Guatemala | Nummer 319 - Januar 2001

Auf der Suche nach Gerechtigkeit

Klage gegen den Ex-Präsidenten Guatemalas Lucas García eingereicht

Im Mai letzten Jahres reichte die Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung, begleitet von der Menschenrechtsorganisation CALDH (Centro para Acción Legal en Derechos Humanos), eine Klage gegen den Ex-Präsidenten Guatemalas, Lucas García, wegen der unter seiner Amtszeit 1978-1981 begangenen Menschenrechtsverletzungen ein. Derzeit arbeitet die CALDH mit 16 Gemeinden zusammen, um auch den Nachfolger von Lucas García und jetzigen Parlamentspräsidenten Guatemalas, Rios Montt, wegen dessen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Die Rechtsanwältin und Beraterin für Internationales Recht bei der CALDH berichtet im Folgenden über die Vorbereitungen der Klage gegen García, von deren Bedeutung für die Überlebenden und für die guatemaltekische Gesellschaft – und von ersten Erfolgen.

Susan L. Kemp

Am 12. Februar 1982 gegen neun Uhr morgens kam die Einheit der guatemaltekischen Armee in das Dorf Pacoj im Bezirk San Martín Jilotepeque im Departement Chimaltenango. Die Soldaten rückten von drei Seiten vor und umzingelten den Ort. Viele EinwohnerInnen flüchteten, andere dagegen blieben in ihren Häusern. Die Soldaten zwangen einige Frauen, ihnen etwas zu essen zu machen. Nachdem sie gegessen hatten, begannen sie, die Menschen in ihren Häusern anzugreifen. In acht Häusern massakrierten sie 35 Personen. Einigen schnitten sie – bevor sie sie umbrachten – die Zungen heraus oder schlugen sie. Außerhalb der Häuser, an einem Bachlauf, vergewaltigten, folterten und ermordeten sie fünf Frauen und töteten ein Kind und sieben Männer. Insgesamt fielen der guatemaltekischen Armee an diesem Morgen 48 Menschen zum Opfer, 20 Frauen, 16 Kinder und zwölf Männer. Die Toten wurden von ihren Angehörigen in drei Gräbern bestattet.
Dieses ist ein Auszug aus der „Bestandsaufnahme“ der Anzeige, die die Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung (Asociación para Justicia y Reconciliación) am 3. Mai 2000 bei den Justizbehörden Guatemalas einreichte. Die Gruppe ist ein Zusammenschluss Überlebender von zehn Massakern, die unter der Regierung des Präsidenten Romeo Lucas García zwischen November 1981 und März 1982 verübt wurden. Nach derzeitigem Wissensstand kosteten allein diese zehn Massaker 938 GuatemaltekInnen das Leben, alle Indígenas: Männer, Frauen und Kinder; vom Kleinkind bis zum Greis. Die Opfer lebten in abgelegenen Regionen, im Ixcán und Ixil, in Rabinal und Chimaltenango. Ihr Schicksal teilten über 400 weitere indigene Gemeinden, die während der blutigsten Periode des guatemaltekischen internen bewaffneten Konfliktes zwischen 1981 und 1983 massakriert wurden.

