Deutschland | Lateinamerika | Nummer 607 - Januar 2025

„Authentischer Kampf“ nur anderswo

Studentische Kritik an der akademischen Doppelmoral

Luis Cortés studierte am Lateinamerika-Institut der Freien Universität (FU) in Berlin und ist seit Oktober 2023 in der palästinasolidarischen Bewegung aktiv. In seinem Kommentar prangert er die deutsche Doppelmoral an, die tragische Folgen haben kann – beispielsweise rechtliche Auswirkungen auf migrantische Studierende, die sich politisch engagieren.

Von Luis Cortés

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Als chilenischer Student engagiere ich mich seit Oktober 2023 gegen den Völkermord Israels am palästinensischen Volk, der unter der Komplizenschaft der meisten westlichen Länder, darunter Deutschland, begangen wird. Die Universität zensiert systematisch Diskurse, die sich auf Palästina beziehen oder Israel kritisieren. Nach zwei Jahren am Lateinamerika-Institut in Berlin habe ich die Erfahrung gemacht, dass der deutsche Blick auf eine Region in den Regionalstudien mehr über Deutschland selbst aussagt als über die Region, um die es geht.

Solidarität mit Palästina birgt für Migrant*innen große Risiken. Bereits am 2. November 2023 erwähnte Vizekanzler Robert Habeck in einem Video eine große Demonstration, die an jenem Wochenende in Berlin stattfinden sollte, und wies darauf hin, dass wir als Migrant*innen die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel anerkennen sollten, die aufgrund des Holocausts bestehe, die Staatsräson. Wenn wir dies nicht täten, drohe uns der Entzug unseres Aufenthaltsrechts. Diese Worte wirkten wie eine Drohung. Ein Freund von mir wurde von seinem Anwalt davor gewarnt, zu demonstrieren. In meinem Fall hatte die Rede jedoch den gegenteiigen Effekt: Nach dem Video habe ich beschlossen, mich politisch zu engagieren – egal was passiert. Ich bin immer noch hier, aber im Zuge der Campusbesetzung wurde ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch gegen mich eingeleitet und die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung wurde bis auf Weiteres ausgesetzt.

Die hiesige akademische und politische Welt steht unserem Aktivismus offen feindselig gegenüber. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger forderte zum Beispiel im Dezember 2023, nach der Besetzung des FU-Campus, in einem Tweet über „Israelhasser“ unsere Exmatrikulation. Um das zu ermöglichen, beschloss der Berliner Senat im Frühjahr eine Reform der Hochschulordnung, die es nun ermöglicht, Student*innen für eine „Störung des Universitätsablaufs“ zu exmatrikulieren. Für jemanden mit einem Studentenvisum ist dies gleichbedeutend mit der Ausweisung aus dem Land. Als wir im Mai ein Camp in Solidarität mit Palästina an der FU errichteten, ver­suchte dasselbe Ministerium, rechtliche Schritte einzuleiten und Professor*innen, die uns unterstützten, die Fördermittel zu streichen.
Die Universitätsverwaltung kontrolliert weiterhin streng die Verwendung von Begriffen wie „Völkermord“, „Besatzung“ und „Apartheid“ und legt Veto gegen bestimmte Autor*innen ein. Nach anhaltenden Mobilisierungen organisierte die FU schließlich eine Vortragsreihe über Palästina, die jedoch als „kulturelle Reise durch die Geschichte“ betitelt wurde. Auf diese Weise trägt die deutsche Wissenschaft zum Völkermord bei: Sie entmenschlicht die Opfer und macht die Verbrechen akzeptabler.

Obwohl sich die Atmosphäre dank unseres politischen Drucks allmählich etwas verbessert, wurde für unseren letzten Vortrag ein Polizeikontrollpunkt vor dem Veranstaltungsort eingerichtet. Das Mozaik-Zentrum, das uns monatelang einen Raum für Diskussionen zur Verfügung gestellt hat, wird auf Druck der Stadtverwaltung aus seinem Gebäude vertrieben. Es ist das einzige palästinensische Kulturzentrum in Berlin. Am Lateinamerika-Institut der FU habe ich keine Deutschen getroffen, die Diktaturen unterstützen. Die Wirtschaftswissenschaftler*innen verteidigen mit Nachdruck alternative Entwicklungs- und Industrialisierungsprogramme. In der Literatur- und Geschichtswissenschaft werden Feminismus, queerer Aktivismus und aktivistische Militanz gepriesen. In der Soziologie werden soziale Bewegungen und so genannte „Subalternitäten“ gefeiert. Die großen politischen Mobilisierungen in der lateinamerikanischen Region interessieren und rufen oft aktive Solidarität hervor. Doch die Haltung gegenüber politischen Kämpfen im eigenen Land ist nicht so positiv.

