Mexiko | Nummer 486 - Dezember 2014

Ayotzinapa schmerzt

Das gewaltsame Verschwinden von 43 Studenten im Bundesstaat Guerrero bleibt unaufgeklärt

Nach den landesweiten Protesten aufgrund des Massakers von Iguala sieht sich die mexikanische Regierung zur Schadensbegrenzung veranlasst. Mexikanische Organisationen zweifeln an der Ernsthaftigkeit der mexikanischen Regierungsbemühungen. Die Bedrohung und Einschüchterung von politischen Aktivist_innen durch bewaffnete Gruppen in Guerrero geht derweil weiter.

Philipp Gerber

„Die Regierung sagt zuerst, dass sie in den Massengräbern sind, dann, dass sie zerstückelt wurden, und jetzt, dass sie zu nicht identifizierbarer Asche verbrannt wurden. Sie haben unsere Söhne schon oft getötet und sie werden sie wieder töten.” So kommentierten die Eltern der gewaltsam verschwundenen 43 Studenten die vorherige Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft. Die Angehörigen hatten sich in der pädagogischen Hochschule „Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos“ von Ayotzinapa versammelt, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu geben. Es sind genau fünf Wochen nach den Ereignissen in Iguala vergangen, bei denen 6 Personen getötet wurden und 43 gewaltsam verschwunden sind.
Stunden zuvor hatte Staatsanwalt Murillo Karam in Mexiko-Stadt die neuen Indizien im Fall der Presse vorgestellt, mit Fotografien des rekonstruierten Tatorts und Aussagen von drei geständigen Tätern. Demnach hatten Polizisten von Iguala am 26. September eine unbestimmte Anzahl von jungen Menschen verschleppt und bei der Müllhalde des Nachbarbezirks Cocula der lokalen Mafiagruppe Guerreros Unidos übergeben. Die noch lebenden Personen wurden dort getötet und alle Körper mit großem Aufwand auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Karam betonte, dies seien nur Indizien für einen Massenmord, der wissenschaftliche Beweis, dass die Studenten getötet würden, fehle jedoch, da die in einem Fluss gefundenen Reste so stark verbrannt seien, dass eine Identifizierung der DNA-Spuren schwer möglich sei. Mit Hilfe der auf solche Verfahren spezialisierten Medizinischen Universität in Innsbruck solle dies versucht werden, Resultate würden frühestens in drei Monaten erwartet, so Karam.
Kurz vor Karams Pressekonferenz setzte die Staatsanwaltschaft die Angehörigen über die Ermittlungen in Kenntnis. Diese versuchten, ihn von der Veröffentlichung der Indizien abzuhalten: Da keine stichhaltigen Beweise vorliegen, müsse sich die Suche auf das unversehrte Auffinden ihrer Kinder konzentrieren. Felipe de la Cruz, Lehrer aus Acapulco und Vater von einem der Verschwundenen, verurteilt den Bericht des Staatsanwalts: „Dies ist eine Form, uns Angehörige weiter auf brutale Weise zu foltern. Wir sagen ihm, dass wir diese Erklärungen auf keinen Fall akzeptieren, denn er selber gab zu, dass er keine Gewissheit habe”.
Die Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten sind seit fünf Wochen einem Wechselbad von Hoffnung, Verzweiflung und Erschöpfung ausgesetzt. Sie kritisieren zudem Präsident Enrique Peña Nieto scharf. Dieser traf sich erst am 29. Oktober, über einen Monat nach der Horrornacht von Iguala, mit Angehörigen und Überlebenden. Eine Übereinkunft mit 10 Punkten sollte die als mangelhaft kritisierte Arbeit der Bundesregierung im Fall korrigieren, der Präsident unterzeichnete sie nach anfänglichem Zögern. Zehn Tage später sehen die Angehörigen keinen einzigen Punkt dieses Abkommens als erfüllt. So versprach die Regierung sowohl gegenüber den Angehörigen wie auch in Washington, dass sie eine technische Unterstützung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Falle zulassen werde. Doch neuerdings schiebt sie juristische Argumente vor, um eine solche internationale Zusammenarbeit zu verhindern.
