Mexiko | Nummer 396 - Juni 2007

„Aufklärung in Mexiko ist genitalisiert“

Interview mit der mexikanischen Journalistin und Frauenrechtlerin Lucia Lagunes

Lucia Lagunes arbeitet seit 16 Jahren als Journalistin und außerdem für die feministische Nachrichtenagentur CIMAC. Dort ist sie zuständig für Kommunikation und den Themenbereich „Soziale Lage der Frauen“. Ihr besonderes Anliegen ist es, Räume in mexikanischen Medien für Frauenfragen zu öffnen und eine öffentliche Debatte zu Diskriminierung und Sexismus anzuregen. LN sprachen mit ihr über die Debatte um die Legalisierung von Abtreibung, die Selbstbestimmung von Frauen in einer chauvinistischen Gesellschaft und die Haltung von StaatsvetreterInnen zur agressiven Meinungsmache der katholischen Kirche.

Nils Brock

Was genau bedeutet die neue Abtreibungsregelung für die Bewohnerinnen von Mexiko Stadt?

Die Neuregelung wird vieles ändern. Zunächst einmal können ab jetzt nicht gewollte Schwangerschaften auf legalem Wege unterbrochen werden. Die Verabschiedung eines „Recht auf Abtreibung“ zeigt aber auch, dass in der mexikanischen Gesellschaft heute kontroverse Themen diskutiert werden können. Das ist ein großer Fortschritt.

Wer unterstützte in der Abtreibungsdebatte die Forderung nach dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch?

Neben vielen rein feministischen Organisationen gab es auch Parteien, wie die linke PRD und Alternativa, die uns unterstützt haben. Die PRI hat eine Gesetzesänderung noch bis letztes Jahr blockiert, aber heute war sie in Mexiko-Stadt dafür. Auch die Organisation „Katholikinnen für das Recht auf Entscheidungsfreiheit“ (CDD) war sehr engagiert. Sie kämpfen seit Jahren gegen die dogmatischen Hierarchien der katholischen Kirche an. Ihnen geht es um das Recht auf Selbstbestimmung. Es ist anders geworden. Gegenüber dem Gesetz sieht es auf den ersten Blick nach Pro und Kontra aus, aber es geht um mehr. Es geht nicht darum, für Abtreibung zu sein, sondern für die Frauen, damit sie selbst bestimmen können.

Die Oberhäupter der katholischen Kirche in Mexiko laufen gerade Sturm gegen die Legalisierung. Ist deren Aufgeregtheit auch eine Angst vor Kontrollverlust über die Gläubigen?

Ja, in zweierlei Hinsicht: Natürlich hat die Kirche Angst, allgemein an Einfluss zu verlieren. Seit der Conquista hat die Kirche in Lateinamerika immer die Mächtigen unterstützt. Die Mestizaje beruht auf Vergewaltigung. Tempel wurden zerstört und diese Gewalt ist bis heute nicht vergessen worden. Die Kontrolle der Frau ist der andere Punkt, eine Kontrolle von Lust und Kinderkriegen. Die Kontrolle über unseren Körper zu übernehmen, ist revolutionär – nicht nur in Fragen der Mutterschaft sondern überhaupt. Mit wem teile ich meinen Körper? In der Geschichte ist eine solche Denkweise die Ausnahme. Deshalb sind Initiativen von Frauen gefährlich, in denen über Körper debattiert wird. Denn bei einer Abtreibung geht es am Ende um eine Schwangerschaft, die eine Frau nicht will. Und warum ist das so? Weil wir oft nicht frei über sexuelle Kontakte entscheiden können. Die WHO hat eine Statistik veröffentlicht, die besagt, dass 50 Prozent der Frauen unter 19 Jahren, die ihr Sexualleben beginnen, dies unter Druck tun. Es geht also auch darum, diese Entscheidung in den Partnerschaften gleichberechtigt zu treffen. Es gibt heute in Mexiko noch immer viel Gewalt, emotionalen Betrug und Vergewaltigungen in den Beziehungen und Familien.

Die konservative Opposition preist ja vor allem „Adoption“ als Alternative zu einem Schwangerschaftsabbruch an…

Aha, was sind wir also, Brutställe? Männer, die sowas vorschlagen, haben doch keine Ahnung, was es heißt, schwanger zu sein. Man kann eine Frau doch nicht zwingen, ein ungewolltes Kind zur Welt zu bringen und dann wegzugeben. Das ist viel brutaler als eine Abtreibung. Frauen entscheiden sich doch nicht bei Tee und Kuchen für eine Abtreibung. Das ist eine schwierige Entscheidung, jede Frau denkt darüber nach. Solche Forderungen sind beleidigend. Wir sind doch keine Tiere.

Selbst linksliberale Zeitschriften wie der Proceso fordern, „Grenzen der Abtreibung“ zu ziehen. Da wird bespielsweise gegen Schwangerschaftsabbrüche als Mittel der allgemeinen Geburtenkontrolle argumentiert und mehr Aufklärung in Schulen gefordert.

