“Ausharren oder Flüchten”
Deutsch-jüdisches Exil in Chile
Das Exil in Chile umfaßte rund 13.000 “deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes, und 300 politische EmigrantInnen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdinnen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutschland weiterleben zu können. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu bleiben. Danach stiegen die Flüchtlingszahlen, auch in die lateinamerikanischen Länder, deutlich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, Anwalts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswanderung oder Emigration gefallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu verlassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu betrachten. Bis 1938 verstärkte die außen- und wirtschaftspolitische Interessenpolitik des NS-Regimes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevölkerung, daß sich das Regime auf eine rechtliche Ausgrenzung beschränken würde. Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und Isolation schien das ökonomische Existenzminimum gewährleistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation beschränken würde. Zwischen der Alternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die europäischen Exilländer und die USA, während die ältere Generation in südamerikanische Länder emigrierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Altersaufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbildlich in seiner Haltung gegenüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Einwanderungsparadies Chile”. Im lateinamerikanischen Vergleich nahm die Andenrepublik proportional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwischen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konservativen Regierung des Präsidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung gekennzeichnet. Diese Politik wurde als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise bezeichnet und mit dem Schutz des heimischen Arbeitsmarktes begründet. Restriktionen wie die Quotierung der jüdischen Immigration und die berufliche Beschränkung auf Landwirte wiesen jedoch rassistische Tendenzen auf; bereits 1933 war eine Einwanderungsbeschränkung der “semitischen Rasse” beabsichtigt. 1937 wurde die Gesetzgebung neuerlich verschärft. Nur noch Verwandte ersten Grades bereits in Chile lebender AusländerInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) während der Volksfrontregierung unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda charakterisierte demgegenüber eine großzügige, liberale Handhabung der Asylgesetzgebung, die sich neben Chile auch in anderen lateinamerikanischen Ländern insbesondere von der Einwanderungspraxis der USA unterschied.
Die politische Instrumentalisierung der jüdischen Immigration durch das seit 1938 verstärkt auftretende “Movimiento Nacionalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Führer” Jorge González von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außenministers der Volksfrontregierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf dieser sogenannten “Immigrationsaffäre” zeigte die Gefahren einer Politisierung der Asylgesetzgebung. Antisemitische Vorurteile lebten auf, die vom MNS und einigen konservativen Senatoren in den Parlamentsdebatten diskussionsfähig gemacht wurden und in der Presse weite Verbreitung fanden. Der Rechtfertigungszwang, den das MNS der Volksfrontregierung aufzwang, ging mit nationalistischen Argumenten (“Chile den Chilenen”) einher und mündete in der Wahnidee einer “jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung”.
Jorge González von Marées erhob eine Verfassungsklage gegen den Außenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdische Visa” angenommen habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Untersuchungskommission reihten weder der Abgeordnetenkammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chilenischen Führers” zuzustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine antisemitische Stimmung in der Bevölkerung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Außenminister offenbarte der (im übrigen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen Nationalsozialisten mit den Stimmen des MNS) Volksfrontregierung, daß sich die gesetzlichen Einwanderungsbeschränkungen – zum Glück der Verfolgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Aufwand kontrollierbar waren. Zugleich aber demonstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asylgesetzgebung, die ihre Ausführung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Einzelpersonen anheimstellte. Sie erlaubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenministerium bereits erteilte Visa zu blockieren. Durch ein entsprechendes “Informationsschreiben” über die Person des Antragstellers oder der Antragsstellerin wurde der bürokratische Apparat erneut in Gang gesetzt, während den Verfolgten bereits die Deportation in ein Konzentrationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emigrationshindernis”, da sie dem nationalsozialistischen Regime durchaus positiv gegenüberstanden.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampagne” zwang die Volksfrontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Gesetzgebung nicht willkürlich auslegbar war: Mitte 1940 verhängte sie einen Einwanderungsstopp. Die humanitär begründete Asylpraxis der Volksfrontregierung fiel damit politischer Interessenspolitik und einer lückenhaften Asylgesetzgebung zum Opfer, deren unkontrollierbare Verfahrensregelung auf der anderen Seite vielen Flüchtlingen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn einer flexibleren, internationalen politischen Antwort bedurft. Zumindest für einen kurzen Zeitraum ist die chilenische Volksfrontregierung diese Antwort nach der Flüchtlings-Konferenz von Evian im Sommer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Aufnahmeland Chile, obschon die EmigrantInnen zu jenen “unbeliebten” verarmten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Insofern kann der Integrationsprozeß in Chile im lateinamerikanischen Vergleich nicht als typisch bezeichnet werden. So bot die Metropole Santiago den Flüchtlingen leichtere Integrationschancen als der Urwald Boliviens oder die Hauptstadt La Paz, die viele verließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwandern. Im Gegensatz zu antisemitischen Anfeindungen in Bolivien erfuhren die Chile-EmigrantInnen auch eine freundlichere Aufnahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pensionssuche. Falls keine Verwandten oder Bekannten in Santiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHICEM, eine jüdische Hilfsorganisation, häufig eine Adresse. Auf denjenigen, so der Wiener Emigrant Walter Klein in seiner Autobiographie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, irgendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Hausdiener, als Landarbeiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsicherung früher eingetroffener Flüchtlinge beitrugen, wurden Mittagstische angeboten, so daß man teures Essen im Restaurant vermeiden konnte und dennoch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freunden über Möglichkeiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszutauschen. Die Pensionszimmer waren klein, manchmal ohne Fenster und mit billigen Möbeln ausgestattet. Aber sie hatten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verständigen. Allemal ein Umschlagsplatz der Informationen, entwickelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILEHICEM zur Nachrichtenbörse der deutschen Emigration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und möblierten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Aufstieg. Man wohnte zur Untermiete oder teilte sich mit anderen eine Wohnung, bis man schießlich eine eigene mieten konnte oder sich in einem besseren Stadtteil Santiagos ein Wohnhaus kaufte. Die ersten Monate bestanden aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mitgenommen hatte: Kopfkissen, Federbetten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche bastelten aus ihren Schiffskisten das erste Bett, den ersten Kleiderschrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeitsplatz diente. Im “chilenischen Erfogsfall” ging der Integrationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Arbeitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Absicherung und mündete schließlich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesellschaftlichen Status vor der Flucht entsprach. Die ImmigrantInnen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingungen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nieder, und vielen bot die herstellende und verarbeitende Textilindustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekannter Industrie- und Gewerbezweig reproduzierte.
