikanische Staat wegen sexueller Gewalt und Folter an elf Frauen durch Angehörige staatlicher Institutionen verantworten muss. Das Zentrum ProDH (für Menschenrechte) hat zusammen mit anderen Organisationen erreicht, dass der Fall vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte kam. Wie ist der aktuelle Stand?
GV: Der Fall wurde 2008 der Kommission vorgestellt. Im März diesen Jahres wurde eine der elf Frauen, Barbara Italia Méndez, von der Kommission angehört. Das war aus zwei Gründen überaus wichtig: Erstens, weil es immer gut ist, dass die anwesenden Beauftragten der Kommission Augenzeugen anhören und nicht nur Dokumente lesen. Für Italia war es auch sehr wichtig, sich vor einer Instanz wie der Kommission äußern zu können. Eine gütliche Einigung, wie sie der Staat vorgeschlagen hatte, hat sie deutlich abgelehnt. Die Frauen haben immer wieder gesagt, dass staatliche Vertreter sie weiter aufsuchen, anrufen und bedrohen. Italia hat den Brief der elf Frauen an die Kommission übergeben, in dem sie eine gütliche Einigung ausschließen. Sie haben den Staat gebeten, dass er sie in Ruhe lässt.
Wir hoffen, dass die Kommission zu den nächsten Sitzungen im Juli, spätestens November, den Hintergrundbericht herausgibt und den Fall ans Gericht überstellt. Mexiko hat in den letzten Monaten versucht, den Prozess zu verzögern, und die Kommission stark unter Druck gesetzt, den Hintergrundbericht nicht herauszugeben.

Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen in eurer Arbeit?
DJ: In den letzten Jahren hat sich die Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Mexiko verstärkt. Ich weiß, dass ich immer das Thema der Militarisierung anspreche, aber die Strategie im Bereich der öffentlichen Sicherheit hat uns meines Erachtens wirklich überrannt. Wir kamen aus der politischen Transition des Jahres 2000, die auch mit einer Öffnung der Menschenrechtsagenda einhergegangen war. Nachdem 2006 das Militär [zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, Anm. der Redaktion] eingesetzt wurde und seitdem die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage „niedergeschossen“ werden, fragten sich die Organisationen, woher dieser schwere Schlag kam. Ich glaube, sie haben sich auf der Suche nach einer Antwort immer stärker vereint. Aber es ist wichtig, die Arbeit der Organisationen in den Bundesstaaten sowie die Zivilgesellschaft vor Ort zu stärken. In Mexiko konzentrierte sich Menschenrechtsarbeit lange auf die Hauptstadt und es gibt immer noch sehr wenige bundesstaatliche Organisationen, die auch international vernetzt sind.

Infokästen:

PRÜFUNG DER MENSCHENRECHTSLAGE

Seit 2007 wird im Rahmen des Universellen Periodischen Überprüfungsverfahrens des UNO-Menschenrechtsrates die Menschenrechtslage in allen 192 Mitgliedsstaaten in einem vierjährigen Zyklus überprüft. Zum ersten Mal erhielt die mexikanische Regierung 2009 insgesamt 91 Empfehlungen. Davon akzeptierte sie 83, traf zu fünf von ihnen keine klare Aussage und lehnte drei davon ab. Die drei abgelehnten Empfehlungen betrafen zentrale Punkte wie die separate Gerichtsbarkeit für Angehörige des Militärs, die Untersuchungshaft (arraigo) und eine Neudefinition des Tatbestands der Organisierten Kriminalität.
Im Oktober 2013 werden die Ergebnisse der zweiten Überprüfung veröffentlicht. In Vorbereitung darauf sind die mexikanischen NGOs dazu aufgerufen, Berichte beim UN-Menschenrechtsrat einzureichen. Als Vertreter_innen eines Zusammenschlusses von 40 Nichtregierungsorganisationen stellten Malú Aguilar, Georgina Vargas und Daniel Joloy die Ergebnisse des Berichts in Brüssel, Genf, Berlin, Prag und Wien vor.

ZU DEN PERSONEN

Malú Aguilar arbeitet seit über zwei Jahren für das Centro de Derechos Humanos de la Montaña Tlachinollan (Menschenrechtszentrum der Tlachinollan-Berge) in der Berg- und Küstenregion Costa Chica im Bundesstaat Guerrero. Seit 19 Jahren begleitet Tlachinollan vor allem indigene Gruppen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und die umfassende Respektierung ihrer Menschenrechte.

Georgina Vargas ist Juristin und im Bereich Internationales des Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez) tätig. 1988 gegründet, arbeitet das Zentrum ProDH von seinem Hauptsitz in Mexiko-Stadt aus mit Organisationen in sämtlichen Regionen des Landes zusammen, um Fälle vor lokalen, nationalen und internationalen Instanzen zu vertreten. Dabei konzentriert es sich insbesondere auf die indigenen Völker, Frauen, Migrant_innen und Opfer gesellschaftlicher Repression.

Daniel Joloy ist Koordinator für Internationales der Mexikanischen Kommission zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte. Diese zivilgesellschaftliche Organisation mit Sitz in Mexiko-Stadt wurde 1989 gegründet und begleitet nationale und internationale Gerichtsfälle in verschiedenen Bundesstaaten. Aktuell arbeitet die Kommission an einer Kampagne zur Sichtbarmachung und Anerkennung der Arbeit von Menschenrechtsverteidiger_innen.

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