Das Schweigen brechen
Señor X. ist ein alter Mann, klein und schwächlich, aber in seiner Gemeinde eine Führungspersönlichkeit. Genauso wie andere AugenzeugInnen, Angehörige und NachbarInnen, die sich in der Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung zusammengeschlossen haben, will er seine Toten ehren und dem Staat zeigen, dass man keine Grausamkeiten gegen die Bevölkerung verüben kann, ohne wenigstens die Quittung dafür zu bekommen. Er lebt in einer ländlichen Gemeinde, die nur über einen langen Fußmarsch zu erreichen ist. Sein Haus ist umrahmt von Maispflanzen und verschiedenen Heilpflanzen, einige gegen Augenentzündungen, andere zur Stärkung des Gedächtnisses – in seinem Alter, er ist Anfang 60 Jahre alt, hat er letztere aber nicht nötig. Das überrascht nicht: Er lebt noch in dem selben Haus, in dem 1982 27 Menschen massakriert wurden, NachbarInnen, FreundInnen, Angehörige. Ihre Leichen liegen seitdem, seit 18 Jahren, im Garten vergraben. Jetzt ist er Zeuge in der Anklage gegen die Männer, die 1982 die Mächtigsten im Lande waren.
In den vergangenen Jahrzehnten lebte Guatemala in einem Klima der Angst, über das Geschehene zu reden, das bis hinein in die Familien reichte, und nicht einmal daran denken ließ, bei den Behörden eine Anzeige zu erstatten. Viele glaubten der Staatspropaganda, die Toten und ihre Angehörigen seien VaterlandsverräterInnen, Guerilleros/as und KommunistInnen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Veröffentlichung des Berichts der Katholischen Kirche (REMHI) und der Wahrheitskommission (CEH) machen den Staat und vor allem die Armee für den Großteil der Grausamkeiten verantwortlich, die während des bewaffneten Konflikts begangen wurden: nach Angaben der CEH in 93 Prozent der Fälle. Die Mehrheit der Opfer waren Indígenas, gemäß der CEH 83 Prozent, überwiegend unbewaffnete ZivilistInnen.

Lange Vorbereitungen

Kurz gesagt beschuldigt die Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung den Ex-Präsidenten Lucas García, seinen Bruder Benedicto sowie den damaligen Oberbefehlshaber der Armee und Verteidigungsminister, Luís Mendoza, zwischen November 1981 und März 1982 verantwortlich gewesen zu sein für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Die Anzeige wurde vom Vorsitzenden der Vereinigung in Begleitung von 40 Mitgliedern in der Hauptstadt beim Innenministerium eingereicht. Die Delikte fallen unter die Artikel 376 und 378 der guatemaltekischen Strafprozessordnung, unter die Konvention zur Vorbeugung und Bestrafung von Völkermordsverbrechen von 1948 sowie unter verschiedene Verträge des internationalen humanitären Rechts, die von Guatemala ratifiziert wurden. Sie sind zudem gemäß der guatemaltekischen Gesetzgebung nicht amnestierbar.
Die Rechtsabteilung der CALDH arbeitet seit sechs Jahren mit Opfern der Massaker zusammen. In einigen Dörfern wie Río Negro reichten wir mit Überlebenden Einzelklagen gegen die Täter des Massakers ein. Vor drei Jahren entstand in den Gemeinden, in denen wir tätig waren, dann der Vorschlag, gegen das Oberkommando der Armee eine Gemeinschaftsklage einzureichen. Die Kollektivität, so die Idee, erleichtere die Beweisführung bei bestimmten übergeordneten Delikten wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auf nationaler Ebene aber auch die Mobilisierung von Solidarität unter den Überlebenden. Die betroffenen Gemeinden reagierten positiv, so dass die Befragungen auf weitere Dörfer ausgeweitet wurden. Hört man den Menschen zu, ist die Motivation dafür sehr schlicht und wiederholt sich bei fast allen Beteiligten: „weil wir keine Tiere sind“; „sie töteten Unschuldige, sogar Kinder“; „damit die Armee weiß, dass wir nicht schweigen werden, und es unseren Kinder nicht noch einmal passiert“.
Ende 1997 begann eine lange Phase, in der ausführlich mit den Überlebenden und ihren Angehörigen gesprochen wurde und in der auch die möglichen positiven wie negativen Folgen sowie die Erfolgsaussichten einer Klage diskutiert wurden. Es gab in den Orten allerdings auch viele Überlebende, die aus absolut nachvollziehbaren Gründen beschlossen nicht mitzumachen. Ein Entschluss, den es zu respektieren gilt: Das Recht, keine Gerechtigkeit zu suchen, ist ein Recht von jedem Opfer. Für die, die mitmachten, folgte eine Reihe von Vorbereitungen auf den Gerichtsprozess, vor allem darauf, was es bedeutet, als Zeuge oder Zeugin auszusagen. Gleichzeitig sammelten RechtsanwältInnen jegliche Informationen und Beweise, die sie nur auftreiben konnten.
Hierfür war die Recherche vor Ort ebenso notwendig wie das Zusammentragen militärischer Informationen über den Ablauf des bewaffneten Konfliktes in der Region und über die Vertreibungen. Auf dieser Grundlage wurde eine juristische Strategie entwickelt. Außerdem wurde ein Netzwerk von nationalen und internationalen Organisationen aufgebaut, die den Prozess begleiten; und es wurden Fortbildungen durchgeführt, um den juristischen Gremien des Landes die Rechtslage zu den in Frage stehenden Delikten näher zu bringen.
Vorrangiges Ziel war es, das Fundament von Beweisen so solide wie möglich zu machen, mit ZeugInnen, die sich eindeutig zur Aussage entschieden hatten – vorbereiteten ZeugInnen, die sich der möglichen Folgen ihres Handelns bewusst sind. Dies alles musste geschehen bevor der Fall beim Innenministerium eingereicht wurde. So vermieden wir mögliche Ausflüchte, nicht zu ermitteln, sei es wegen der Komplexität, dem Fehlen notwendiger Gelder oder aussagebereiter ZeugInnen. Dem Innenministerium im Prozess gegen diese Angeklagten derart viel Unterstützung anzubieten, war aber nur möglich, weil die Überlebenden entschlossen waren, Gerechtigkeit zu fordern.
Langfristig werden mit der Klage drei Ziele verfolgt: erstens, den Opfern der Massaker und ihren Angehörigen Gerechtigkeit zu verschaffen; zweitens, zur Stärkung des Rechtsstaates beizutragen, sowie drittens, eine wahrhaftige Versöhnung voranzubringen, die unmöglich ist, solange die Straflosigkeit weiter besteht und die Würde der Opfer nicht anerkannt wird.