Die Familienangehörigen sind mit ihrer Kritik am zuständigen Staatsanwalt Karam nicht alleine. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International betont, Karam habe vergessen zu erwähnen, dass der Staat Komplize dieser Verbrechen sei. Mexikanische Organisationen kritisieren, dass auf der Pressekonferenz zwar viele gruselige Details der Tat präsentiert wurden, man aber wenig über die politischen Hintergründe erfuhr. „Dieser Bericht hat den politischen Zweck, die Unzufriedenheit im Land zu reduzieren. Und die Versuche, die tiefergreifenden Ursachen der Tragödie vom 26. und 27. September sichtbar zu machen, sollen unterbunden werden”, erklärt Vidulfo Rosales, Anwalt des Menschenrechtszentrums Tlachinollan.
Doch die Komplizenschaft des Staates steht für viele in Mexiko außer Frage. Die Proteste auf den Straßen des Landes haben nach dem Auftritt von Karam an Heftigkeit zugenommen. Meist verlaufen sie friedlich, in einer Atmosphäre zwischen Trauer und Überdrüssigkeit. Einige Proteste, insbesondere in Guerrero und Mexiko-Stadt, sind militanter, so brannten in Guerreros Hauptstadt Chilpancingo mehrmals Regierungsgebäude.
Insbesondere in Guerrero ist die Lage angespannt. Der von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) gestellte Gouverneur Angel Aguirre Rivero musste seinen Rücktritt einreichen. Der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca Velázquez (ebenfalls PRD), ist sogar geflohen, wurde aber nach vier Wochen von der Polizei gefasst. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis, allerdings aufgrund eines Haftbefehls wegen der Morde an drei Aktivisten im Jahr 2013 (siehe LN 485).
Diese Straflosigkeit in Guerrero ermöglichte erst das Massaker vom September. Abarcas Ehefrau, María de los Ángeles Pineda Villa, steht unter „arraigo“, einer verlängerten Untersuchungshaft, wurde aber noch keines Delikts angeklagt. Die Brüder der Bürgermeistergattin führen die „Guerreros Unidos“ an, einem Ableger des sogenannten Beltran-Leyva-Kartells, das seit Jahren die Behörden der Region schmiert. Spätestens seit 2008 ist dies durch die Recherchen des Journalist José Reveles öffentlich bekannt.
Während sich die Regierung Peña Nieto in Schadensbegrenzung versucht und baldmöglichst einen Schlussstrich ziehen will, fordern Gesellschaft und oppositionelle Parlamentarier_innen weitergehende Untersuchungen.
Die für den Fall Iguala zuständige parlamentarische Untersuchungskommission hielt fest, dass es sich im Fall der 43 um „gewaltsames Verschwindenlassen” handelt, also um ein Verbrechen gegen die Menschheit. Die Vertreter_innen der Regierungspartei in der Kommission stimmten gegen diese Formulierung, konnten sich aber nicht durchsetzen. Der Abgeordnete Ricardo Mejía Berdeja, Vizekoordinator der Partei Movimiento Ciudadano, informierte die Presse darüber, dass sich die Untersuchungskommission vor allem „mit der Untätigkeit des 27. Bataillons” beschäftigen will. Die Rolle des in Iguala stationierten Militärs zur Tatzeit ist ungeklärt. Die Version der Behörden lautet, dass die in Aufklärung und Undercover-Aktionen spezialisierten Einheiten in der Stadt von nichts gewusst hätten und von der lokalen Regierung betrogen worden zu sein.
Augenzeugen berichten dagegen von einer Militärsperre außerhalb Igualas in den Stunden der Polizeiaktion. Überlebenden Studenten sagten aus, sie seien von Soldaten angehalten und fotografiert worden. Die Soldaten hätten sie daran gehindert, Telefongespräche zu führen und den Verletzten Hilfe verweigert. Der Student Omar García beschrieb es in den Medien so: „Die Armee kam nach wenigen Minuten, die Soldaten nahmen uns die Handys weg und sagten: ‘Ihr wolltet euch mit Männern anlegen? Na dann haltet jetzt die Luft an, ihr habt die Konfrontation gesucht.’ Wir baten die Soldaten, unseren compañero Édgar Andrés Vargas, der einen Schuss ins Gesicht erlitten hatte, zu helfen, aber sie sagten, dass wir das Maul halten sollen und haben keine Ambulanz angerufen”. Der Schwerverletzte kam mit zwei Stunden Verspätung in ärztliche Behandlung. Den Ärzten zufolge war Édgar Andrés Vargas wegen der Blutungen kurz davor, zu ersticken. Nur ein Luftröhrenschnitt rettete ihm das Leben.
