Lateinamerika | Nummer 317 - November 2000 | USA

Auf Integrationskurs?

Am 7. November wird ein neuer US-Präsident gewählt

Auf einmal werden sie umworben. Lange Jahre galten sie den einen als mehr oder weniger selbstverständliche StammwählerInnen, die anderen duldeten dagegen bestenfalls ihre Anwesenheit im Land. Die Rede ist von Latinos in den USA und dem Verhältnis der beiden großen Parteien zu ihnen. Lange waren die Präferenzen eindeutig: Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 1996 konnte Bill Clinton 72 Prozent der Stimmen von WählerInnen lateinamerikanischer Abstammung erringen, auf republikanischer Seite erzielte ausgerechnet Ronald Reagan 1980 mit 40 Prozent das beste Ergebnis in dieser WählerInnengruppe. Ob der diesmalige Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, Vizepräsident Al Gore, Clintons Ergebnis wiederholen kann, scheint indes ungewiss.

Werner Lamottke

Vor vier Jahren taten republikanische Rechtsaußen wie Pat Buchanan mit ihrer nationalistischen und rassistischen Propaganda so ziemlich alles, um Latinos zu vergraulen. Dieses Mal hat der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, der texanische Gouverneur George W. Bush, Latinos zu einer Hauptzielgruppe seines Wahlkampfes erkoren. Al Gore überlässt ihm diese demokratische Bastion aber nicht kampflos, und so lassen beide keine Möglichkeit aus, sich bei der Latinobevölkerung anzubiedern, sei es mit ein paar Brocken Spanisch oder mit der Verkündigung, zum traditionellen Weihnachtsessen der Familie Bush gehörten mexikanische tamales, in Blättern gekochte Maiskuchen.
Angesichts dieser ungewohnten Töne ist es, gerade in der republikanischen Partei, um diejenigen stiller geworden, die das Land für ImmigrantInnen abriegeln wollen. Ein Grund für die neue Offenherzigkeit liegt in der veränderten Zusammensetzung der wahlberechtigten US-Bevölkerung. Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund stellen etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und werden in Kürze die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden. Für Bundesstaaten wie Kalifornien, Florida und Texas sind sich DemographInnen einig, dass Latinos innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre die Bevölkerungsmehrheit stellen werden. Nimmt man zu den drei genannten Staaten noch New York hinzu, wo auch ein ansehnlicher Anteil der EinwohnerInnen lateinamerikanische Wurzeln hat, bekommt man die vier bevölkerungsreichsten US-Staaten zusammen. Deren politische Bedeutung wird durch den Wahlmodus noch unterstrichen. Der Präsident wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von 538 Wahlmännern und -frauen, von denen allein 144 aus den vier genannten Staaten kommen. Der Kandidat, der in diesen vier Bundesstaaten gewinnt, kann sich also schon ein ansehnliches Polster zulegen, zumal die Regel gilt, dass der Gewinner alles bekommt. Wenn sich also Al Gore beispielsweise Kalifornien sichern kann – und sei es mit einem Prozent Vorsprung vor Bush –, stimmen alle 54 Wahlfrauen und -männer für ihn.
Zu den demographischen Verschiebungen kommt hinzu, dass im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich viele Latinos an die Urnen gehen. Während die Anzahl der abgegebenen Stimmen bei Präsidentschaftswahlen von 1992 auf 1996 um insgesamt neun Millionen sank, stieg sie bei Latinos um 690.000. Die Zahl der Wahlberechtigten und -willigen Hispanics wird derzeit auf knapp sechs Millionen geschätzt – PuertoricanerInnen in New York und Orlando (Florida), Cubano-AmerikanerInnen im Großraum Miami und vor allem Mexican-Americans im Südwesten zwischen Texas und Kalifornien. Damit stellen sie sieben Prozent aller Wahlberechtigten in den USA, Tendenz steigend.

