Mexiko | Nummer 443 - Mai 2011

„Authentische unerschrockene Gefahrsuchende“

Im mexikanischen Juchitán sind „Muxes“ als drittes Geschlecht anerkannt

Mitten in Mexiko gibt es eine Stadt, die neben Mann und Frau ein drittes Geschlecht kennt. In Juchitán leben die Muxes ihre kulturelle und sexuelle Eigenheit jenseits geschlechtlicher Stereotype und pendeln damit zwischen breiter Akzeptanz und vereinzelter Ablehnung, rauschenden Festen und einem Leben im Elternhaus.

Barbara Bachmann

Die Stadt des Heiligen Vicente Ferrer hat viele Namen. Offiziell wird sie Juchitán de Zaragoza genannt. „Ort der Blumen“, Ixtaxochitlán, bedeutet Juchitán auf Zapotekisch, der in Teilen des mexikanischen Bundesstaats Oaxaca gesprochenen indigenen Sprache. Muxetlán nennen Juchitán die etwas anderen Töchter und Söhne der Stadt. Von ihnen gibt es eine ganze Menge – manche behaupten gar, sie machten mehr als die Hälfte der rund 70.000 Stadtbewohner_innen aus. „In Juchitán wird man an jeder Ecke eine_n Muxe finden“, ist sich Kike sicher. An den Wänden seines Appartements, das Kike oder Kika, wie er von seinen Muxefreunden genannt wird, gleichzeitig als Friseursalon nutzt, hängen Bilder seiner beiden Idole: Gemälde des Heiligen Sebastian, „Schutzpatron der Homosexuellen“, und der bisexuellen Malerin Frida Kahlo. Mit beiden könne er sich identifizieren, sagt er. Beide trage er an seiner Brust. Kike ist 44 Jahre alt und Muxe. Seine kleine Schwester ist Marimacha. Körperlich als Mann und Frau geboren, entspricht keine_r von beiden den traditionellen Geschlechterrollen. In Juchitán müssen sie das auch nicht. Muxes und Marimachas, außerhalb der oaxacanischen Re-gion des Isthmus homosexuell definierte Rollen, sind weder weiblich noch männlich und doch ein wenig von beidem. Als drittes Geschlecht bieten sie eine Alternative zu den Stereotypen Mann und Frau. Was sich hinter den Begriffen verbirgt, ist ein ganz eigener Umgang mit Andersartigkeit, ein anderes Konzept von Sexualität und Identität als es in patriarchalen Gesellschaften existiert.
Bei den Zapotek_innen in der Region des Isthmus, deren Kultur des ökonomischen und emotionalen Miteinanders den Alltag prägt, sind Muxes seit jeher bekannt. Der Legende nach kamen Frauen, Männer und Muxes auf die Erde, um diese gemeinsam zu bewohnen. Gerade die männliche Homosexualität galt bei verschiedenen indigenen Völkern Zentralamerikas als nichts Außergewöhnliches. Die spanischen Eroberer bestraften sie jedoch als Sünde und versuchten sie zu marginalisieren. In Juchitán hat die Akzeptanz und mit ihr das dritte Geschlecht überlebt. „Muxe“ kommt aus dem Zapotekischen und bedeutet soviel wie „sich weiblich verhaltender Mann“. Eine_n Muxe mit dem Bild eines „weiblichen“ Mannes und eine_n Marimacha mit einer „männlichen“ Frau gleichzusetzen, greift aber zu kurz. Muxe ist ein sehr weiter Begriff und äußerst komplex. Es scheint so, als gäbe es so viele verschiedene Arten von Muxes, wie Muxes selbst.
Eine von ihnen ist Felina. Schon als Kind habe sie gemerkt, dass sie anders war als andere Jungs und lieber mit ihnen flirtete als mit ihnen zu spielen. Die Stylistin bezeichnet sich selbst als körperlichen Mann mit weiblichem Geist. Trotzdem ist sie weder Mann noch Frau, sondern Muxe. Als solche genießt sie einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Muxes sind in Juchitán in das alltägliche Leben integriert, besetzen wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft, engagieren sich im Kampf gegen HIV, AIDS und Brustkrebs. „Muxes sind sehr arbeitsam. Sie sind fortschrittlich, weil sie beide Rollen beherrschen. Die männliche und die weibliche“, sagt Alejandro Molina über seine Nachbar_innen, die für ihn zum Stadtbild Juchitáns dazugehören. Der ehemalige Gymnasiallehrer, selbst aus einer traditionellen Familie stammend, hat auch an seiner Schule viele Muxes unterrichtet – und beobachtet, wie sie bereits als Kinder und Jugendliche ihre Andersheit entdecken.
