Guatemala | Nummer 399/400 - Sept./Okt. 2007

Aus Nothilfe wird Selbstorganisation

Eine von Not geplagte Gemeinschaft kämpft gegen natürliche und menschliche Widerstände

Während in Guatemala der Präsidentschaftswahlkampf ausgetragen wird, stellt sich für viele indigene Gemeinden weniger die Frage nach dem geeigneten Kandidaten als vielmehr die Frage, wofür ihre Regierung eigentlich gut ist. War der Staat doch nicht einmal in der Lage, in einer Notsituation nach dem tropischen Wirbelsturm Stan die betroffenen Gemeinden zu unterstützen. Daraus ergab sich für viele Menschen die Notwendigkeit und Chance der Selbstorganisation.

Antoine Vergne, Chi-Huy Tran, Marius Haberland

Das Dorf-Projekt Chukmuk in einer Gemeinde am Atitlán-See verkörpert das Ideal einer starken Basisorganisation, die ohne große Geldgeber auskommt und selbst Akteur und Motor der eigenen Entwicklung ist. Hier soll ein Dorf nach den Vorstellungen der indigenen BewohnerInnen entstehen. Gegründet wurde es aus Nothilfe-Maßnahmen nach der Wirbelsturm-Katastrophe Stan 2005, die große Teile der Gemeinde unter einem Erdrutsch begraben hatte. Die Betroffenen sind selbst an die Regierung herangetreten und haben mit ihr einen „Sozialpakt“ ausgehandelt. Heute treten sie selbstbewusst in Verhandlungen mit der UN-Entwicklungsorganisation UNDP und haben ein Hilfsangebot ausgeschlagen, das nicht ihren Bedürfnissen entsprach. Die internationale Organisation wollte standardisierte Häuser finanzieren, die für die großen Familien viel zu klein waren. Nun hat man sich mit der UNDP geeinigt: Diese kauft die Grundstücke und die spanische Autonome Gemeinde von Andalusien wird die angemessenen Häuser finanzieren.
„Nach 500 Jahren wacht Lateinamerika auf“, sagt uns Francisco, Direktor des indigenen Vereins für Gemeindeentwicklung des Kantons Panabaj (ADECCAP), der nach der Zerstörung des Ortes Panabaj von den BewohnerInnen gegründet wurde. Seiner Meinung nach „wollen die Indígenas nicht mehr nur ein Schaufenster für den Tourismus sein, sondern ein echter Teil Guatemalas“. Aus der Nothilfe ist eine politisch-kulturelle Organisation entstanden.
Franciscos Kollege Diego erinnert sich noch gut an die Nacht vor zwei Jahren: In den frühen Morgenstunden des 4. Oktober wurde er von seinem Sekretär hektisch aus dem Bett geklingelt. Es war fünf Uhr morgens in Santiago Atitlán. Zu seinem Arbeitsplatz, im Vorort Panabaj sei er nicht durchgekommen: „überall war Wasser und Schlamm, viele Menschen haben geschrien“. Als sie im gemeinsamen Büro ankommen, ist dieses bereits zerstört. Überall laufen Menschen durcheinander, die sich aus einem riesigen Meer von Schlamm zu befreien versuchen und sich im einzigen noch verbliebenen Gebäude, der Polizeiwache, in Sicherheit bringen. Nicht einmal acht Minuten hatten die verbliebenen Menschen Zeit um zu flüchten, bevor erneut an den Hängen eines der Vulkane ein Grummeln ertönte. Diego musste mit ansehen, wie drei Kinder, die gerade noch einige wenige Meter entfernt von ihm versuchten, sich aus dem Schlamm zu befreien, von der zweiten Lawine begraben wurden. „Das sind Bilder, die man nie wieder vergisst“, berichtet Diego bewegt, während er uns die Fotos zeigt. Fünf Tage später wurden die etwa 300 Opfer des Lawinenunglücks in Holzsärgen beigesetzt. Mehrere Hundert Menschen aus dem Ort werden nach wie vor vermisst. Da sie unter den meterhohen Schlammmassen vermutet werden, wurde der gesamte Ortsteil zum Friedhof erklärt. Für Ausgrabungen der Toten fehlen bis heute die finanziellen Ressourcen. In ganz Guatemala sind über 2.000 Menschen durch den Hurrikan Stan ums Leben gekommen, die meisten in Panabaj.
