Chile | Nummer 420 - Juni 2009

Auf dem Weg der Besserung mit Nebenwirkungen

Ein Streifzug durch Santiago spiegelt die Resultate der Gesundheitsreform wider

Vier Jahre nachdem die Reform Plan AUGE in Kraft trat, ist das Gesundheitswesen in Chile auf dem Weg der Besserung. Aber lange Wartezeiten gibt es immer noch. Neue Probleme schafft die Weltwirtschaftskrise.

Angela Misslbeck

In der Fußgängerzone von Chiles Hauptstadt Santiago wimmelt es von KleinhändlerInnen. Direkt an der U-Bahn-Station Plaza de Armas hat die Krankenschwester Margarena Rodríguez ihr Tischchen aufgebaut. Darauf liegen ein Blutdruckmessgerät und viele Utensilien für Blutzuckertests. Neben dem Tischchen steht eine einfache digitale Personenwaage. Mit einem selbst geschriebenen Schild an der Wand des historischen Zentralpostamtes hinter sich weist die Krankenschwester auf ihr Angebot hin: Wiegen 200 Peso, Diabetestest 1.500 Peso – etwa zwei Euro. Rund zehn Personen testet Margarena jeden Vormittag. Ihrem Service misst sie doppelte Bedeutung zu: „Für mich ist es Werbung und eine Zusatzeinnahme, für die Menschen ist es ein Beitrag zur Prävention. Sie gehen erst zum Arzt, wenn es schon fast zu spät ist. In der Fußgängerzone sind sie sowieso“, sagt Margarena. Ohne akute Beschwerden geht in Chile niemand zu Arzt oder Ärztin. Um untersucht zu werden, muss man morgens um fünf Uhr dort sein, wenn um acht Uhr geöffnet wird. Viele müssen am nächsten Tag noch einmal anstehen. Wenn sie untersucht werden, dauert es lange bis die Ergebnisse kommen – wenn sie überhaupt kommen. All das berichten Margarena die PassantInnen, die ihren Service ohne Wartezeiten in Anspruch nehmen. Hat der Plan AUGE also nichts gebracht? „Der Plan AUGE funktioniert, weil viele teure Krankheiten jetzt kostenlos behandelt werden. Aber die Versorgung ist schlecht“, sagt die Krankenschwester.
AUGE – Acceso Universal con Garantías Explícitas (Umfassender Zugang mit ausdrücklichen Garantien) – war das Schlagwort, unter dem die Regierung des sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos ab 2002 eine große Gesundheitsreform entworfen hat, die 2005 flächendeckend in Kraft trat und bis heute weiterentwickelt wird. Wartezeiten und Zuzahlungen wurden begrenzt. Die Eigenbeteiligungen beim öffentlichen Krankenversicherer Fonasa und den privaten Isapres dürfen nun zwei Monatseinkommen nicht übersteigen. Vorher mussten Versicherte unabhängig vom Einkommen Teile der Behandlungskosten übernehmen. Die neuen Regelungen gelten allerdings nur für bestimmte Diagnosen. Dazu hat die Regierung eine Liste von Erkrankungen festgelegt, die seit 2004 beständig erweitert wird. Von Beginn an umfasst sie Krebserkrankungen und die Volkskrankheiten Diabetes und Bluthochdruck. Unter der Regierung von Michelle Bachelet haben auch psychische Erkrankungen Eingang gefunden. Jetzt stehen 56 Diagnosen auf der Liste, die 80 Prozent der Krankenhausaufenthalte in Chile ausmachen. Bis 2010 sollen es insgesamt 80 Krankheiten sein und die Reform soll auch garantieren, dass die Behandlung innerhalb von zwei Monaten nach der Diagnose durch einen Facharzt oder eine Fachärztin erfolgt.
Schöne Theorie? Zumindest für manche PatientInnen. Im Hospital Barros Luco Trudo in Santiago absolviert die deutsche Medizinstudentin Sarah Schotes ihr Praktisches Jahr in der Chirurgie. Sie ist beeindruckt von dem handwerklichen Können der AnästhesistInnen und ChirurgInnen. Die technische Ausstattung beschreibt sie als hoch modern, nur die Gebäude seien in einem schlechten Zustand. Allgemein findet sie die Verhältnisse im öffentlichen chilenischen Krankenhaus angenehmer als in Deutschland. Der Umgang der Ärzte und Ärztinnen und KrankenpflegerInnen miteinander sei familiär und entspannt. Während die PatientInnen in Deutschland auf hohem Niveau jammern, ertragen sie in Chile ihr Leid ohne viele Worte, sagt Sarah. Die Probleme in der Versorgung bleiben jedoch auch ihr nicht verborgen. Schockiert war sie, als sie mitbekommen hat, dass ein Patient mit einem gutartigen Tumor im Kopf zwei Jahre auf die Operation warten soll.
