Kultur | Nummer 238 - April 1994

Aztekischer Touri-Nepp in Berlin

Aztekischer Touri-Nepp in Berlin

Jetzt muß mensch nicht mehr nach Mexiko fahren, um die “schönen Wilden” mit Federkopfschmuck und Leopardenkostümen tanzen zu sehen – jetzt kom­men sie schon zu uns. Xokonoschtletl, der Sprecher der Atzteken, und seine Tanzgruppe “Tloke Nauake,” bestehend aus mehreren Männern, Frauen und einem Kind, ga­ben Berlin die Ehre ihrer Präsenz. Und das gleich zweimal: Mitte Februar und Anfang März. Schauplatz des Spektakels, das den Menschen die Geschichte, die Philosophie, die Heilkunst, den traditionellen Tanz und die Musik der Atzteken näherbringen sollte, war das Audimax der Humboldt-Uni­versität.

Susan Drews

Schon der Eintritt schreckte ab: Zehn Mark, und das sogar für Kinder, von Er­mäßigungen für StudentInnen, Er­werbslose, RentnerInnen ganz zu schwei­gen. Nun gut, dachte ich mir, jetzt bin ich schon mal hier, jetzt will ich ihn auch sehen, den Sprecher der Azteken. Am Eingang Souvenir- und Bücherstände, wo mensch echte Federn, Federkronen, Azte­kenschmuck und natürlich Bücher Xokonoschtletls kaufen konnte. Die Preise waren ge­pfeffert, dünne Taschenbücher gab es nicht unter dreißig Mark.
Unterschriften für die Kopilliketzalli
Eine letzte Hürde war noch zu neh­men. Dabei handelte es sich um zwei Unter­schriftenlisten. Eine Unterschriften­sammlung war für eine Petition an das österreichische Parla­ment gedacht, die die Rückgabe der Federkrone “Kopilli-ketzalli” des letzten Aztekenkönigs Mote-kuhzoma Yokoyotzins (Montezuma) er­möglichen soll. Die Krone wurde nach der Ermordung des Königs von den Spaniern geraubt und Karl dem Ersten in Wien geschenkt. Die “säuerliche und feurige Kaktusfeige” (Xokonotschtletl) hat nun von seinem Volk den Auftrag erhalten, die Krone aus dem Wiener Völkerkunde­museum zurück nach Mexiko zu bringen. Um seine Forde­rung vor das österrei­chische Parlament bringen zu können, benötigt er 200.000 Unterschriften. 130.000 hat er schon. Die zweite Liste war eine Art Beschwerdeliste. Bei seinem letzten Besuch in Wien hat Xoko­noschtletl wohl etwas Ärger mit der Polizei bekommen und saß ungerecht­fertigterweise einige Tage im Gefängnis.
Mehr Zeit, Liebe und Harmonie
Na gut, ich also rein, hatte dann erst mal Zeit; das merkwürdige Publikum zu be­trachten. So gar nicht uniadäquat, lauter ältere Menschen und “Ottilie-Normal-BürgerInnen”. Mit einer Stunde Verspä­tung erscheint er end­lich. Die Zeitungen, die im Vorfeld über ihn berichteten, haben nicht gelogen. Er sieht wirklich aus wie Winnetou aus den Karl-May-Filmen. Er spricht sehr gut Deutsch und hat mal eben für seine Mission schnell mehrere Spra­chen gelernt. So spricht er neben Deutsch auch noch Französich und Portugiesisch. Und Spanisch spricht er ja so­wieso oder Nahuatl oder gar beides? Dann fängt er an zu erzählen. Er spricht frei, und das macht er wirklich gut. Ihm fehlt oft das richtige Wort an der richtigen Stelle, aber gerade das macht seine Botschaft besonders prä­gnant- und ist wahr­schein­lich auch beabsichtigt. So entschuldigt er seine Ver­spätung mit den Problemen “am Rand von einem Land in ein anderes”. Ja, und dann erzählt er und erzählt er, und es ist so schön, daß einigen Omis schon die Tränen in den Augen hän­gen, und einige Opis aus dem zustim­menden Kopfnicken gar nicht mehr herauskommen. Wir sind doch alle Brüder und Schwestern, und zwischen Mann und Frau gibt es keinen Unter­schied, und wir sollten uns doch alle lie­ben und respektieren und in Har­monie zu­sammenleben und mehr Zeit füreinander haben und sowieso mehr Zeit haben und die Natur ach­ten und ….