In Guerrero wird derzeit das politische Klima mit jedem Tag gefährlicher. Die Verhaftungen angeblicher Mafiamitglieder, die Besetzung von Regierungssitzen in 27 Bezirken, darunter Acapulco und Chilpancingo, sowie die täglichen Demonstrationen beherrschen die Medien. Zugleich ist festzuhalten, dass die bestehenden Machtstrukturen von Politik und Mafia in Guerrero in keiner Weise erschüttert sind. Wie weit diese gehen, zeigten die Ereignisse im Dezember 2011 als bundesstaatliche und föderale Polizeieinheiten eine Demonstration von Student_innen beschossen (Siehe LN 485), wobei zwei Studenten starben. Zum Einsatz kamen unter anderem G-36-Gewehren aus deutscher Produktion.
Einige Schützen, die verdächtigt wurden, die tödlichen Schüsse abgegeben zu haben, kamen in Untersuchungshaft. Noch aus dem Gefängnis bedrohten sie über ihre Mafiaverbindungen den Anwalt Vidulfo Rosales mit dem Tod. Dieser musste darauf mehrere Monate ins Exil. Der damalige Gouverneur Aguirre meinte in einer Sitzung, an der Menschenrechtsorganisationen teilnahmen, dass er nun einmal „unter uns” Klartext rede: Zwei konkurrierenden Mafiagruppen stritten sich um die Vormachtstellung innerhalb des Polizeiapparates, was der tatsächliche Auslöser der Gewalt in der Region sei. Die Prozesse gegen die „Polizisten” verliefen im Sand, einer der Kommandanten der Aktion wurde inzwischen befördert. Diese Straflosigkeit der Verbrechen ist der Hauptgrund für das Massaker. Auf die Frage der US-Presse, warum die Polizisten die Studenten erschießen, antwortet der Analyst Luis Hernández Navarro lapidar: “Weil sie es können”. Die Polizisten seien überzeugt, dass sie für ihre Taten nicht zu Rechenschaft gezogen würden.
Der ehemalige Rektor der Universität Guerreros, Rogelio Ortega Martínez, hat als neuer Gouverneur von Guerrero auf der ganzen Linie einen Fehlstart hingelegt. Politisch links, aber gleichzeitig Busenfreund seines Vorgängers Aguirre, ist seine Ernennung als Interimsgouverneur bis zu den Wahlen im nächsten Jahr nicht nur bei den Angehörigen auf Ablehnung gestoßen. Angesichts der anhaltenden Proteste – am 8. November brannten Lieferwagen vor dem Regierungsgebäude in Chilpancingo – forderte der Gouverneur die Lehrergewerkschaft Ceteg und das Menschenrechtszentrum Tlachinollan dazu auf, sich ultimativ von diesen Protesten zu distanzieren. Sollten sie das nicht tun, so der Gouverneur, seien sie für die Gewalt auf den Demonstrationen verantwortlich. Auf diese Weise kriminalisiert er die Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen.
In der Hochschule in Ayotzinapa und in den 16 weiteren Landlehrer-Ausbildungsstätten im Land herrscht unterdessen weiter Ausnahmezustand. An eine Wiederaufnahme des Unterrichts ist nicht zu denken. Zahlreiche Vertreter_innen von sozialen Bewegungen koordinieren sich mit den Studierenden, gründen die „Populäre Versammlung Mexikos” und künden an, dass die Protestbewegung erst am Anfang stehe. Aber auch gegen sie nehmen die Drohungen zu. So überfielen am 5. November zwei Bewaffnete einen Studenten von Ayotzinapa in der nahegelegenen Stadt Tixtla. „Hört auf mit eurem Protest, oder es ist euer verficktes Ende“, drohten die Männer, legten ihm einen Pistolenlauf an die Schläfe und schlugen ihn ins Gesicht. Die Kriminalisierung der Proteste in Mexiko ist weiterhin an der Tagesordnung.

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