In Guatemala!

Oft wird gefragt, warum dieser Prozess unbedingt in Guatemala stattfinden soll. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass die Suche nach Gerechtigkeit einen greifbaren Effekt für die Überlebenden hat, für den Staat und für das Land. Guatemala muss sich hier, im Land selbst, mit der eigenen Geschichte konfrontieren, damit die Überlebenden und ihre Angehörigen sich gleichberechtigt fühlen können, als geschätzte BürgerInnen in ihrem eigenem Land. Die Institutionen des Rechtssystems müssen auf die Anliegen der BürgerInnen antworten. Tun sie es nicht, schädigen sie ihre Glaubwürdigkeit, deren Stärkung im Übergang zur Demokratie unabdingbar ist. Das Anrecht auf Gerechtigkeit, das jedes Opfer hat, ist die logische Konsequenz der Verpflichtung des Staates, Menschenrechtsvergehen, wie sie im internationalen Recht vereinbart sind, zu untersuchen, zu verfolgen und die Verantwortlichen zu verurteilen. Aber es ist sogar noch mehr: Es ist die Anerkennung der menschlichen Würde der Opfer, seien sie tot oder lebendig.
Die Empfehlungen 47 und 48 der Wahrheitskomission fordern nationale Strafprozesse: Der guatemaltekische Staat soll im Land selbst die Verantwortlichen von Völkermord und anderen Delikten vor Gericht bringen. Präsident Portillo versprach, diese Empfehlungen in Regierungsverpflichtungen umzuwandeln. Allerdings hat Guatemala gemäß der Internationalen Konvention über Völkermord von 1948 sowieso die juristische Verpflichtung, die Verantwortlichen im eigenen Land zu verurteilen, da die Verbrechen ja auch im eigenen Territorium verübt wurden.
Die Anzeige folgt anderen bedeutenden Fällen der Strafrechtsverfolgung in Guatemala. Genannt seien nur die Ermordung der Anthropologin Myrna Mack und von Bischof Gerardi sowie die Massaker in den Orten Dos Erres und Xamán.
Dieser Fall ist in Guatemala nun der erste seiner Art: weil er kollektiv angegangen wird und weil zum ersten Mal wegen Genozid sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt wird. Die Entscheidung, sich auf das Oberkommando zu konzentrieren, hat mehrere Gründe. Zwar ist es möglich, zu fordern, dass alle Personen abgeurteilt werden, die während der 36 Kriegsjahre Menschenrechtsverbrechen begingen, doch birgt dies große Risiken. Zum einen ist es nicht erstrebenswert, die Strategie des Staates zu wiederholen, die Gemeinden zu spalten, dieses Mal durch den Einsatz von Gerichten anstatt wie früher durch die „Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen“ (PAC). Zum anderen wäre es kontraproduktiv, in der aktuellen kritischen politischen Übergangssituation eine Destabilisierung innerhalb der guatemaltekischen Armee zu provozieren.