Einer der Hauptkritikpunkte am Plan AUGE ist, dass die Liste von Krankheiten zwei Arten von PatientInnen geschaffen hat: solche mit Garantien und solche ohne. Die Gefahr, dass die Verbesserungen für die einen zu Lasten der anderen gehen, war augenfällig. In Reaktion darauf hat Bachelet in ihrer jüngsten Regierungserklärung der Gesundheit eine vorrangige Stellung unter den Ressorts eingeräumt und das Reformversprechen des Plan AUGE erweitert: Nun soll niemand länger als ein Jahr auf eine Operation warten und ein Termin bei SpezialistInnen soll innerhalb von 120 Tagen ermöglicht werden. Mit diesen Ankündigungen und weiteren Maßnahmen will die Regierung auch der Kritik begegnen, dass die versprochenen Garantien mit Blick auf die Wartezeiten nicht eingehalten werden. Deutlich gesteigert wurden auch die öffentlichen Investitionen im Gesundheitsbereich. Das Gesundheitsministerium hatte nach Angaben des Wirtschaftsinformationsdienstes gtai 2008 ein Budget von rund 3,5 Milliarden Euro. Rund eine Milliarde floss laut gtai in den Bau vier weiterer Krankenhäuser, in 50 zusätzliche öffentliche Gemeindezentren zur ärztlichen Grundversorgung und in die vertragliche Verpflichtung von 500 FachärztInnen. Auch für 2009 waren die Budgetzuwächse den Angaben zufolge im Gesundheitsbereich deutlich höher als in vielen anderen Politikfeldern.
Fraglich ist allerdings, ob die zugesagten Geldmittel auch unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise fließen werden und ob sie dann ausreichen. Denn die Beitragseinnahmen der staatlichen und privaten Krankenversicherungen sind lohnabhängig und werden daher voraussichtlich sinken. Daher werden bereits Forderungen nach Ausgabenbegrenzungen laut, besonders die Medikamentenpreise stehen im Fokus. Im Mai wurde den drei großen Apothekenketten des Landes vorgeworfen, kartellrechtlich bedenkliche Preisabsprachen getroffen haben. Feststeht, dass die Medikamentenpreise zuletzt um ein Vielfaches der durchschnittlichen Preissteigerungsrate zugelegt haben. Die Forderungen gehen dahin, eine Positivliste von Medikamenten zu beschließen, für die feste Preise gelten sollen. Auch die Gründung einer staatlichen Apotheke wurde diskutiert. Insgesamt wächst in Chile die Zahl der BefürworterInnen einer stärkeren staatlichen Regulierung des Gesundheitssystem und des Plan AUGE. Das Gesundheitsministerium will nun die Folgen der Reform systematisch aufzeichnen. Dabei wird es von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützt.
„Das Gesundheitssystem in Chile hat sich in den letzten Jahren verbessert“, bilanziert der Allgemeinmediziner Luis Carlos Torres Morales. Vor 26 Jahren hat er sich im nicht gerade reichen Stadtviertel Barrio Franklin in Santiago niedergelassen. Luis versteht sich als Haus- und Familienarzt. Fast alle PatientInnen fragt er nach dem Befinden der Oma, des Onkels oder der Geschwister, die er ebenfalls behandelt. Rund 100 PatientInnen behandelt er pro Monat. Davon kann er sich keine großen Sprünge erlauben, aber er ist zufrieden. Sein Eindruck der neuesten Reform: „Der Plan AUGE hat Verbesserungen gebracht. Wichtig ist, dass Diabetes und Bluthochdruck enthalten sind, zusätzlich zu schweren Erkrankungen wie Brustkrebs. Aber Wartezeiten gibt es immer noch.“

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