Das Problem ist nicht „Abtreibung“. Vielmehr sollte man fragen: „Warum haben wir ungewollte Schwangerschaften?“ Weil Geschlechtergleichheit praktisch nicht gegeben ist. Warum benutzen jugendliche Männer kein Kondom? Wegen fehlender Infos ja wohl nicht und außerdem gibt es Kondome überall zu kaufen. Wie bringe ich also meinen Freund dazu, ein Kondom zu benutzen? Soll ich ihn anbinden, es ihm mit Gewalt überziehen? Warum macht man Männer nicht verantwortlich für ihre Ejakulation? Aber wenn man das anspricht, gehen die Herren. Die Verantwortung wird nach wie vor den Frauen überlassen. Warum hast du nicht aufgepasst? Nein: Wer nicht aufgepasst hat bist du. Ich insistiere: Abtreibung ist die letzte Möglichkeit eine Schwangerschaft abzubrechen und kein Kind zu bekommen. Wieviele Erklärungen müssen wir noch geben und wiederholen, dass auch Verhütungsmittel eben nicht 100% sicher sind. Um all das geht es. Aufklärung ist wichtig, aber Aufklärung in Mexiko ist genitalisiert, wie der männliche Blick. Es geht aber nicht nur um „reinen Sex“ sondern sexuellen Umgang im Allgemeinen, um Respekt, um Abkommen, um gleichberechtigte Partnerschaften. Mit dieser Ungleichheit muss aufgehört werden.

Wie beurteilst du die Geschlechtergleicheit in Mexiko. Gibt es regionale Unterschiede?

Natürlich gibt es Unterschiede. Es ist nicht dasselbe, in Mexiko Stadt über Aufklärung zu sprechen wie in Veracruz, wo eine vergewaltigte Frau offiziell an Gastritis stirbt [siehe Artikel zu Feministinnentreffen in dieser Ausgabe]. Wir haben außerdem selten die Mittel für nationale Kampagnen. Vor zwei Jahren hat die UNO ein Entwicklungsindex für Mexiko veröffentlicht. Da werden enorme Unterschiede sichtbar. Dieses Land ist sehr ungleich. Es ist nicht dasselbe in Chiapas oder der Delegation Benito Juarez [gute Gegend in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.] aufzuwachsen. Das ist ein Unterschied wie zwischen Pakistan und Kanada. Wir hier können ganz andere Entscheidungen treffen. Aber der Staat kümmert sich nicht um diese Ungleichheit. Das ist ein Thema, das weit über die übliche „Armutsdebatte“ hinaus geht.

Hier werden mehr Cowboy-Comics als Zeitungen gelesen. Und zuletzt kam der Vorschlag auf, Telenovelas verstärkt mit Aufklärungsthemen zu spicken.

Eigentlich wäre die Film- und Fernsehindustrie in dieser Hinsicht der Gesellschaft schon etwas schuldig. Man stelle sich vor, die würden ernsthafte Programme machen und Frauen nicht nur als Objekte zeigen. Das Thema Abtreibung macht gerade viele Widersprüche deutlich. Wenn du dir überlegst, wie der weibliche Körper in Mexiko zur Schau gestellt wird, erscheint der Einsatz von Telenovelas zur Aufklärungsarbeit allerdings fraglich.

Hat CIMAC während der Debatte auch Drohungen erhalten?

Nein, wir persönlich haben keine Drohungen erhalten. Aber der Ton der Debatte war gefährlich und der Staat hat geschwiegen. Einige staatliche Vertreter haben ihr „Nein“ zu Abtreibung sogar offen zur Schau getragen, der Gesundheitsminister zum Beispiel. Dabei sollte gerade er die Gesundheit der Frauen fördern. Die Polarisierung, die wir hier erlebt haben, ist gefährlich und ermöglicht Gewalttaten gegen Frauen. Wir haben das Problem ja schon wegen des politischen Versagens. Der Staat hätte eingreifen und sagen müssen, das Leben der Menschen, die ihre Ideen öffentlich äußern, muss geschützt werden, denn es ist ihr Recht. Aber besonders der Präsident tritt den Aussagen fundamentalistischer Gruppen nicht entgegen. Diese Gruppen propagieren Lynchmorde!

Wird so am Ende die PRI zum wichtigen Verbündeten der Frauen und der PRD?

Mit der PRI ist das eine komplizierte Sache. Die PRI hat seit 70 Jahren den laizistischen Staat respektiert, aber sich auch nicht entschieden für legale Schwangerschaftsabbrüche eingesetzt. Die PRI hat oft „Nein“ gesagt. Sie hat ihre eigene Geschichte, aber um sich treu zu bleiben, musste sie jetzt mit „Ja“ stimmen, um den laizistischen Staat zu verteidigen. Die PRI hat ja auch die erste internationale Frauenkonferenz in Mexiko mit initiiert. Nicht alle Abgeordneten haben ein Bewusstsein für das Thema Abtreibung, aber es ist eben eine disziplinierte Partei.

Wird das neue „Recht auf Abtreibung“ auch Signalwirkung im Rest das Landes haben?

Die Entscheidung ist absolut symbolisch. Der Erfolg der Abstimmung impliziert nicht nur das Recht der Frauen auf Abtreibung, sondern zeigt auch, dass heute in Mexiko kontroverse Gesetze verabschiedet werden können, wie in einer demokratischen Gesellschaft üblich. Natürlich, wir reden hier von Mexiko Stadt, die von der linken PRD regiert wird. Das ist nicht die Regel. Mit der PAN ist es schwieriger. In Guanajuato, einem von der PAN regierten Bundesstaat hat diese Partei versucht, die bestehenden Abtreibungsregelungen rückgängig zu machen. Wollen wir solche Regierungen? Unser Land ist heute militarisiert, Armut und Ungleichheit wachsen. Die Abstimmung über das „Recht auf Abtreibung“ ist bereits jetzt wichtig für die nächsten Wahlen 2012 und als Impuls für eine Reform staatlicher Institutionen.

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