Die zwei Seelen der deutschen Unis

Wie Goethes Faust, der sagt: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust / die eine will sich von der andern trennen“, haben viele gleichzeitig eine progressive und eine konservative Einstellung. Einige kuriose Fälle, die ich erlebt habe: Ein Professor nimmt die Lektüre von Edward Said (einem palästinensischen Autor, der sagt, dass es keine unpolitische Wissenschaft gibt) in seinen Lehrplan auf, während er in seiner Rolle als universitäre Autorität die politische Neutralität der Universität verteidigt. Ein Spezialist für Soziale Bewegungen (im Nahen Osten) kritisiert uns dafür, dass wir nicht „verantwortungsvoll“ demonstriert haben, weil wir unser Protestcamp nicht bei der Polizei angemeldet hatten. Ein dekoloniales akademischen Kollektiv, das sich dagegen ausspricht, den Begriff „Apartheid“ zu verwenden, um über Israel zu sprechen, erhält öffentliche Gelder. Ein anderes, das vorher als Aushängeschild der Humboldt-Universität diente, wird ausgegliedert, als es den Völkermord anprangert und entsprechende Gäste einlädt. Besonders auffällig war ein Akademiker, der ein Erinnerungsprojekt zu massiven Menschenrechtsverletzungen in Chile koordinierte, sich jedoch gegen ein Verbot universitärer Forschung für militärische Zwecke aussprach, da hier in Deutschland ja keine Menschenrechte verletzt würden.

Was ich aus diesem augenscheinlichen Widerspruch schließe, ist, dass die Empathie mit und das Interesse für das Glück und Unglück Lateinamerikas – die große Toleranz für die Fehler des Subkontinents und die Bezeugungen der Hoffnung auf dessen politische Bewegungen – von einem Ort aus gemacht werden, an dem man glaubt, dass solche Dinge nicht passieren. „Wie schön, dass sie dort gegen ihre Despoten kämpfen. Aber da es hier keine gibt, ist die Mobilisierung unnötig und übertrieben“, scheinen sie zu sagen.

Der deutsche Solidaritätsaktivismus tappt manchmal in die gleiche Falle. Ein Akademiker erzählte mir von einem Deutschen, der in der Türkei im Bereich der Menschenrechte arbeitete und sagte: „Der ‚eigentliche‘ politische Kampf findet doch hier statt.“ Das heißt, nicht in Europa. Und in Deutschland gibt es wohl nichts, wofür es sich zu mobilisieren lohnt?

Francis Fukuyamas These, dass der Fall der Berliner Mauer die westliche liberale Demokratie universalisiert habe und damit das „Ende der Geschichte“ bedeute, mag naiv sein, doch sie spiegelt eine reale Überzeugung wider: Deutschland wird implizit als „Ort der finalen Ankunft“ gesehen, an dem „es nichts mehr zu tun gibt“. Es ist also für jemanden, der glaubt, dass Demonstrationen in Lateinamerika notwendig sind, trotzdem nicht legitim, hierzulande welche zu organisieren. Mit anderen Worten: Ja, es ist hier zwar möglich, aber es gibt vermeintlich keinen Grund für diese Demonstrationen. Und wenn doch, dann sollen diese nicht stören. Was letztlich erlaubt ist, ist eine entschärfte Konfrontation der Standpunkte – eine „Kulturreise“. Die Probleme sind hier bereits gelöst, es fehlen nur noch Anpassungen. Und so ermöglicht es der Blick nach außen am Ende, zu ignorieren, was vor einem liegt. Eine Universitätsfakultät zu besetzen ist in Argentinien oder Ägypten völlig akzeptabel und sogar bewundernswert: Dort gibt es echte Probleme. In Deutschland ist es Vandalismus: Soll doch die Polizei kommen und ihnen die Köpfe einschlagen. Die Diktaturen in Lateinamerika waren autoritäre und despotische Regime, die die Opposition zensierten und verfolgten. Die Institutionen in Europa sind seriös. So etwas würde niemals passieren. Ich meine, dafür gibt es doch keinen Präzedenzfall, oder?


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