Die Bilanz der ökonomischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbildung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Pharmazeuten standen der Existenzgründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeiteten Rechstsanwälte als Lageristen, Büroangestellte, Verkäufer von Erfrischungen und Schreibwaren. Ärzte wurden Sanitäter, Krankenpfleger, Masseure, Begleiter von Fußballgruppen. Architekten wurden technische Zeichner und Innendekorateure; Apotheker arbeiteten in Drogerien und Laboratorien als gewöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Absinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichungen über die Phase der Existenzgründung im Exil findet sich der Hinweis, daß Frauen die Hauptstützen in finanzieller und emotionaler Hinsicht waren. Psychologisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürzerer Zeit mit der Lebensumstellung zurecht. Frauen übernahmen neben Haushalt und Kindern die Verantwortung für den finanziellen Unterhalt: sie wurden Sekretärinnen, Gouvernanten, Lehrerinnen, eröffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererinnen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Antisemitismus gegründet, das die Bekämpfung solcher Tendenzen im Aufnahmeland Chile und Aufklärungsarbeit über die nationalsozialistische Rassenpolitik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegliche politische Parteilichkeit auf nationaler und internationaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdischen Abwehrkampfes der Aufklärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zurückhaltend. Die ImmigrantInnen wurden dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu unterhalten, bzw. in größeren Gruppen in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Organisationen zu unterstützen. Eine davon organisierte Handel und Industrie jüdischer Herkunft, um strategisch jene Marktbereiche auszuschalten, die ansonsten von Nazis genutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkulturation, deren Probleme auch als generationsspezifisch zu charakterisieren sind, muß die “Rückwärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht bedingte soziale Deklassierung auf und ließ nicht immer den Wiedereinstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil endete keineswegs mit dem Abschluß eines Arbeitsvertrages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinunternehmens in Chile. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Immigranten zu werden.”
Da die Europäer in den Ländern Lateinamerikas den Ruf höherer Bildung genossen, kam die Bevölkerung den ImmigrantInnen zwar mit Respekt entgegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzierung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Arbeitsamkeit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten ausländischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtierende US-amerikanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, repräsentierten die deutsch-jüdischen EmigrantInnen die von Chilenen als “typisch deutsch” bezeichneten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Abgrenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwarben, drückten die ImmigrantInnen zumindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kollektiv ausgebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wiedergutmachung zu bezeichnende Wiedereinbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit verbundenen , häufig entwürdigenden und quälenden Verfahren aussetzen, das sich über Jahre hinziehen konnte. Die Chile-EmigrantInnen griffen die Frage der Staatsbürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- vielleicht, weil man erfahren hatte, wie wenig die Staatsbürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Verfolgten und ihre Kinder die chilenische Staatsbürgerschaft offenbar weder sehr früh noch in überwiegender Mehrheit. Gründe hierfür sind nur mutzumaßen. Sie können wie in Argentinien auf die unsicheren politischen Verhältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in Lateinamerika zur Wiederannahme der deutschen Staatsbürgerschaft veranlaßten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles, die eine weitaus stärkere Fluchtbewegung der deutschsprachigen Emigration auslöste, als der Putsch der Militärs unter General Augusto Pinochet 1973, zu einem Anstieg der Wiedereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische EmigrantInnen verließen 1970 in kürzester Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen EmigrantInnen war und ist es bewußt, daß sie trotz jahrelanger Ansässigkeit im Land “zu ihren einheimischen Nachbarn noch immer nicht den richtigen Kontakt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen EmigrantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Gottesdiensten, Veranstaltungen etc. teilzuhaben. Die Gemeinde übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teilnahme beziehungsweise Mitgliedschaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hinwendung zum religiösen Leben, in jedem Fall aber zu einem bewußten Judentum und dessen nationaler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte paradoxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vorwiegend als Abgrenzung von der Kultur des Aufnahmelandes, welche einzelnen häufig fremd geblieben ist, oder als “Kolonistenmentalität” bewertet werden. Die EmigrantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturleben”, von dem sie sich nicht trennen wollten, und überbrückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen ImmigrantInnen der ersten beiden Generationen bildete sich vielfach eine “dreigeteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Judentum, fühlte sich der deutschen Kultur verbunden und betrachtete das Aufnahmeland weit über das Gefühl der Dankbarkeit hinaus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat diese Identität, wenngleich sie nach Auschwitz durchaus einer erneuten Selbstversicherung bedurfte, keinem Assimilationsdruck ausgesetzt. Weitaus die Mehrheit der deutsch-jüdischen EmigrantInnen ist in Chile geblieben, eine Rückkehr nach Deutschland stand nicht zur Diskussion.
Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Kolonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)