Unter den Muxes Juchitáns hat Felina es zur Mode gemacht, traditionelle Frauenkleidung des Isthmus anzuziehen. Für das perfekte Make-up kann sie Stunden vor dem Spiegel verbringen. Durch eine Geschlechtsanpassung körperlich zur Frau zu werden, kommt für sie aber nicht in Frage. „Dann wäre ich nur eine Frau unter vielen, so bin ich etwas Besonderes“, ist sie überzeugt. Wie Felina geht es den meisten Muxes. Fälschlicherweise werden Muxes oft mit Transvestiten gleichgesetzt. Dabei ziehen sich manche von ihnen nur an speziellen Tagen Frauenkleidung an, während andere gar keine Lust dazu verspüren oder nur zu Hause und für sich allein in Kleider oder Röcke schlüpfen. Früher zogen sich Muxes statt Kleidern bunte, mit Blumen bestickte Hemden an. Óscar, einer der Vertreter_innen der älteren Generation von Juchitáns Muxes, macht das heute noch so. Abgesehen von „weiblichen“ Verhaltensmustern bricht er nicht mit dem „männlichen“ Erscheinungsbild. Trotzdem gilt er als Muxe. Als solcher jongliert er zwischen beiden Geschlechterrollen. Für seinen Adoptivsohn sei er „Mutter und Vater“ zugleich, eine_n feste_n Partner_in habe er nie gehabt. Als Mitbegründer einer Gruppe mit dem Namen „Authentische Unerschrockene Gefahrsuchende“ organisiert Óscar seit vielen Jahren die alljährliche vela, ein rauschendes, eine Woche andauerndes Fest mit Tausenden von Muxes. Mit den Transvestiten-Muxes verbinde ihn nicht viel, beteuert er. Für ihn sind sie locas, Verrückte. Gemeinsam ist ihnen allein die intensive Lust am Leben und dessen Zelebrierung.
Weil sie weder als Mann noch als Frau gelten, können Muxes und Marimachas sowohl „weibliche“ als auch „männliche“ Berufe ausüben – und sich über ihre Arbeit eine Geschlechtsidentität verschaffen. Während viele Marimachas „männlichen“ Berufen wie LKW-Fahren nachgehen, arbeiten Muxes meist in „Frauenmilieus“ als Friseur_in, Kosmetiker_in, Sticker_in oder Straßenverkäufer_in. Doch weil das Gesellschaftssystem Juchitáns keine starren Geschlechter- und Identitätsrollen kennt, gibt es auch weibliche Marimachas sowie Muxes, die bei der mexikanischen Ölgesellschaft arbeiten. Der Psychologe Édgar Rogas-Casillo weiß die Toleranz, die Muxes wie ihm in Juchitán entgegen gebracht werden, zu schätzen. So wie Édgar hat es Muxes aus dem ganzen Land nach Juchitán gezogen. Die offene Auslebung des Muxeseins wirke wie eine Erleichterung, sagt er. Gerade wird in Juchitán überlegt, in öffentlichen Einrichtungen eine dritte Toilette für Muxes einzurichten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat sich dafür ausgesprochen. Ein Gemeindegesetz soll die Regelung offiziell machen. Im restlichen Land wäre der unbefangene Umgang mit Muxes, der in Juchitán zum Alltag gehört, nicht vorstellbar. „Mexiko ist außerhalb von Juchitán und des Isthmus sehr machistisch und homophob“, weiß Kike aus eigener Erfahrung. Eine Zeit lang hat er in Mexiko-Stadt gelebt, ist dann aber wieder nach Juchitán zurückgekehrt. Weil er hier einer von vielen ist und „geschätzt, geachtet und geliebt wird“, wie er sagt. Trotzdem sei auch in Juchitán nicht alles wie im Paradies, vereinzelt gebe es auch hier Homophobie und Ablehnung. Anders als Muxes kämpfen gerade Marimachas um ihre gesellschaftliche Anerkennung. „Sie sind introvertierter und zeigen sich nicht so offen wie wir“, meint Kike. „Wir sind realistischer, wir wissen: als Muxe sind wir weder Mann noch Frau“, sagt Felina. Marimachas würden nicht offen zu ihrer Andersartigkeit stehen. „Wenn du dich nicht akzeptierst, wie sollen dich die anderen akzeptieren? Wenn du dich versteckst, wird dich auch die Gesellschaft verstecken“, erklärt sich Felina den unterschiedlichen Umgang.
Dass es gerade in Juchitán so viele Muxes gibt und die gelebte männliche Homosexualität so verbreitet ist, wird gerne dem Heiligen Vicente Ferrer, Schutzpatron der Stadt, zugeschrieben. Mit einem Sack voll Muxes auf dem Rücken sollte dieser von Nord- nach Zentralamerika wandern und in jedem Land einen von ihnen absetzen. In Juchitán aber riss der Sack auf, erzählt die Legende. Neben dem Heiligen hat wohl auch die starke Präsenz des Weiblichen in Juchitán ihren Anteil an der Akzeptanz und der Präsenz des dritten Geschlechts. In Juchitáns Haushalten geben Frauen den Ton an – alte matriarchale Strukturen haben hier bis ins Jahr 2011 überlebt. Sie verwalten das Geld, treffen alle wichtigen Entscheidungen und verdienen mehr als ihre Ehemänner. So kennt es auch Kike von zu Hause. „Frauen haben zwei oder drei Berufe, während der Mann beispielsweise als Fischer arbeitet. Ohne Zweifel sind sie die Autorität des Hauses“, weiß er. „Frauen sind wohlhabender. Und wer das Geld hat, hat auch die Macht. So funktioniert es überall auf der Welt“, erklärt sich Felina die besondere Bedeutung der Frauen. Weil Muxes häufig „weibliche“ Berufe ausüben, gehören auch sie zu den Wohlhabenderen der Gesellschaft und ernähren damit oft die gesamte Familie. „Viele Männer nutzen das aus und hängen sich an eine_n Muxe“, erzählt Óscar.
