Literatur | Nummer 607 - Januar 2025

Aufschrei gegen das Schweigen

Das Schweigen meines Vaters erzählt von Verzweiflung und Hoffnung in der Familiengeschichte der Rosencofs

Von Aurelia Tens
Hand ind Hand Rosencof und ein spä­te­res LN-Redak­tionsmitglied im Jahr 1994 (Foto: Jörg Schaaber)

Die Geschichte der jüdischen Familie Rosencof ist, über mehrere Kontinente und Jahrzehnte hinweg, eine der Verfolgung, aber auch der Hoffnung. Darum, wie die Erfahrungen der Eltern und nahen Verwandten sein Leben geprägt haben, dreht sich Mauricio Rosencofs Buch Das Schweigen meines Vaters. Der Schriftsteller und Dramaturg, der als führendes Mitglied der Stadtguerilla Tupamaros 13 Jahre als politischer Gefangener einsaß, verwebt darin die Geschichten mehrerer Generationen zu einem dichten, berührenden Erzählnetz.

Das Werk ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Die Flucht des Vaters angesichts der Armut und des grassierenden Antisemitismus in Polen nach Uruguay, die Erinnerung an die Shoah aus der Perspektive der Hinterbliebenen und Rosencofs eigene Erlebnisse als politi­scher Gefangener während der Militärdiktatur in Uruguay. Diese Perspektiven wechseln sich oft innerhalb weniger Seiten ab. Zu Beginn kann der fragmentarische Aufbau verwirrend wirken, da die Vielzahl an Namen, Orten und Zeiten schwer zuzuordnen ist. Doch nach und nach entfaltet sich ein weitverzweigter Familienstammbaum, der ein klares Bild der Zusammenhänge entstehen lässt.

Rosencofs Erzählweise beeindruckt durch ihre Dynamik. In wenigen Sätzen gelingt ihm der Wechsel zwischen Leichtigkeit und bedrückender Schwere. Er führt die Lesenden an die Abgründe der Menschheit, lässt sie aber nie völlig darin versinken. Die Brutalität wird greifbar, doch zugleich ist da stets ein flüchtiger Hoffnungsschimmer – wie ein Lichtstrahl, der unerwartet durch ein Fenster fällt. Diese Wechselhaftigkeit macht die Lektüre intensiv und emotional fordernd.

Besonders eindringlich ist die Stimme von Rosencofs Cousine, einer Auschwitz-Überlebenden. In knappen, prägnanten Passagen berichtet sie von den Momenten vor der Deportation bis hin zur Befreiung. Ihre Erinnerungen sind schmerzhafte Mahnungen an die Grausamkeiten der Menschheit und zugleich eindringliche Warnungen, diese Abgründe nie zu vergessen. Die Verflechtung unterschiedlicher Perspektiven, zumeist ohne kla­­re Zuordnung, schafft eine besondere Stimmung. Diese Uneindeutigkeit wirkt wie ein bewusstes Stilmittel, das verdeut­licht: Jeder ist Teil des anderen, und die Grenzen zwischen den individuellen Geschichten verschwimmen. Es entsteht das Gefühl, dass die Geschichten der Vergangenheit uns nicht fremd sind, sondern tief mit uns verwoben.

Das Schweigen meines Vaters ist nicht nur ein historisches Zeugnis der dunkelsten Kapitel der Menschheit, sondern auch ein bewegender Einblick in die Geschichte einer Familie, die über Kontinente und Generationen hinweg verbunden bleibt. Trotz räumlicher und zeitlicher Distanz spürt man, wie universell und vertraut die Dynamiken von Familie sind. Das Buch ist keine leichte Kost – und will es auch nicht sein. Vielmehr eröffnet Rosencof eine neue Perspektive auf die Einzigartigkeit und Gemeinsamkeit aller Familiengeschichten. Ein bemerkenswertes Werk, das Leser*innen tief berührt und lange nachwirkt.

Mauricio Rosencof // Das Schweigen meines Vaters // Aus dem Spanischen von Svenja Becker // Assoziation A // 2024 // 160 Seiten // 18 Euro


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