Zwei Jahre später müssen zigtausend Menschen, die ihre Häuser und Lebensgrundlage verloren haben, immer noch in Notunterkünften ausharren. Versprochene Hilfszusagen der Regierung wurden nicht eingehalten, internationale Gelder verschwanden im Bürokratiedschungel und hektisch errichtete Vorzeigeprojekte verfehlten die Bedürfnisse der EmpfängerInnen. Der traurige Alltag politischer Wirkungslosigkeit.
In Steinwurfnähe der kargen und dicht besiedelten Wellblechsiedlung, die nach der Katastrophennacht als Notunterkunft für über 300 Familien errichtet wurde, ragen unvollendete Häusergerippe empor. Hektisch Anfang 2006 errichtet, konnten die Steinhäuser nicht fertig gestellt werden, da ein Gutachten – erst nach Baubeginn – feststellte, dass die zukünftigen Unterkünfte weiterhin auf erdrutsch-gefährdetem Gebiet stehen würden. Ein Affront gegenüber all den Menschen, die seit knapp zwei Jahren auf die Hilfe der Regierung hofften.
Dass Unterstützung bei den Betroffenen nicht ankommt, ist noch immer die harte Realität in Guatemala. Daran wird sich nach den Wahlen am 9. September nicht viel ändern. Denn der Staat hat in den Augen der Menschen, insbesondere der Indígenas, versagt und konnte ihnen in Zeiten der Not nicht die notwendige Unterstützung gewähren. Die grassierende Korruption staatlicher Behörden, eine desolate Sicherheitssituation sowie der virulente Rassismus gegenüber den Indígenas sind in Guatemala weit verbreitete gesellschaftliche Probleme. Hinzu kommt, dass zehn Jahre nach dem Friedensschluss die wichtige Ressource Land weiterhin in den Händen weniger liegt.
„Die zunehmende Verarmung und der Landmangel trieb die Leute in ein Gebiet, das für eine Besiedlung viel zu gefährlich war“, erklärt uns Francisco von der ADECCAP. So eine Katastrophe lässt sich zukünftig nur verhindern, wenn sich die soziale Situation der indigenen Bevölkerung verbessert. Der 5. Oktober 2005 „hat den Staub, der auf unserer Lebensrealität lag, aufgewirbelt. Wir wollen jetzt die Tortilla umdrehen“, was soviel bedeutet wie sich selbst zu organisieren, um eine „umfassende Entwicklung“ zu erreichen. Dies heißt für die Leute zu allererst, sich gegen die Naturgewalten zu schützen, die ihnen so viel Leid gebracht haben. Eine umfassende Entwicklung ihrer Gemeinde bedeutet aber gleichfalls, ihre Weltanschauung und ihre Überzeugungen, die unterschiedlich zu den europäischen sind, verwirklichen und leben zu können. Letztlich – und das klingt sehr modern für die abgeschiedene Gemeinschaft am Rande des Atitlán-Sees – soll auch dafür gesorgt werden, dass die Gleichheit zwischen Frauen und Männern hergestellt wird. Die konkrete Umsetzung dieses Konzepts verwirklicht sich in dem neuen Dorf Chukmuk, welches von und für die Panabaj-Gemeinschaft gebaut wird.
