Aktuell | Brasilien | Film | Nummer 609 - März 2025

Aus dem Kino ins kollektive Gedächtnis

Ainda estou aqui unterstreicht die Bedeutung des Kinos als kritisches Instrument für den sozialen Wandel

Von Karina Tarasiuk

Die Mittelschichtsfamilie Paiva führt in den 1970er Jahren in Rio de Janeiro ein ruhiges Leben, obwohl sie inmitten einer zivil-militärischen Diktatur lebt – bis der Ingenieur und ehemalige Abgeordnete Rubens Paiva (Selton Mello) vom Militärregime gefangen genommen und verschwinden gelassen wird. Eunice (Fernanda Torres/Fernanda Montenegro), die an ein Leben als Hausfrau gewöhnt ist, ist gezwungen, sich allein um ihre fünf Kinder zu kümmern und um den Verbleib ihres Mannes zu kämpfen, während sie der Zensur und der Repression des Regimes ausgesetzt ist.

Ainda estou aqui (Für immer hier) basiert auf dem gleichnamigen Buch von Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn des Paares, das 2015 im Alfaguara-Verlag erschienen ist. Einfühlsam schildert er die verschiedenen, grausamen Ebenen der militärischen Gewalt, die von 1964 bis 1985 andauerte: vom Polizeieinsatz, den die älteste Tochter Vera (Valentina Herszage) mit ihren Freundinnen erlebt, über die Zeit von Eunice und der zweiten Tochter Eliana (Luiza Kosovski) im Folterzentrum DOI-CODI bis hin zu Rubens’ Verschwinden. Seine Sterbeurkunde wurde ihrer Familie erst 1996 ausgehändigt, noch ohne Angabe der Todesursache. Nach der Veröffentlichung des Films in Brasilien wurde die Bescheinigung um die Todesursache „unnatürlich; gewaltsam; durch den brasilianischen Staat verursacht“ ergänzt; ein Beschluss des Nationalen Justizrats, der den brasilianischen Staat verpflichtete, die Aufzeichnungen über die Toten und Verschwundenen während der Diktatur anzuerkennen und zu berichtigen.  Viele der bis dahin von der Diktatur verschwiegenen Informationen konnten erst 2012 von der Nationalen Wahrheitskommission (CNV) untersucht werden. Diese wurde von der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzt, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die zwischen dem 18. September 1946 und dem 5. Oktober 1988 stattgefunden haben. Die CNV legte Dokumente und Zeugenaussagen vor, die den Eintritt von Rubens Paiva in das DOI-CODI am 20. Januar 1971 belegen und beweisen, dass der Politiker gefoltert wurde und aufgrund der Schwere seiner Verletzungen starb. Der Reggisseur und Produzent des Films Walter Salles ist bekannt für Central do Brasil (Central Station, 1998), der zwei Oscar-Nominierungen für den besten fremdsprachigen Film und die beste Schauspielerin, Fernanda Montenegro, erhielt. Sein neuer Film Für immer hier versetzt die Zuschauerinnen gekonnt in die räumliche und zeitliche Umgebung der Diktaturzeit in Brasilien. Von den Kostümen und dem Soundtrack bis hin zu den 1970er-Jahre-Autos, die während der Dreharbeiten von Sammlerinnen gemietet wurden, lädt der Film dazu ein, bei der Fa­mi­­lie zu sein und sie hautnah zu begleiten. Man spürt die anfängliche Leichtigkeit einer glücklichen Familie, aber auch den Abscheu vor der physischen und symbolischen Gewalt der Militärdiktatur. Und am Ende bleibt das Gefühl der Hoffnung und des Handlungsdrangs, dass „man einen Weg finden muss, mein Freund“ (É preciso dar um jeito, meu amigo, Erasmo Carlos), wie es im markantesten Lied des Soundtracks heißt. Der Film versteht es auch, die familiären Beziehungen zwischen den Figuren mit Tiefe zu entwickeln – von Eunices Komplizenschaft mit ihren beiden ältesten Töchtern bis zu ihrem Versuch, ihren Schmerz vor ihren beiden jüngeren Töchtern und ihrem jüngsten Sohn zu verbergen. Auf subtile, aber kritische Weise wird auch die Figur der Hausangestellten dargestellt, die als Quasi-Familienmitglied gesehen wird, aber in Krisenzeiten dennoch leicht entbehrlich scheint. Ein weiteres Detail ist der Kontrast zwischen Licht und Schatten, Lärm und Stille, offenem und geschlossenem Raum, als Symbol für den vorherrschenden Frieden im Gegensatz zur Spannung des militärischen Terrors. Während die glücklichen Momente in hellen, offenen Räumen, am Strand oder an Orten mit Musik und Konversation, auf Partys unter Freundinnen, stattfinden, werden Spannung und Angst durch die dunkle, geschlossene Umgebung des DOI-CODI sowie durch die Großaufnahme symbolisiert, die sich auf Eunice Paivas statisches, nachdenkliches und stilles Gesicht konzentriert.

