Literatur | Nummer 320 - Februar 2001

Aus dem Hinterstübchen des großen Julio

Cortázar improvisiert zu Pastellbildern komische Geschichten

Der eine Julio schrieb, der andere Julio malte. Die beiden Argentinier Julio Cortázar und Julio Silva lernten sich in den fünfziger Jahren in Paris kennen. Es sollte eine produktive Freundschaft werden: Verfasste Cortázar manchen Text für Ausstellungskataloge von Silva, so gestaltete dieser die Einbände für Cortázars Romane. Und sie haben zusammen Bücher gemacht – Bilder-Bücher. Eines davon, Im Silvaland, liegt jetzt als Inselbuch vor.

Valentin Schönherr

Er habe früh vom Jazz gelernt, bekannte Julio Cortázar einmal 1982, zwei Jahre vor seinem Tod, auf die Frage nach seinen schriftstellerischen Grundsätzen. „Das Improvisierte ist das, was bleibt, obwohl niemand einfach so zur Improvisation gelangt.“ Und er fügte hinzu: „Und alles liegt in diesem ‘obwohl’.“
Das Büchlein Im Silvaland enthält Improvisationen, denen fünfzehn Bilder seines Freundes Julio Silva zu Grunde liegen. Auf diesen Bildern sind allerlei merkwürdige Figuren zu sehen, Phantasiegestalten mit mal rundem, mal drei- oder viereckigem Kopf, mal mit nixenhaftem Schwanz oder schneckenhausartig eingerollten Augen; Wesen einer, wie es scheint, doch recht anderen Welt als der nüchtern-nützlichen der Erwachsenen. Sie sind in freundlichen Pastellfarben gemalt, und es macht Spaß, ihnen in ihrem genügsamen Eigenleben eine Weile zuzuschauen.
Julio Cortázar haben diese Bilder bei einem Besuch begeistert, erzählt Silva im Anhang des Buches. Er nahm ein paar davon mit in den Sommerurlaub und versah sie mit Texten – mit Improvisationen. Er gab den Figuren Namen, erzählte die eine oder andere Geschichte aus ihrem Alltag und baute daraus eine kleine Welt namens Silvaland.

Entfalten, was in einem steckt

Da gibt es den Großen Dudelsackspieler und seinen Gehilfen, den Papageien Filiberto, der den Dudelsack mit Luft versorgt. Da die Musik in Silvaland sehr einfach ist und alle zum ungezwungenen Mitmachen anregt, kann es schon mal passieren, dass einem Kind dabei spontan ein unanständiges Wort herausrutscht. Dann kann sich Filiberto nicht mehr vor Lachen halten, und dem Großen Dudelsackspieler bleibt die Luft weg. Oder es wird vom Tanzlehrer erzählt, der ein besonders schwieriges Amt innehat, da sich beim Tanzen Arme, Beine und Köpfe selbstständig machen und er dann dafür zu sorgen hat, dass am Schluss alles wieder an seinem Platz ist. Vorgestellt werden vier Narren und drei Philosophen, dazu die Familie Ontok, die nie rechtzeitig ankommt, weil ihr Wägelchen nicht
anspringt, und viele andere.
Es ist atemberaubend, was dem großen Meister alles eingefallen ist. Den überraschenden Wendungen der jeweils nur ein paar Dutzend Zeilen langen Geschichten zu folgen, regt an, sie setzen die Phantasie in Gang. Hier führt Cortázar vor, was es heißen könnte, gut zu improvisieren: Er reiht eben nicht nur beliebig Wörter, witzige oder phantastische Gedanken aneinander, sondern entfaltet – ausgehend von einem Thema, hier den Bildern – etwas, was bereits in ihm steckt. Das ist ein schöpferisches Spiel, ein lustiges, aber kein Kitsch, kein Klamauk. Die Geschichten aus Silvaland ergeben zusammengenommen eine andere Welt, eine lebendige und sehr menschliche. Zwar haben die Bewohner alle ihre kleinen Macken, aber sie mögen sich trotzdem und spielen miteinander. Ein Oben und Unten gibt es genauso wenig wie Fiesheit oder Unterdrückung, dafür jede Menge Unterhaltung, Mitgefühl und Liebe. Schließlich muss man auf dem Weg ins Silvaland eine Grenze überschreiten, „wo die Zöllner … niemals das Gepäck anschauen, nur die Augen und die Lippen“. Da kommt nicht jeder durch.

Spiel statt Klamauk

Ganz wie nebenbei ist der Text auch poetologisch interessant, denn Cortázar lässt sich ein wenig in die Karten gucken. In einem spielerisch-erläuternden Vorwort erfahren wir unter dem Titel „Wer ist wer im Silvaland“ einiges über die dortigen Geschöpfe: „Sie sind Formen, Farben und Bewegungen; zuweilen sprechen sie, aber vor allem lassen sie sich anschauen und amüsieren sich … Sie akzeptieren widerspruchslos die Namen und Handlungen, die wir für sie erfinden, aber sie leben ganz für sich ein gelbes, violettes, grünes und geheimes Leben. Und amüsieren sich.“
Der Autor schwingt sich nicht zum Alleswisser auf, sondern belässt seinen Gegenständen eine letzte Unantastbarkeit und Würde. Ihm bleibt nichts übrig, als anzuerkennen, dass er lediglich um die Dinge herum eine Welt zu erfinden vermag, dass er Deutender ist, nicht Wissender. Und wir uns also, wenn wir uns über die Welt streiten, eigentlich über ihre Interpretationen streiten. Eine Diskurstheorie in knappsten Worten, in den Anmerkungen zu einem Bilderbuch – Cortázar überrascht. Da er sich jedoch nicht auf eine Beliebigkeit nach dem Motto „Eigentlich kann man alles sagen, und jeder hat Recht“ einlässt, sondern die Auseinandersetzung um die beste Deutung mit ernstem Nachdruck führt; da er – in der eingangs erwähnten schriftstellerischen Selbstdarstellung – einen Leser fordert, der sich mit der Ungerechtigkeit, dem Irrtum, der Dummheit und der Grausamkeit auseinandersetzt, wollen wir seinen Improvisationen gern folgen.

Julio Cortázar / Julio Silva: Im Silvaland. Mit fünfzehn farbigen Bildern von Julio Silva. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2000, 55 S., 19,80 DM.

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