Es ist wohl dies einer der Gründe, warum Muxes sich nicht gerne auf eine_n Partner_in festlegen und lieber den Part des oder der Geliebten übernehmen. „Ein_e Muxe will nicht das ganze Leben mit einem einzigen Partner verbringen“, erklärt Felina. In Juchitán ist neben der Homosexualität auch die gelebte Bisexualität weit verbreitet. Anders als viele Muxes sind ihre Geliebten verheiratet oder in festen Bindungen. Das Verhältnis mit dem/der Muxe wird vor der Gesellschaft nicht verheimlicht und auch von der Familie akzeptiert. „Mein letzter Geliebter hat kürzlich geheiratet. Mit seiner Ehefrau bin ich befreundet“, erzählt Kike. Für Juchitáns Männer gilt: Wer nicht schon einmal mit einem/einer Muxe zusammen war, ist kein richtiger Mann. Diese Einstellung hat eine lange Vergangenheit. Noch in den 50er Jahren, als es üblich war, dass Frauen jungfräulich in die Ehe gingen, funktionierten Muxes als sexuelles Ventil für die angehenden Ehemänner. „Nach zwei Stunden Händchenhalten brachten die jungen Männer ihre Freundinnen nach Hause und vergnügten sich hinterher mit einer / einem Muxe, die an der nächsten Straßenecke auf sie wartete“, erzählt Felina mit einem Schmunzeln im Gesicht. Untereinander gehen Muxes keine sexuellen Beziehungen ein. Sie sind entweder Freunde oder Konkurrent_innen, erotisch finden sie sich nicht. „Mir gefallen nur richtige Männer“, sagt Kike.
So sehr sie ihre sexuelle Freiheit auch verteidigen, so verantwortungsbewusst sind Muxes in Familienangelegenheiten. „Sexuelle und familiäre Verbindungen trennen wir gerne“, erklärt Felina. „Wir sind diejenigen, die unsere Eltern im Alter pflegen. Wir wohnen noch zu Hause, wenn unsere Geschwister bereits Familie gegründet haben.“ Auch Felina lebt getrennt von ihrem Partner, nicht zuletzt weil sie fürchtet, dass ihre Beziehung sonst auf Dauer zu langweilig oder zu routiniert werden könnte. „Außerdem bezweifle ich, dass das Zusammenleben mit einem Mann das große Glück bedeutet“, sagt sie. Die Lebensphilosophie der Muxes lässt sich auch mit dem Katholizismus gut vereinen. „Wir sind alle gläubige Katholik_innen. Was der Papst in Rom sagt, interessiert uns aber wenig“, weiß Felina. Bei aller Präsenz und gesellschaftlichen Akzeptanz ist aber auch in Juchitán ein Zusammenleben von Muxes und „Männern“ nicht gerne gesehen. Die Legalisierng der Homoehe würde daran nicht viel ändern, glauben viele Muxes. Im Gegensatz zu Mexiko-Stadt ist diese in Oaxaca – so wie in den meisten Bundesstaaten – noch verboten.
Dass Juchitán nicht zuletzt wegen ihnen eine besondere Stadt ist und sich mit dem Muxesein auch Geld verdienen lässt, haben in den letzten Jahren viele von ihnen erkannt. „La mística“, eine Marktverkäuferin am Zocalo von Juchitán, wurde im mexikanischen CNN-Fernsehen jüngst als „teuerste Muxe Mexikos“ bekannt. Viele Muxes finden diese Entwicklung schade. Sie meinen, die Muxes sollten sich wieder auf ihren Ursprung besinnen und aus ihrer gottgegebenen Einzigartigkeit keinen Profit schlagen. Dabei ist Juchitán nicht der einzige Ort, an dem es gelebte Alternativen zu den allseits anerkannten Geschlechterrollen gibt: die Xanith in der Wüste Omans, die Hijras in Indien oder die Mahu in Hawaii sind weder Mann noch Frau und gelten ebenfalls als drittes Geschlecht. Auch Felina glaubt nicht, dass es in Juchitán mehr Muxes gibt als anderswo: „Hier sind wir nur sichtbarer.“ Bei ihren Reisen durch Europa hat sie viele Muxes auf den Straßen gesehen. Aus 100 Metern Entfernung erkenne sie eine_n Muxe, „selbst wenn er/sie es zu verstecken versucht.“ Auch in zwei- und dreijährigen Kindern will sie bereits Muxes wahrnehmen können. Der Sack Vicente Ferrers, sagt sie, sei noch lange nicht ausgeleert. Vielmehr scheine er von einer unerschöpflichen Quelle zu zehren.


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