Ein großer Teil der Kraft von Ainda estou aqui ist der Hauptdarstellerin Fernanda Torres in der Rolle der Eunice Paiva zu verdanken. Der Film zeigt Eunices Entwicklung angesichts des Verlusts ihres Mannes und ihr Bedürfnis, stark und widerstandsfähig zu werden ausgezeichnet. Zwei Jahre nach dem Verlust beschließt Eunice, Jura zu studieren, und wird Anwältin, die sich auf die Rechte der Indigenen Völker spezialisiert. Obwohl Torres´ Filmkarriere im Bereich Komödie liegt, wusste sie, wie man die Rolle im Drama einfühlsam spielt. Am beeindruckendsten ist ihre Fähigkeit, eine Mutter und Ehefrau zu verkörpern, die ihre Gefühle, ihre Angst und ihren Hass unterdrücken muss. In der Verdrängung des Schmerzes im Kontext staatlicher Unterdrückung hat die Schauspielerin einmal mehr ihre Exzellenz bewiesen.

Fernanda Torres’ Leistung wurde mit einem Golden Globe Award in der Kategorie „Beste Drama-Darstellerin“ ausgezeichnet. Der Film konkurrierte auch um den Preis in der Kategorie „Bester nicht-englischsprachiger Film“ und war bei vielen weiteren internationalen Filmfestspielen erfolgreich mit Auszeichnungen. Mit fünf Millionen Zuschauer*innen hat er an den Kinokassen über 22 Millionen US-Dollar eingespielt.

Vom apolitischen Mittelschichtsleben zum Kampf gegen das Regime Fernanda Torres spielt einfühlsam (Foto: © Alile Onawale / Video Films / DCM)

Ainda estou aqui ging bei der Oscar-Verleihung in drei Kategorien ins Rennen: Bester internationaler Film, Beste Schauspielerin mit Fernanda Torres und Bester Film – es ist das erste Mal, dass ein brasilianischer Film in der Hauptkategorie antrat. Der Film gewann den Preis in der Kategorie Bester internationaler Film. Da die Preisverleihung mitten im Karneval stattfindet, ist der Jubel der brasilianischen Bevölkerung garantiert.

Die Sichtbarkeit von Für immer hier und die internationale Anerkennung von Fernanda Torres haben ein Phänomen des kollektiven Selbst­bewusstseins bei der brasilianischen Bevölkerung ausgelöst. Eine Botschaft, dass das nationale Kino kritisch, schön und gut produziert ist und von anderen Kulturen gesehen werden muss. Darüber hinaus vermittelte diese Sichtbarkeit die Botschaft, dass das nationale Kino für das Volk gemacht wird. Fernanda Torres und Selton Mello verstanden es sehr gut, über die sozialen Medien zu kommunizieren und den Menschen den Film näherzubringen – vielleicht einer der Gründe für seinen Erfolg.

Die Anerkennung eines Films, der eine so tiefe Wunde der brasilianischen Geschichte – die zivil-militärische Diktatur – berührt, zeigt zudem die Bedeutung der Kunst als Mittel zur Wiederherstellung der Erinnerung und zur Beeinflussung des kritischen Denkens und der politischen Anklage.

In einer Zeit des Aufschwungs der extremen Rechten und der Putschbewegungen, die eine Rückkehr zur Militärdiktatur fordern, sind Filme wie dieser unerlässlich, um die Geschichte fassbar zu machen und die Vergangenheit zu beleuchten, damit sie sich nicht wiederholt. Ainda estou aqui ist ein Beispiel dafür, wie die soziale Rolle der kritischen Kunst gestärkt werden kann und Kino zeigen kann, dass all die von der Diktatur Getöteten und Verschwundenen in Erinnerung bleiben und für immer hier sind.

Ainda estou aqui // Brasilien 2024 // 135 Minuten // Regie: Walter Salles // In Deutschland ab dem 13. März 2025 im Kino


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