Fortschritte und Ängste

Wenige Wochen nachdem die Anzeige eingereicht wurde, akzeptierte der Generalstaatsanwalt den Vorschlag, in der Hauptstadt einen speziellen Ermittler einzusetzen. Mittlerweile arbeitet dieser mit einem Team an dem Fall. Er hat selbst viel Erfahrung in der Bearbeitung von bedeutenden Menschenrechtsfällen und das bisher Geleistete ist durchaus positiv zu bewerten: Unter anderem hat das Team Erklärungen von über 50 AugenzeugInnen entgegen genommen und weiteren Vernehmungen für den Jahresanfang zugesagt. Außerdem wird ein Zeitplan für die Untersuchung aufgestellt, in dem sowohl die weiteren ZeugInnen als auch heranzuziehende Beweismittel wie gerichtsmedizinische Berichte der Exhumierungen aufgelistet werden. Um die Ermittlungen voranzutreiben, ermöglicht CALDH dem Team den Zugang zu allen Beweisen, ZeugInnen und Kontakten, die der Organisation zur Verfügung stehen.
Das Innenministerium muss nun die Tatsachen recherchieren und die Beweise zusammenstellen, die für bzw. gegen eine Beteiligung der Angeklagten sprechen. Im weiteren Zuge der Ermittlungen wird dann eine UntersuchungsrichterIn ernannt, die das Material auf seine Prozesstauglichkeit hin prüft. Der Staatsanwalt muss jedoch zu dem Schluss gelangen, dass es ausreichend Beweise gibt für eine Verurteilung, bevor er Anklage bei einer RichterIn erhebt. Damit werden die Beschuldigten formal angeklagt und die RichterIn entscheidet, ob die Beweise ausreichen, um den Fall an ein Gericht zu überweisen. Der Tatbestand des Völkermords setzt zudem den Nachweis voraus, dass die Taten mit dem Vorsatz ausgeführt wurden, eine Gruppe – mindestens teilweise – auszulöschen. Die Völkerrechtskonvention kennt dabei religiöse, ethnische und nationale Gruppen. Nicht nachgewiesen werden muss dagegen die Motivation: Ob sie getötet wurden, weil sie Indígenas waren, weil sie schwarzes Haar hatten oder weil sie beschuldigt wurden, der Guerilla anzugehören. Dies alles gehört nicht zum Tatbestand.
Unterdessen sind die ZeugInnen und ihre Angehörigen mit den Fortschritten zufrieden, die das Innenministerium im Fall von Lucas García macht. Jetzt beginnen allerdings die Verzögerungsmanöver der VerteidigerInnen wie die – unsachgemäße – Berufung auf den Schutz von „Staatsgeheimnissen“, um Beweismaterial nicht herausgeben zu müssen. Wir hoffen, dass nicht wieder die Mittel der Vergangenheit angewendet und ZeugInnen angegriffen werden. Ausgeschlossen werden kann dies aber leider nicht.

Übersetzung: Werner Lamottke

Mehr Informationen zu dem Fall auf der Homepage von Amnesty International: www.amnesty.org
Die ZeugInnen suchen zur Beobachtung ihrer Sicherheitslage Internationale BegleiterInnen. Wer daran Interesse hat, setzt sich per e-mail bitte mit dem Foro de Acompañantes in Verbindung: acoguate@gmx.net

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