Aufbau einer Wirtschaftsweise von unten
In allen Landesregionen Brasiliens werden Vertreter*innen solidarischer Ökonomie ausgebildet

„Paul Singer handelte stets als politischer Weltbürger. Er hegte und lebte die Hoffnung auf eine humanitäre Gesellschaft und solidarische Wirtschaft und wusste andere mit dieser Hoffnung anzustecken“ (LN 527, S. 39 – 41). Das schrieben wir im April 2018 in einem Nachruf. Der brasilianische Soziologe und Ökonom war der Begründer einer solidarischen und selbstverwalteten Wirtschaftsform, der Solidarischen Ökonomie. Heute können wir berichten, wie in seinem Sinne Personen und Institutionen ein breites Bildungsprogramm von unten aufbauen. Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Solidarischen Ökonomie und der Start eines breiten Ausbildungsprogramms für Agentinnen Solidarischer Ökonomie in allen Landesteilen stellen jetzt einen wichtigen Beitrag für selbstbestimmte Prozesse demokratischen Aufbaus eigener Unternehmen.
„Eine Revolution der Bildung“
Paul Singer erklärte 2013: „für mich ist die Demokratie die größte Errungenschaft der Menschheit. Ich setze mich für eine demokratische Form des Wirtschaftens ein, die Solidarische Ökonomie.“ Er sieht den Ursprung der Solidarischen Ökonomie nicht nur in der Industriellen Revolution, sondern als festen Bestandteil der Praxis Indigener Völker seit jeher. Es gehe heute um die Wiedererlangung der Menschenwürde für unsere Mitbürgerinnen, die nicht integriert worden seien, das heißt um die demokratische Revolution. Der Kampf darum ende nie, und demokratische Erfindungen seien Ergebnisse dieses Kampfes. Für den Soziologen bedeuten diese demokratischen Erfindungen eine Revolution der Bildung, der Psychologie und Psychiatrie für die öffentliche Gesundheit, aber auch eine wirtschaftliche Revolution.
Paul Singer, der Ende der 80er Planungssenator der Millionenstadt São Paulo war, wurde von der Arbeitsgruppe „Solidarische Ökonomie“ des Weltsozialforums 2002 beauftragt, diese Arbeit zu leiten. Die Errichtung eines Nationalen Sekretariats für Solidarische Ökonomie (SENAES) im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung war damals Teil des Wahlversprechens von Lula da Silva.
„Neue solidarische Lebensphilosophie”
Der heutige Staatssekretär für Volks- und Solidarökonomie Gilberto Carvalho sieht als Grund der Ausbreitung von solidarischen Vereinigungen die Beschäftigungskrise der 1990er Jahre. „Landesweit entstanden viele Vereinigungen, auch informelle auf dem Land, vor allem in bäuerlichen Familienbetrieben und Genossenschaften. Die Menschen erkannten, dass sie bessere Arbeits- und Einkommensbedingungen haben, wenn sie sich zusammenschließen, inspiriert von dem alten Prinzip des selbstverwalteten Sozialismus“, erklärt er.
Die Prinzipien der Solidarischen Ökonomie beruhen auf demokratischen Prozessen, Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Selbstverwaltung und gleichmäßiger Verteilung von Gewinnen und Einkommen. Die Überschüsse werden in andere Unternehmen derselben Art investiert. „Es handelt sich nicht nur um eine Wirtschaftsweise, sondern um eine Lebenskultur, in der eine neue Produktionsweise kultiviert wird, bei der die Arbeiter die Produktionsmittel besitzen, mehr Respekt für das Land und Respekt für den Planeten haben.“, so Carvalho. In der Solidarischen Ökonomie seien Produzentinnen, Konsumentinnen und diejenigen, die kommerzialisieren, gleichberechtigt und folgten dem Grundsatz, dass Konsum nicht zur Zerstörung des Planeten beitragen dürfe.