Aztekischer Tanz auf der Bühne
Das ist seine Botschaft. Als Erholung nach so vielen schönen Worten tritt nach etwa einer dreiviertel Stunde die Tanz­gruppe “Tloke Nauake” auf. Xoko­no­schtletl erklärt vorher die Be­deutung des Tanzes für die Azteken. Tanz ist die Bewegung der Klapper­schlange, und sie ist das Symbol für Weisheit. Tan­zen bedeutet, sich bei der Sonne zu be­danken. Laut Xokonoschtletl tanzen die Azteken manchmal vier Tage ohne zu es­sen und ohne sich auszuruhen. Ein Anlaß für so­lche Marathontänze sei zum Beispiel eine Son­nenfinsternis. Da haben die Azte­ken aber Glück, daß es die nicht so oft gibt.
Penecillin aus Tortillas
Nach der Tanzeinlage, die im holzgetä­felten Auditorium der Universität mit dem Hintergrundflair einer ganz normalen Schul­tafel, merkwürdig wirkt, geht der Vortrag weiter. Die “säuerliche und feu­rige Kaktusfeige” klärt uns noch darüber auf, daß es bei den Azteken keine Men­schenopfer gegeben habe. Das seien näm­lich höchst komplizierte chirurgi­sche Ope­rationen gewesen, die die Azte­ken aus­führten. Komisch, auch am Herzen haben die damals schon ope­riert? Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eindeutige azteki­sche Bild­schriften, wo ein Herz in der Hand gehalten wird. Na gut, vielleicht irre ich mich ja. Als Beweis führt er an, daß sein Volk ja schließlich auch schon vor 3000 Jahren das Penicillin gekannt habe. Es wurde aus den Pilzen der Maisfla­den gewonnen. Penicillin aus Tor­tillas?! Warum machen sie das heute nicht mehr, schießt mir als Frage durch den Kopf. Auch war sein Volk friedfertig und lebte im Einklang mit den anderen am, im und um den See herum. Dazu malt er uns an die Schultafel ein Bild der Stadt Tenoch­titlan und klärt uns darüber auf, wieviel mal größer und bombasti­scher die Stadt im Vergleich zu euro­päischen Städten der damaligen Zeit war. Die Spanier waren platt vor Stau­nen. 50 Millionen Menschen zähle sein Volk heute noch, und 5 Millio­nen sprechen Nahuatl. Da purzelt nun lang­sam alles bunt durcheinander. Wahr­scheinlich meint er 50 Millionen Indí­genas und nicht Azteken. Ich werde immer saurer – fast wie eine Kaktusfeige.
Die Kaktusfeige ein Winnetou?
Als er den Vortrag beendet, will ich mich mit meinen Fragen auf ihn stür­zen. Doch ältere Herr- und Frauschaften haben ihn schon in Beschlag genommen. “Meine Frau schreibt auch, aber mehr Liebesro­mane, würden sie für uns diese Bücher sig­nieren” – und ein Stapel Bücher wandert in seine Hände, und er signiert und signiert. Das ist einfach zu viel für mich. In Chiapas verändern die Indígenas das politische Selbstver­ständnis Mexikos und vielleicht ganz Lateinamerikas, und der Sprecher der Azteken gibt nur Allgemein­plätze von sich. Ich bin den ganzen Abend noch wütend. Da hat mir Pierre Brice im Fernsehen besser gefallen – der war wenigstens kein echter Indianer. Aber echte, die sich benehmen wie Winne­tou, die ertrage ich nicht in der Reali­tät, die sind mir einfach zuviel.


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