Neben ADECCAP und dem Projekt Chukmuk sind noch zahlreiche andere Organisationen in der Region entstanden. Die Situation der nahe liegenden Kooperative der webenden Frauen von Panabaj ist in mancherlei Hinsicht vergleichbar. Die Gruppe hat sich ebenfalls nach Stan zusammengefunden, um einen Ausweg aus der unverschuldeten Not zu finden. Die meisten Frauen haben nicht nur Verwandte verloren, sondern auch ihre Lebensgrundlage – ihre Häuser, Webstühle und -materialen. Die Arbeit konnten sie erst dank der Hilfe eines nordamerikanischen Stifters wieder aufnehmen, erzählt uns Josefa, die Präsidentin der Kooperative. Nun haben sie ein Haus, in das zehn Webstühle passen. Trotz aller Schwierigkeiten haben sich die Frauen für ein Modell des fairen Handels entschieden. Die Frauen wollen ihre Produkte nicht mehr billig an ZwischenhändlerInnen verkaufen, die auf der anderen Seite des Sees diese teuer an TouristInnen verkaufen. „Wir wollen unseren eigenen Markt finden“, sagt Josefa. Diese Aufgabe ist allerdings unheimlich schwer, da die Konkurrenz des „nicht fairen Handels“ sehr groß ist. Dennoch, die Frauen führen ihre kleine Kooperative selbstständig und mit viel Freude. Sie wollen mit ihrem Modell des fairen Handels ihre Situation vor Ort verbessern – ein Ziel, dem sich auch eine Kaffeekooperative verschrieben hat.
Unter dem Motto „Fair wiegen und fair bezahlen“ versucht der Maya-Verein Neuer ganzheitlich orientierter Pflanzer (AMNSI) in Tzantiaj seit einigen Jahren, etwas gegen die kommerziellen KaffeeeinkäuferInnen zu tun. Die nach dem Ende des Bürgerkrieges gegründete Kaffeekooperative hat ihre Arbeit im Jahr 2001 aufgenommen. Sie wurde finanziell durch die Europäische Union im Rahmen des Programms zur Reintegration der GuerillakämpferInnen unterstützt. Die ersten Jahre verliefen trotz Schwierigkeiten positiv. Die Kooperative hat ihre ersten Kredite zurückzahlen können, ein Grundstück gekauft und eine Anlage gebaut, um dort den rohen Kaffee zu grünem Kaffee (pergamino) zu verarbeiten. Damit hat sie auch ihre Arbeit als Einkaufskooperative aufgenommen. Die AMNSI bietet gleichbleibend fünf Quetzales mehr pro Quintal (ca. 50 Kilo) an, im Gegensatz zu den ZwischenhändlerInnen, die am Straßenrand den Kaffee zu Niedrigstpreisen für GroßhändlerInnen aufkaufen. 2004 konnte der Preis des Quintals in Tzantiaj um mehr als das Doppelte angehoben werden. Aber, wie der Vorsitzende Juan uns sagt, es gibt „zwei Perioden in der Geschichte der Kooperative: vor Stan und nach Stan“. Der Erdrutsch machte die Anlage der Kooperative unbrauchbar. Seit zwei Jahren steht diese nun still. Die Schulden wachsen und die Kooperative, der inzwischen 70 Familien angehören, produziert kaum noch. Keine Bank will ihnen neue Kredite gewähren. Aber Geld brauchen sie dringend, um neue Samen und Pflanzen kaufen zu können.
Stan ist für die Kooperative AMNSI und ihre Mitglieder kein Anlass für einen neuen Anfang gewesen, sondern ein weiteres Hindernis auf dem schweren Weg, in einer notgeplagten Gesellschaft die eigene Entwicklung zu bestimmen. Wohlwissend, dass von Regierungsseite keine Hilfe zu erwarten ist, bleibt als einzig möglicher Weg die Selbstorganisation. Aus der Nothilfe für die Nachbarn (ADECCAP) und dem Zusammenschluss zum Zwecke des Verkaufes der eigenen Produkte (Frauenkollektiv) entstanden Organisationen mit politischem und sozialem Bewusstsein. Diese sind sich sehr wohl über die Umstände bewusst, die zu ihrer Situation führten. Nun experimentieren sie mit Möglichkeiten, sich daraus zu befreien, immer mit dem Risiko, von einer der vielen Gewalten – sei sie natürlichen oder menschlichen Ursprungs – zurückgeworfen zu werden.

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