„Ein Rechtsrahmen in kommunaler und nationaler Politik”
Am 3. Dezember 2024 berichtet Gilberto Carvalho im brasilianischen Radio canal gov/ A Voz do Brasil (Die Stimme Brasiliens) von dem Ausbildungsprogramm Solidarische Ökonomie Paul Singer, das darauf abzielt, neue Kräfte für die Solidarische Ökonomie an der Basis zu gewinnen. „Wir gehen also voran, indem wir jetzt, 2024, 500 Agenten der Solidarischen Ökonomie einstellen und Anfang 2025 weitere 500“, kommentiert er. Diese Agentinnen sollen nun an der Basis arbeiten, um das Entstehen neuer Unternehmen im Sinne der Solidarischen Ökonomie anzuregen. Bereits über 9000 Personen aus allen Landesteilen haben sich für diese Aufgabe beworben. Im Juli 2021 wurde vom Stadtrat von São Paulo das „Paul-Singer Gesetz“ verabschiedet, um eine Rahmenregelung für die Solidarische Ökonomie auf kommunaler Ebene zu schaffen. Drei Jahre später, im Dezember 2024, unterzeichnet Präsident Lula da Silva ein Gesetz zur Schaffung der Nationalen Politik der Solidarischen Ökonomie (PNES) mit den Worten „Dies ist in der Tat eine wohlverdiente Ehrung, denn es hat in Brasilien noch nie jemanden gegeben, der sich besser um die Solidarische Ökonomie gekümmert hat als Paul Singer“. Der Soziologie und Ökonom wurde durch seinen zwei jahrzehntelangen Einsatz für Solidarische Ökonomie zu einer nationalen und internationalen Referenz auf dem Gebiet.
„Der Staat im Dienste der gesellschaftlichen Selbstbestimmung “
Die Kartierung der solidarischen Wirtschaftsunternehmen wurde 2003 durch das SENAES begonnen, nun wird diese Kartierung weitergeführt. Die so geschaffene Datenbasis ist für die einzelnen Unternehmen und ihre Regionen sowie für das Nationale Forum Solidarischer Ökonomie eine aktualisierte Grundlage, auf der sie den Aufbau solidarischer Ökonomie auswerten und nun auch in Zukunft ihre Strategien beschließen können. 2003 begann ein kleines Team des SENAES mit der Arbeit, indem es sich zunächst auf die am stärksten ausgegrenzten Gruppen wie die Müllsammlerinnen (catadores de lixo), Arbeiterinnen in psychiatrischen Krankenhäusern oder in Gefängnissen konzentrierte. Außerdem hatten Gewerkschaftsmitglieder in einem dafür gegründeten Verein begonnen Arbeiterinnen insolventer Unternehmen zu beraten. Soweit sie daran Interesse hatten, konnten sie über längere Zeit mit Hilfe des Vereins lernen, wie sie ihre Unternehmen unter eigener Leitung als Unternehmen der Solidarischen Ökonomie weiterführen können. Heute führt die Genossenschaftszentrale UNISOL diese Arbeit durch. In den folgenden Jahren entstanden Innovationsberatungsstellen (Inkubatoren) für die Gründung solidarischer Unternehmen an über 100 Universitäten, um Personengruppen zu unterstützen, die selbstverwaltete Unternehmen in den Regionen gründen wollten. In den Bundesstaaten und Gemeinden werden Räte für Solidarische Ökonomie gegründet, die die Verantwortung für ihre Territorien übernehmen und sich um die Konsolidierung anderer Produktions-, Konsum-, Handels- und Finanzierungsformen bemühen. Diese Entwicklungen sind der Gegenstand demokratischer Transformationen. Das Problem des ungleichen Kampfes gegen die großen nationalen und internationalen kapitalistischen Interessen erfordert es, auf dem Weg der Demokratisierung und der Konsolidierung eines Rechtsstaates voranzuschreiten, der sowohl die Selbstverwaltung seiner Bürger*innen als auch seine Territorien entsprechend der Natur ihrer Ökosysteme entschlossen verteidigt.