Mitfühlender Konservatismus

In seinem Wahlkampf bemüht sich George W. Bush nach Kräften, die rassistische Politik seiner ParteigenossInnen vergessen zu machen. Als er kürzlich zu einem Auftritt nach Los Angeles kam, durfte der ehemalige erzkonservative republikanische Gouverneur Pete Wilson nicht einmal im Publikum sitzen. Als erster republikanischer Präsidentschaftskandidat trat Bush bei den Jahrestreffen der beiden bedeutendsten Latino-Organisationen auf, der League of United Latin American Citizens (LULAC) und dem National Council of La Raza (NCLR). Seine Zielgruppe ist die wachsende Latino-Mittelschicht. Einer seiner Gefolgsleute, der texanische Kongressabgeordnete Henry Bonilla, bringt seine Botschaft auf den Punkt: „Der Gouverneur genießt eine ungeheure Unterstützung, da er über alle gleich redet und alle gleich behandelt. Es ist absolut beleidigend, wenn der andere Kandidat daherkommt und sagt, nur weil deine Haut eine bestimmte Tönung habe, seist du ein Opfer, dass du in der Gesellschaft deshalb nicht konkurrenzfähig bist.“
Im Vordergrund seines Wahlkampfes stehen mit Steuersenkungen und dem schlanken Staat klassisch republikanische Themen. Eingebettet sind diese in das Motto des Compassionate Conservatism, des „Mitfühlenden Konservatismus“. Damit versucht Bush diejenigen zu gewinnen, die traditionelle familiäre Werte in Gefahr sehen und/oder gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sind. Den herkömmlichen republikanischen Diskurs von amerikanischen Tugenden und Disziplin hat Bush neu verpackt: „in sanft therapeutische Rhetorik von Selbstwertgefühl, repräsentiert von afroamerikanischen und Latino-Lehrern, die es als persönlichen Erfolg feiern, Innenstadt-Kids in ordentlich uniformierte Alphabeten umzuformen und dafür nichts Teureres benötigen als hohe Erwartungen“, so Bush in einem Beitrag für die Zeitschrift In These Times am 4. September 2000.
Das emotionsbeladene Thema Einwanderung versucht er, durch die – bereits betagte – Forderung nach einer Zweiteilung der Einwanderungsbehörde INS zu besetzen. Um die zum Teil jahrelangen Bearbeitungszeiten zu verkürzen, soll eine eigenständige Institution Aufenthaltsgenehmigungen erteilen und Einbürgerungen vornehmen. Die Grenzüberwachung soll davon abgetrennt und gleichzeitig verstärkt werden. Eine Amnestie für MigrantInnen, die derzeit ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in den USA leben – eine Forderung vieler Latino/a-Organisationen –, lehnt er konsequent ab.
Im Wahlkampf bekommt Bush tatkräftige Unterstützung von seiner politisch überaus erfolgreichen Familie. Sein Vater war von 1989–1993 US-Präsident und sein Bruder Jeb ist Gouverneur von Florida. Aus dessen Ehe mit der Mexikanerin Columba Garnica ging George Prescott hervor, der von den WahlkämpferInnen und den Medien zum Mädchenschwarm stilisiert wurde. Prescott verkörpert das Bild des erfolgreichen Vorzeige-Chicanos und zieht für seinen Onkel durch die Lande. Dabei unterläuft dem politisch Unbeschlagenen allerdings auch schon einmal ein Patzer: Kürzlich verglich er seinen Onkel indirekt mit dem unter Chicanos legendären César Chávez, der zentralen Figur der 60er und 70er Jahre im Kampf um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von mexikanischen ArbeiterInnen in der US-Landwirtschaft. Aufgrund massiver Proteste verschiedener Gruppen, vor allem der Gewerkschaft der United Farmworkers, entschuldigte sich Prescott schnell für den Vergleich. Wie geschmacklos dieser war, zeigt ein Beispiel aus der frühen Amtszeit von George W. Bush als texanischem Gouverneur. Auf Betreiben der Agrarindustrie war es eine seiner ersten Taten, von der demokratischen Vorgängerregierung etablierte Umwelt- und Arbeitsschutzstandards abzuschaffen. Dazu gehörte die Vorschrift, dass Felder zum Schutz der LandarbeiterInnen nach einem Pestizideinsatz markiert werden mussten und für eine bestimmte Sicherheitszeit nicht betreten werden durften.
Bei der offiziellen Kandidatenkür von George W. Bush Anfang August in Philadelphia zeigte sich dann das gesammelte PR-Können der RepublikanerInnen. Ihr Parteikonvent glich zwischendurch einer riesigen Latino-Show. 3000 Hispanics, darunter Pop-Größen wie Jon Secada, Celia Cruz und Emilio Estefan, waren angereist um ihre Unterstützung für Bush zu zeigen. Der Medienrummel zeigte Wirkung: In Umfragen unter Latinos stieg Bush bis hin zum Gleichstand mit Gore.

