Nummer 288 - Juni 1998 | Sport

Auge um Auge

Die Gewalt in argentinischen Stadien eskaliert

Luis Jiménez setzt sein finsterstes Gesicht auf. Dann preßt er kurz die Lippen zusammen, um schließlich todernst zu verkünden: „Unsere eingesperrten Fans sind die einzigen politischen Gefangenen des Landes.“ Und Punkt. Dann erwartet man ein Grinsen, ein Auflachen, ein sich köstlich auf die Schenkel Klopfen ob des gelungenen Scherzes. Luis Jiménez aber nimmt nur einen Schluck aus der Bierflasche und schweigt.

Armin Lehmann

Eigentlich ist er ein umgänglicher Zeitgenosse. Nur wenn es um Fußball geht, dann hakt irgendetwas aus in der Gedankenwelt des fanatischen Anhängers des legendären argentinischen Arbeiterklubs Boca Juniors. Jiménez meint es ernst mit den politischen Gefangenen. Politische Gefangene?
1995 hat die argentinische Justiz ein bemerkenswertes Urteil gefällt: Insgesamt neun Anhänger („hinchas“) von Boca aus dem gleichnamigen Bezirk von Buenos Aires wurden wegen Mordes und krimineller Machenschaften zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Prozeß ging zurück auf Vorfälle im Jahre 1994, als nach dem 2:0-Sieg des Erzrivalen River Plate im Boca-Stadion zwei Fans der Gäste ermordet wurden. Das Urteil war insofern neu, weil erstmals die „barrabravas“, die militanten Fans, vom Gericht als kriminelle Organisation eingestuft wurden.
Die zynische Aussage von Jiménez über die „politischen Gefangenen“ wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation im argentinischen Fußball. Was vor Jahren noch als heißblütig, fußballbesessen, südländisch eben, aber ansonsten eher harmlos abgetan wurde, eskaliert mittlerweile von Jahr zu Jahr. Mit der zunehmenden Armut gerade auch in Buenos Aires, mit wachsender Arbeitslosigkeit und ausufernden sozialen Konflikten sowie mit der Explosion der Jugendbanden-Entwicklung stieg auch die Kriminalität in und um die Stadien in rasantem Tempo an. Die politisch Verantwortlichen haben keine Lösung.

Spielverbote nach Gewaltexessen

Vor kurzem eskalierte die Lage vollends. Argentinien erlebte in diesem Mai erneut ein schwarzes Fußballwochenende. „Die Gewalt wird zur Gewohnheit“ titelte die Sportzeitung „Olé“. Für die Zeitung „Clarín“ war es eine „Viaje Bravo“, eine brutale Reise. Mit Riesenlettern und einem Bild marodierender „barrabravas“ reagierte sie auf die traurigen Geschehnisse und warnte vor den Fanatikern bei der WM in Frankreich. Selbst für die seriöse Tageszeitung „La Nación“ war die Fußball-Landkarte Argentiniens eine Karte der „Schande“.
Auseinandersetzungen zwischen randalierenden „barrabravas“ bei Spielen der ersten und zweiten Liga sorgten für eine erschreckende Bilanz: Ein Toter in Mar del Plata sowie zwei durch Schußwunden verletzte Fans und zahlreiche Festnahmen in Buenos Aires. Vor dem Klassiker Independiente gegen River Plate schossen Fans der Heim-Mannschaft aus einem fahrenden Wagen gezielt auf River-Anhänger. Zwei Männer mußten mit Schußverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Medien gingen von einem Racheakt aus, da River-Fans vor zwei Jahren einen Independiente-Anhänger erschossen hatten.

Appelle und Verbote sind wirkungslos

Nach den Ausschreitungen forderte Staatspräsident Carlos Menem „endlich wirksame Schritte gegen die Gewalt“. Er unterstützte die Entscheidung von Richter Victor Perrota in Buenos Aires, Meisterschaftsspiele der Profiligen für unbestimmte Zeit zu untersagen. Ein Novum im argentinischen Fußball. Die Fans reagierten mit Massenprotesten auf die Verbote. Das Aus betraf alle Begegnungen der ersten bis vierten Liga. Nur auf die Nationalelf, die in Cordoba ein Testspiel für die Weltmeisterschaft gegen Bosnien-Herzegowina austrug, hatte der Spruch des Richters keine Auswirkungen.
Doch ein Verbot der Spiele kann kaum die Gewaltbereitschaft der Fans bekämpfen. Die ganze Hilflosigkeit der Verantwortlichen wurde in einem Zeitungsinterview mit Julio Grondona, dem Präsidenten des argentinischen Fußball-Verbandes, deutlich: Er wisse nicht, wie er dem Problem Herr werden könnte, gab Grondona zu. Tatsächlich handelt es sich eben nicht nur um rivalisierende Fans, sondern, wie auch das Gericht im oben beschriebenen Fall erklärte, um kriminelle Vereinigungen, die beispielsweise in anderen Ländern wie Brasilien längst etabliert sind. Hinzu kommt, daß das Geflecht aus sozialen Spannungen, Fußballfanatismus und krimineller Organisation kaum noch zu durchschauen ist. Sowohl Trainer als auch Spieler heizen die Stimmung zusätzlich durch ihre Wortwahl an. Sie machen aus einem Fußballspiel einen Krieg. Es geht stets um „ganar o morir“, gewinnen oder sterben.

Spiegelbild der Gesellschaft

Ähnlich geht es auch im „richtigen Leben“ zu. Überleben oder sterben lautet die Losung. Die linke Tageszeitung „Página 12“ vermutet, daß das Gewaltproblem kaum gelöst werden könne, solange die neoliberale Wirtschaftspolitik die Menschen in die Armut treibt. Tatsächlich belegt die Statistik, daß mit zunehmender Armut auch die Kriminalitätsrate steigt. Nach Veröffentlichungen des Statistikamtes Indec leben 41 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Über 17 Prozent der 33 Millionen Argentinier sind arbeitslos. Gleichzeitig ist seit 1994 in Buenos Aires die Kriminalitätsrate um 41 Prozent gestiegen. Die zunehmende Gewaltbereitschaft spiegelt sich im Fußballstadion wider. Überleben ist im Alltag schon schwierig genug. Im Fußballstadion „überlebt“ aber nur, wer dem Gegner, den gegnerischen Fans zeigt, wer stärker ist, notfalls mit Gewalt.
Der Fanatismus schreibt harmlose und tödliche Geschichten. Da ist zum Beispiel die eher lustige von der Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Buenos Aires, die ausgerechnet im Reichenviertel von Palermo ihr Haus blau streichen lassen wollte. Palermo aber ist das Zuhause von River Plate, dem erfolgreichsten argentinischen Klub, dem Klub der Reichen und Schönen. Blau wiederum ist die Farbe Bocas, des verhaßten Gegners aus dem Elendsviertel an den Hafendocks. Der Postbote weigerte sich, die Post vor das Haus zu werfen, er sei River-Fan. Als schließlich auf dem frischgestrichenen Haus ein derber Spruch gegen die angebliche Boca-Anhängerin Gefahr signalisierte, wurde das Haus dann doch in eine andere Farbe getaucht.
Die harmlosen Geschichten des argentinischen Fußball-Fanatismus aber werden seltener, die bitteren häufen sich: Als nach dem eingangs erwähnten 2:0-Sieg von River Plate im Boca Stadion 1994 die zwei River-Fans ermordet worden waren, stand am nächsten Tag mit blauer Farbe an eine Wand gesprüht: „Empatamos: 2:2“, wir haben ausgeglichen.

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