Bis er es sagt

Die DemokratInnen antworteten mit dem spanischen Sänger Enrique Iglesias, dem Schauspieler Edward James Olmos und mit Dolores Huerta, Gewerkschafterin und Weggefährtin von César Chávez. Zwar entwickelten sie kein griffiges Schlagwort wie die RepublikanerInnen, um ihrem Kandidaten ein eigenes Profil zu verpassen. Aber auch die Kür von Albert Gore war von der Botschaft erfüllt, dass in Wirklichkeit er dafür stünde, Angehörigen von Minderheiten den Weg in den Amerikanischen Traum zu ebnen. Gore hat es beim Werben um Latino-Stimmen deutlich einfacher, kann er doch auf die jüngere Vergangenheit der Demokratischen Partei aufbauen, in der diese mit Bevölkerungsminderheiten freundlicher umgegangen ist als die republikanische. Zudem haben auf dem Ticket der DemokratInnen bereits mehrere Latinos politische Karriere gemacht. Bekanntester ist der derzeitige Minister für Energie und Erdbau und ehemalige UN-
Gesandte der USA, Bill Richardson, den viele Hispanics gerne anstelle von Joseph Lieberman als Vizepräsidentschaftskandidaten gesehen hätten.
Gore richtet sich in seinem Wahlkampf weniger an die Mittelschicht als vielmehr an ärmere Latinos und an diejenigen, für die die Immigrationsproblematik virulent ist. Anstatt das Hohelied auf niedrige Steuern zu singen, entwirft er Pläne für eine bessere Sozialversicherung. Damit trifft er nicht nur, aber auch bei Latinos einen Nerv. Denn von den 44 Millionen US-AmerikanerInnen ohne Krankenversicherung stellen sie etwa ein Viertel. Den Mindestlohn will Gore von 5,15 US-Dollar um einen Dollar erhöhen – auf diesen oder gar auf noch weniger sind 7,5 Prozent der Latinos angewiesen. Auch einer anderen Forderung von ImmigrantInnen-Organisationen will Gore nachkommen, nämlich der nach der Ausweitung des „Unterstützungsgesetzes für NicaraguanerInnen und ZentralamerikanerInnen“ (NACARA). Mit diesem genehmigte der US-Kongress 1997 NicaraguanerInnen und KubanerInnen, die vor „Bürgerkriegen in ihren Ländern“ in die USA flohen, den dauerhaften Aufenthalt. Gore versprach nun, das Gesetz auf Flüchtlinge aus Guatemala, El Salvador, Honduras und Haiti auszuweiten. Auch ließ er durchblicken, dass er offen sei für eine Generalamnestie für ImmigrantInnen ohne gültige Aufenthaltspapiere. Im Gegensatz zu Bush sagte er zudem zu, zweisprachige Erziehungsprogramme und andere Förderinstrumente für ImmigrantInnen, vor allem die derzeit umkämpfte Affirmative Action, zu verteidigen und wenn möglich auszubauen.
Diese Liste schöner Versprechen könnte man noch fortsetzen. Allerdings ist Gore auch kein unbeschriebenes Blatt: Als Vizepräsident war er unter anderem daran beteiligt, parallel zum britischen New Labour und den deutschen SozialdemokratInnen die Linie der New Democrats zu entwickeln und den Konservativen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie deren klassische Themen übernahmen. Nur zwei Beispiele: Im Namen der Haushaltskonsolidierung beschnitten sie die Sozialhilfe, gerade auch für ImmigrantInnen, und im Namen der Nationalen Sicherheit forcierten sie im In- und Ausland den Krieg gegen DrogenkonsumentInnen, -produzentInnen und -händlerInnen. In den USA sitzen in Folge dessen über zwei Millionen Menschen im Knast. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat damit weltweit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die größte Gefängnispopulation, größtenteils African-Americans und Latinos. Der Kabarettist Will Durst meint denn auch zu dem liberalen Image des demokratischen Kandidaten: „Das Problem mit Al Gore ist, dass ich eine ganze Menge von dem glaube, was er sagt – bis er es tatsächlich sagt.“

Außenseiter

Neben Gore und Bush gibt es noch zwei weitere Kandidaten: Pat Buchanan und Ralph Nader. Beide haben zwar keine Aussichten, ins Weiße Haus einzuziehen, sind aber trotzdem der Erwähnung wert. Der ehemalige Republikaner Pat Buchanan kandidiert auf dem Ticket der Reformpartei, für die bei den letzten Wahlen der Multimillionär Ross Perot antrat. Aus dem Achtungserfolg, den dieser damals erzielte, resultierte ein Parteivermögen von 12 Millionen US-Dollar aus der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung. Damit versucht nun Buchanan, seine ultra-konservative Botschaft unters Volk zu bringen. Zwar startete er einen Versuch, mit der starken Betonung von Familienwerten konservative Latinos für sich zu gewinnen, aufgrund seiner Tiraden gegen Einwanderinnen und Einwanderer steht er dabei aber auf verlorenem Posten. Umfragen geben ihm derzeit insgesamt um die zwei Prozent.
Auf der Linken tut sich dagegen der als KonsumentInnenanwalt bekannt gewordene Ralph Nader hervor, der für die Grüne Partei antritt. Diese ist in den USA relativ jung, klein und heterogen. Trotzdem konnte sie in Neu Mexiko und Kalifornien mit dem Einzug in die Regionalparlamente bereits Erfolge feiern. Im Gegensatz zu den deutschen Grünen vertritt Nader die Position, zentrale Probleme der Gesellschaft seien die Dominanz der großen Konzerne und die Entmündigung der BürgerInnen durch die politische Elite. Angesichts dessen fordert er eine Reform des Steuerrechtes und der Lohnstruktur sowie die Revision der Wahlgesetzgebung, um kleinen Parteien den Einzug in die Parlamente zu erleichtern. In der Einwanderungspolitik unterstützt er die Amnestieforderung und eine Öffnung der Grenzen.
Nader liegt derzeit mit sieben Prozent der erwarteten WählerInnenstimmen recht gut im Rennen und sieht dies selbst in erster Linie als wichtigen Schritt zur Konsolidierung der Partei. Da allgemein erwartet wird, dass er Stimmen von der Demokratischen Partei abzieht, kann er durchaus zum entscheidenden Faktor für einen Sieg von Bush werden. Von Latinos hat Nader – trotz seiner Positionen – nicht viel zu erhoffen. Am 14. September veröffentlichte die größte spanischsprachige Tageszeitung in den USA, La Opinión aus Los Angeles, ein Interview mit ihm. Einige Tage später lobte eine Leserin zwar seine Aussagen – aber auch die Redaktion, da diese mit dem Abdruck dazu beitrage, dass Latinos überhaupt von der Existenz einer Grünen Partei und von Nader erfahren würden.

Kein geschlossenes Votum

Die großen Latino-Bürgerrechtsorganisationen wie LULAC, NCLR oder auch der Mexican American Legal Defense and Educational Fund (MALDEF) geben traditionell keine Wahlempfehlung ab. Stattdessen veröffentlichte MALDEF Anfang September einen 50-seitigen Brief an die Kandidaten der beiden großen Parteien (www.maldef.org), in dem deren Positionen zur Förderung der sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Situation der Latino-Bevölkerung abgefragt werden. Bei den meisten Themen liegt Gore sicherlich näher an den MALDEF-Forderungen als sein Kontrahent, auch wenn er weit davon entfernt ist, diese zu erfüllen.
Latinos werden sicher kein geschlossenes Votum abgeben. Wie alle anderen Bevölkerungsgruppen haben auch sie unterschiedliche Interessen. Für diejenigen, die den Sprung in die Mittelschicht geschafft haben, wird Bush sicherlich eine interessante Option sein.
In den ärmeren Bevölkerungsgruppen wird er dagegen einen schweren Stand haben. Im stark personenzentrierten Präsidentschaftswahlkampf wird viel davon abhängen, wie die beiden Kandidaten an ihren Sympathiewerten arbeiten können. Interessant wird dabei sein, wie viele Stimmen die Kandidaten jeweils im Revier des anderen und unter den noch unentschiedenen WählerInnen holen können. Dabei tragen beide ihr Päckchen: George W. Bush wird sein Image des reichen weißen Texaners nicht los und über Al Gore behaupten spitze Zungen, es sei egal, ob er nun Englisch, Italienisch oder Spanisch spreche, er bleibe einfach ein Langweiler.

Mehr Informationen zum Thema im Internet:
www.latinovote.com. Diese Seite bietet viele grundlegende Infos und Links zu den Seiten der Präsidentschaftskandidaten und zu Latino-Organisationen.

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